Die große Job-Lüge Wie Trump und Co. weiterhin die Wähler täuschen

Donald Trump, Theresa May und manch deutscher Wahlkämpfer versprechen dem „hart arbeitenden“ Mittelschichtsbürger die Rückkehr traditioneller Arbeiterjobs. Dafür müsste nur endlich wieder daheim produziert werden. Das Problem ist nur: Diese Arbeitsplätze gibt es nicht mehr. Auf den Spuren einer großen Täuschung.

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Erst Kollege, dann Konkurrent: Roboter und Mensch Quelle: Scott R. Galvin für WirtschaftsWoche

Wenn Marty Linn den Ort besucht, den es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte, überkommt ihn eine tiefe innere Zufriedenheit. Linn, 59 Jahre alt, ein stämmiger, kompakter Mann mit schwarzen Stoppelhaaren und einem grauen Bart, schwingt sich auf ein dreireihiges Golfcart, seine Sicherheitsweste weht im Fahrtwind, während er durch die Hallen des General-Motors-Werkes in Orion im US-Bundesstaat Michigan braust. „Unser Ziel ist es, die Autos dort zu bauen, wo sie verkauft werden“, ruft Linn. Und so geht es mitten durch die Montagestraße, vorbei an der Lackiererei, schließlich hält er vor dem „body shop“, wo die frisch gepressten Blechteile zu einem Fahrzeugskelett verschweißt werden. Hier will Linn die Zukunft zeigen.

Menschen assistieren Maschinen

Die Zukunft ist ein stiller Ort. Keine Arbeiter wuseln herum, niemand unterhält sich, kann sich unterhalten, weil nur ein einzelner Mann zwischen den Maschinen steht. Stattdessen zischt es ab und an, wenn der Robo-Arm heransaust, mit seinen Saugnäpfen einen neuen Fahrzeug-Unterboden anhebt, den ihm der Mitarbeiter mit Ohrstöpseln vorher stumm zurechtgelegt hat. Die Maschine schwingt das Blechteil hinüber aufs Band, wo von oben unablässig Fahrzeugaufbauten vorbeischweben. Noch in der Bewegung beginnt ein anderer Arm die Schweißnaht. Das Ganze dauert nur einige Minuten, dann schwebt die nun komplette Karosserie davon. Die Maschine hat gearbeitet. Der Mensch hat assistiert. So läuft das hier überall.

Marty-Linn Quelle: Logan Zillmer für WirtschaftsWoche

Dabei verbreitet sich in diesen Wochen eine Erzählung in den Gesellschaften Nordamerikas und Westeuropas. Eine Erzählung, die ein gewisser Donald Trump so lange und immer lauter wiederholte, bis sie irgendwann nicht mehr zu überhören war und auch von anderen, weniger umstrittenen Welterklärern übernommen wurde: Es ist die Erzählung von der Rückkehr des Arbeiters in den westlichen Industriestaaten.

Die Mär von der idealen Wirtschaftspolitik

Zusammengefasst geht sie so: Als sich die Industrienationen in den Neunzigerjahren entschlossen, mit aller Welt schranken- und grenzenlosen Handel zu treiben, da bezahlten sie diesen Entschluss mit dem klassischen Job des Fabrikarbeiters, von dem sie jahrzehntelang gut gelebt hatten. Millionen dieser Jobs wanderten in sogenannte Niedriglohnländer ab, nach Osteuropa und Ostasien. Von dort wiederum schickte man – gewissermaßen als Dankeschön – die billig produzierten Produkte in den Westen zurück und setzte dort damit weitere Arbeitsplätze unter Druck. So entstand eine ganze Menge Verlierer. Um sie wieder zu Gewinnern zu machen, müsse man nun einfach die richtigen Politiker wählen, den Handel beenden, und schon kämen die Arbeitsplätze heim aus Übersee.

Wie viele Deutsche Trumps Vorschläge auch bei uns gerne verwirklicht sähen

„Bring back Jobs“, brüllt US-Präsident Donald Trump bei nahezu jedem öffentlichen Auftritt. „Raus aus der EU“, meint auch Großbritanniens Premierministerin Theresa May und frohlockte soeben beim Unterzeichnen des Brexit-Antrags, ihr Land betrete ein neues Zeitalter des Nationalismus, dessen Gewinner die Industriearbeiter sein würden. „Nicht links und rechts“ sei die Frage der Stunde, schimpft Frankreichs Marine Le Pen, sondern die Entscheidung, was man dieser Tage sein wolle: „Patriot oder Globalisierungsbefürworter.“

Und auch in Deutschland predigt SPD-Neu-Ikone Martin Schulz den möglichen Wiederaufstieg des „hart arbeitenden“ Zeitgenossen, wenn die Politik sich nur ausreichend um ihn und seine Arbeitsplätze kümmere. Perplex, vielleicht auch überrascht ziehen die Industriechefs öffentlichkeitswirksam mit. BMW-Direktor Harald Krüger war bei seinem Besuch im Weißen Haus fast devot darum bemüht, die über 9000 Arbeitsplätze anzusprechen, die sein Konzern im US-Werk Spartanburg geschaffen habe – und versprach Milliardeninvestitionen. Schaeffler-Chef Klaus Rosenfeld verwies auf den Standort in South Carolina, den seine Firma seit 1969 habe – da habe man noch viel vor. Und Siemens’ CEO Joe Kaeser schmeichelte Trump: „Thank you for what you are doing.“

Die Produktion kommt - die Jobs nicht

Der Klimaanlagenbauer Carrier, Opfer einer der ersten öffentlichen Attacken Trumps, revidierte kurz nach dessen Wahl seine Entscheidung, 1100 Arbeitsplätze aus Indianapolis nach Mexiko zu verlagern. GM versprach gleich mehrere Tausend neue Arbeitsplätze, GE-Direktor Jeffrey Immelt säuselte, er werde nicht nur Jobs schaffen, sondern „Trump in jeglicher nur möglichen Weise unterstützen“. Und Ford verkündete vergangene Woche stolz, 1,2 Milliarden Dollar in die Modernisierung seiner Werke in den USA zu investieren – was der Präsident genugtuend mit „car companies coming back to the U.S.“ betwitterte. Dass der Autobauer mit seinem Investment gerade einmal 130 neue Arbeitsplätze schafft, ging dabei natürlich unter.

Die Achtzigerjahre kommen nicht mehr zurück

Dabei ist genau das der Punkt, an der die Erzählung ihren entscheidenden Fehler offenlegt: Die Beschwörung der Rückkehr des klassischen Industriearbeiters aus der weißen Mittelschicht westlicher Gesellschaften mag in den Zeitgeist passen, um die aufgebrachten westlichen Staaten zu beruhigen. Das Problem ist nur: Sie ist in einem zentralen Punkt falsch. Und das dürfte für viele Wähler, die auf ein Rückfahrticket in die Achtzigerjahre spekulieren, noch eine böse Überraschung geben.

Denn die Geschichte des GM-Werkes in Orion geht noch weiter – mit einem „Aber“, ausgesprochen von eben jenem Manager, der predigt, man müsse die Autos dort bauen, wo man sie verkaufe. „Aber“, sagt also nun Marty Linn in Orion, „am Ende muss dieses Werk Geld verdienen.“ Der Mann ist seit 32 Jahren bei GM, nennt sich „Manager Advanced Automation“ – und ist zuständig für alles, was der Effizienzsteigerung dient.

Sein Job ist es, Ausschau zu halten nach den neuesten Technologien, klügsten Maschinen – kurz: den besten Möglichkeiten, Industriearbeit in den USA ohne Industriearbeiter aus den USA zu bewerkstelligen.

Jobs-im-Industriesektor

Als GM in der Krise 2009 von der US-Regierung gerettet werden musste, war das auch das Aus für das 1983 gegründete Werk in Orion. Mehrere Tausend Mitarbeiter bangten um ihren Job, die Produktion der Kleinwagen wurde nach Mexiko verlagert, und die 400.000 Quadratmeter große Halle, 30 Meilen vor der Autostadt Detroit, wurde geschlossen. Zwei Jahre rottete der Koloss vor sich hin. Dann kam Linns große Stunde:

Der Konzern holte die Fertigung der Kleinwagen zurück, kassierte im Gegenzug Steuervergünstigungen, setzte niedrigere Löhne durch und den massiven Einsatz von Linns Methoden. Fast eine Milliarde Dollar hat GM seither in das Werk investiert und es so zu einer der effizientesten Fertigungsstraßen im Konzern gemacht. „Wir haben hier bewiesen, dass es möglich ist, Kleinwagen profitabel in den USA zu bauen“, sagt Linn. Was er nicht sagt: dass von diesen Profiten immer weniger Menschen leben können. So kam das Orion-Werk zu Beginn seiner Restrukturierung 2011 noch auf über 2000 Mitarbeiter. Inzwischen hat sich ihre Zahl fast halbiert, und nur 180 davon sind in Vollzeit angestellt. Dafür verrichten nun mehr als 1000 Roboter ihren Dienst: ohne Streiks, ohne Pausen, ohne Rückenschmerzen.

Innovationen statt Industrie

So kommt es, das Marty Linn und Donald Trump dasselbe Ziel teilen: Beide wollen die Industrie erhalten und zurückholen in die Heimat. Nur verfolgen sie dabei gegensätzliche Strategien. Während Trump den Menschen verspricht, die Welt wieder in die Ordnung der Achtzigerjahre zu bringen, arbeitet Linn mit der festen Überzeugung, dass Volkswirtschaften wie die der USA, Deutschlands oder Frankreichs nur überleben können, wenn sie ihre Industrie automatisieren und sich ganz aufs Konstruieren und Erfinden verlegen.

Dank Automatisierung, Vernetzung, 3-D-Druck, Robotern und nicht zuletzt den durch Fracking billigen Öl- und Gaspreisen stößt insbesondere die US-Industrie Rekordzahlen aus. Noch nie wurde so viel in den Vereinigten Staaten gefertigt wie heute. Immer mehr Unternehmen holen gar ihre Produktion aus dem Ausland zurück. In einer Studie der Citibank gaben 70 Prozent der Befragten an, dies für die kommenden Jahre zu erwarten. So werden im Vereinigten Königreich, wo die Industrialisierung einst mit dem Webstuhl begann, seit Jahrzehnten erstmals wieder ganze Kleidungslinien hergestellt. Das Bundeswirtschaftsministerium rechnet bis 2020 mit 153 Milliarden Euro volkswirtschaftlichem Wachstum durch Industrie 4.0. Und selbst bei Adidas ist man stolz auf die vor Kurzem eröffnete Turnschuhproduktion im fränkischen Ansbach – schien doch dieses Geschäft längst für immer nach Asien abgewandert. Die Jobs aber ziehen bei all dem nicht mit. Jedenfalls nicht im nennenswerten Umfang und schon gar nicht in Form offener Stellen für den klassischen Arbeiter. So hat Adidas für seine „Speedfactory“ gerade einmal 160 Arbeiter eingestellt.

Die Folgen des Robotik-Booms

In den USA ist die Produktion zwar auf Allzeithoch – die Zahl der Industriearbeiter aber war nur während der Rezession noch niedriger. Allein in der amerikanischen Öl- und Gasindustrie sind seit 2014 trotz Fracking-Boom bis zu 80.000 gut bezahlte Arbeitsplätze verloren gegangen – die Pumpen werden heute automatisch ferngesteuert.

Tatsächlich lohnt es sich für die Unternehmen, immer kleinere Arbeiten an Maschinen abzugeben. Schon heute gilt: Je routinierter die Tätigkeit, desto besser geeignet ist sie für einen Roboter. Sogenannte Co-Bots arbeiten mühelos direkt neben den Menschen, manche Modelle lassen sich gar anziehen wie ein Handschuh oder umschnallen wie ein Gürtel.

Roboter werden immer günstiger

Zudem sind ihre Preise in den letzten Jahren massiv gesunken. Die Zeitspanne, die ein Roboter braucht, um seine Kosten wieder reinzuspielen, liegt in China noch bei 1,7 Jahren. Im Hochlohnland Deutschland sind es oft nur noch sechs Monate. Um die 20 US-Dollar, so rechnet es die Citibank vor, koste der Einsatz eines Durchschnittsroboters pro Stunde – schon heute weniger als Löhne vieler Industriearbeiter. Und so geht die Internationale Vereinigung für Robotik folgerichtig von einem massiven Anstieg der Verkaufszahlen aus: 2019 sollen weltweit über 400.000 Stück an die Kunden gehen – jedes Jahr. Doppelt so viele wie heute.

Nun ist die Automobilindustrie schon seit Henry Fords Assembly Line eine Branche mit hohem Automatisierungsgrad. Neu aber ist, dass das, was in Orion passiert, in nahezu allen Branchen und in allen Technologieländern zu finden ist. Im Gange ist die nächste, wohl größte industrielle Revolution: Gesellschaftliche Stellung, gesellschaftliche Teilhabe, auch gesellschaftliche Absicherung in den Sozialkassen – all das ist bis heute abhängig von der Lohnarbeit. Roboter stellen eben sie infrage. In 30 von 50 US-Bundesstaaten ist Lkw-Fahrer heute der beliebteste Job. Was passiert mit ihnen, wenn bald der selbstfahrende Truck kommt?

Diese Jobs sind vom Aussterben bedroht
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Die Wahrheit ist: Gebraucht werden keine Arbeiter mehr, sondern Leute, die Daten analysieren könnten. Den Rest erledigt der Computer. Das Wort „blue collar worker“, sagt ein leitender Ingenieur bei Evonik am US-Standort Mobile, Alabama, habe er jedenfalls schon sehr lange nicht mehr gehört.

Viel Maschine, wenig Mensch

Ein heller Frühlingstag in Pittsburgh, Pennsylvania. Einige Meilen vor der Stadt hat GE seinen Ingenieuren einen Traum verwirklicht: das Zentrum für additive Technologie, die häufig unter 3-D-Druck firmiert. 12 000 Quadratmeter, 40 Millionen Dollar Investment, eröffnet im vergangenen April. Entstanden ist eine riesige Halle, in der der Industrieriese verschiedene Drucktechniken und Materialien erprobt, bevor sie konzernweit eingesetzt werden: Sand, Kunststoff, Metall – selbst aus Titan können sie hier drucken. GEs Zukunftsfabrik funktioniert mit Laser, Infrarot, elektrischer Ladung.

Mitten in diesem Nirgendwo aus geschmolzenem Plastik und gebündeltem Licht steht Jennifer Cipolla, eine handfeste Dame, die für GE schon in Europa war, dann einige Jahre im Öl- und Gasgeschäft. Nun leitet sie die Entwicklung des 3-D-Drucks. Kein einfacher Job, zumal in Pittsburgh: Industriestadt, Rostgürtel, Trump-Stammgebiet. Hier hören sie gerne von neuen Jobs. Nicht so gerne aber davon, dass bald keine Mechaniker mehr gebraucht werden. So hat Cipolla anfangs auch gefremdelt. Etwa mit dem Wunsch ihrer Kollegen, eine riesige US-Flagge, groß wie ein Vorgarten, an der Stirnseite der Halle aufzuhängen – zu patriotisch, zu viel Trump, irgendwie, findet sie.

Vernetzte Fabriken

Cipolla zeigt lieber Wandel. „Irgendwann wird 3-D-Druck die Massenproduktion ersetzen“, sagt sie. Schon heute funktioniere das in Kleinserie, etwa beim Tankstutzen für Flugzeuge. Früher habe ein Arbeiter diesen umständlich aus 20 Einzelteilen zusammensetzen müssen. Heute fertigten ihre Maschinen so ein Ding in drei Tagen – aus einem Stück: „Eines Tages werden ganze Motorblöcke aus dem Drucker kommen.“

Jennifer-Cipolla Quelle: Scott R. Galvin für WirtschaftsWoche

Eine gute Autostunde weiter nördlich sieht man dieser Vision mit Schrecken entgegen, auch wenn sie aus dem eigenen Haus kommt. In Grove City sind sie noch stolz auf ihre Handarbeit. 400 Mitarbeiter kümmern sich hier um die Wiederaufarbeitung der jährlich 1200 GE-Dieselmotoren für amerikanische Eisenbahnen. Früher wurde dazu einfach alle zehn Jahre der gesamte 16-Zylinder-Motorblock – 4400 PS und 17 Liter Hubraum – gewaschen und auseinandergenommen. Verschleißteile wurden großzügig ersetzt, dann wurde das Aggregat wieder auf die Schiene geschickt. Seit einiger Zeit aber nun ist Grove City „brilliant factory“ – und damit Prototyp für über 500 GE-Standorte weltweit. Seither verläuft ein blauer Kabelstrang durch die Hallen.

Die Leitungen befördern das, was heute im Konzern zählt: Daten. Alles in dieser Fabrik ist vernetzt; „advanced manufacturing“ nennen sie das bei GE.

Programmierer oder Hilfsarbeiter

Es ist eine Welt, in der Drehmomentschlüssel für die handtellergroßen Bolzen keine 40 Pfund mehr wiegen, sondern an Roboterarmen von der Decke hängen, einen Touchscreen haben, zwölf Schrauben auf einmal zum richtigen Druckpunkt bringen können. Eine Welt, in der der Arbeiter nur noch das Gaspedal drücken muss. Eine Welt auch, die zwar nie ganz ohne Fett, Schmiere und dreckige Kittel auskommen wird, die aber ihrem Ende entgegenproduziert. Schon in der nächsten Ausbaustufe sollen in Grove City Cipollas 3-D-Drucker eingesetzt werden. Bald schon könnten sich dann die Roboter ihre eigenen Ersatzteile herstellen oder verschlissene Achsen selbst wieder aufbauen.

Irgendwann braucht es den Menschen dann nur noch, um die Maschinen zu programmieren – oder für letzte Hilfsarbeiten. „Wir suchen heute nach höher gebildeten Mitarbeitern“, sagt Chefingenieur Bryce Poland. „Es genügt nicht mehr, technisch versiert zu sein. Man braucht IT-Kenntnisse, um die Motoren zu reparieren. Man muss coden können.“

Warum sollten wir Programmieren als Schulfach einführen?

75 Prozent der weltweit verkauften Roboter gehen heute in fünf Länder: China, Japan, Korea, Deutschland und die USA. Und dort verbreiten sie, was schon der Ökonom John Maynard Keynes beschrieben hat, als er von „technischer Arbeitslosigkeit“ sprach. Selbst im westlichen Industrieland, das wohl am besten durch den bisherigen Wandel gekommen ist – Deutschland –, sinkt die Zahl der in der Industrie beschäftigten Menschen seit Jahren kontinuierlich.

47 Prozent aller Arbeitsplätze in den USA, so haben es vor einiger Zeit die Oxford-Ökonomen Carl Frey und Michael Osborne errechnet, sind inzwischen potenziell automatisierbar. In Europa sieht es nicht viel besser aus. Betroffen sind nahezu alle Branchen, Männerberufe eher als typische Frauenjobs, Industriearbeitsplätze eher als spezialisiertes Handwerk. Vor allem aber trifft es erstmals nicht nur Niedriglöhner, sondern die Mittelschicht. Eben jene Klientel also, auf die Dörfer, Städte, ja ganze Länder ihr Geschäftsmodell ausgerichtet haben, weil sie konsumieren und Steuern zahlen. Was wäre Stuttgart ohne den Daimler? Erlangen ohne Siemensianer? Salzgitter ohne Stahl? Wie Bochum ohne Kohlekumpel – und das war eine Katastrophe.

"Trump will Jobs retten, in dem er den Handel einschränkt"

„Die ,blue collar jobs‘ kommen nie mehr zurück. Selbst wenn Trump die Industrie wieder ins Land holt und die hier Fabriken bauen, werden sie das mit Robotern und Automaten tun“, sagt Michael Hicks, Ökonomieprofessor an der Ball State University in Muncie, Indiana. Er hat noch vor der US-Wahl die Pläne des Präsidenten untersucht. Zwar habe Trump recht: An jedem Werktag gingen in den USA um die 10.000 Industriearbeitsplätze verloren, sagt Hicks, nur etwas über 9900 würden neu geschaffen – netto ein Verlust von fast zehn Millionen Produktionsjobs seit 1980. Die Schlussfolgerung daraus aber sei völlig falsch. „Der Präsident will die Jobs zurückholen, indem er den Handel einschränkt, Nafta und TPP abschafft und Zölle erhebt“, sagt Hicks. „Drei Viertel der Arbeitsplätze gehen aber durch Roboter, Automatisierung und effizientere Produktion verloren. Nur ein Viertel durch die Globalisierung.“

Wissenswertes zum internationalen Handel

Inzwischen kommen mehrere Studien zu ähnlichen Ergebnissen: Bei Hicks sind es sieben, bei der Welthandelsorganisation WTO acht, in manchen Studien gar neun von zehn Jobs, die durch technologischen Wandel in den Industriestaaten verschwunden sind. Gerade erst hat das EU-Parlament untersuchen lassen, welche Folgen der Einsatz von Robotern auf westliche Ökonomien hat. Das Ergebnis ist ernüchternd. Mady Delvaux, die zuständige Berichterstatterin, ist nach zwei Jahren Arbeit hin- und hergerissen. Es werde eine Menge Gewinner geben, sagt sie, klar: „Die große Frage ist nur: Was machen wir mit den vielen Verlierern?“

Personal als Mangelware

Fest steht, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Delvaux hat ihren Bericht vor ein paar Wochen an die EU-Kommission geschickt. Sie hofft auf eine Gesetzesinitiative noch in diesem Jahr. Ihren Vorschlag, Roboter künftig zu besteuern, um so die Sozialsysteme zu finanzieren, hat das EU-Parlament schon gestrichen – politisch zu heikel. Auch wenn zuletzt gar Bill Gates dafür votierte.

Indes: Es würde wohl auch den technologischen Wandel bremsen, am Ende womöglich gar einen Wettlauf auslösen nach unten – um die niedrigsten Robotersteuern weltweit. Wäre es da nicht besser, sich die Effizienzgewinne vorzunehmen, die den Firmen durch Automaten entstehen? Im Bundeswirtschaftsministerium jedenfalls hält man diesen Weg für vielversprechender. Das würde womöglich gar wirken wie ein Förderprogramm für den Mittelstand, wo an Automatisierung oft noch kaum zu denken ist, weil man schon heute zu wenig gut ausgebildetes Personal findet für die hoch komplexen Aufgaben.

Trump würde Scheugenpflug lieben

So kommt es, dass diese Geschichte einen Schlenker unternimmt nach Niederbayern, in den kleinen Ort Neustadt an der Donau. Hier residiert der Maschinenbauer Scheugenpflug, ein Familienunternehmen, das sich um Dosier- und Vergussanlagen kümmert. An einem nebelverhangenen Nachmittag tritt Johann Gerneth aus den mausgrauen Hallen vor Alpenkulisse. Begeistert erzählt er von der rasanten Entwicklung, die das Unternehmen in den letzten Jahren gemacht habe. Vor allem in den USA liefen die Verkäufe so gut, dass man nun das kleine Vertriebsbüro zu einer eigenen Produktion ausbauen wolle. 100 Leute will er in Georgia bald beschäftigen. Gerneths Problem ist nur: Seine Produktion erfolgt meist im Kundenauftrag. Das lässt sich nur schwer automatisieren. Wüsste Trump, wer Scheugenpflug ist – er würde die Firma lieben.

Dennoch hat Gerneth ein Problem: Er braucht dringend Facharbeiter – findet diese aber in den USA mangels dualen Ausbildungssystems kaum. „Uns bliebe nur, Ingenieure einzustellen. Aber das ist viel teurer“, sagt er. Bisher hat er deshalb die Expansion gescheut. In seiner Not startet er nun ein teures Experiment: Künftig sollen die Mechaniker in den USA angelernt werden und dann für zwei Monate zur Ausbildung nach Niederbayern kommen. Die Werkshalle hat der Chef schon mal dreisprachig beschildern lassen: Deutsch, Chinesisch und Englisch.

Auch US-Präsident Trump ahnt wohl mittlerweile, dass seine Gleichung „Rückkehr der Produktion = Rückkehr der Jobs“ womöglich etwas zu schlicht war. Als er sich neulich in Washington mit Kanzlerin Angela Merkel traf, schwärmte er jedenfalls ausführlich vom dualen Ausbildungssystem der Deutschen. Vorsorglich wird er seine Tochter Ivanka, die inzwischen offizielle Beraterin im Weißen Haus ist, Ende April im Vorfeld des G20-Gipfels in die Bundesrepublik schicken. Sie soll sich mit Merkel im „German Mittelstand“ umtun und das Berufsschulwesen kennenlernen.


Technisches Verständnis ist Mangelware

In Upstate New York, eineinhalb Autostunden von der Millionenmetropole entfernt, arbeitet man derweil an einer anderen Lösung. Dort läutet an der Newburgh Free Academy an einem Freitagmorgen im März zum ersten Mal in dieser Woche die Schulglocke. Ein Blizzard hatte in den vergangenen Tagen gewütet und das öffentliche Leben lahmgelegt. Jetzt aber kommen die über 4000 Schüler wieder zum Unterricht, verteilen sich auf Mathematik-, Englisch- und Biologiekurse. Für 150 von ihnen stehen andere Fächer auf dem Plan: analytisches Denken, Gruppenarbeit, Programmieren, auch höhere Mathematik. Sie sind Teil der „P-Tech-School“, eines Programms des Computerriesen IBM.

Der Konzern steht in der Pflicht. IBM-Chefin Ginni Rometty hatte Trump versprochen, in den kommenden Jahren 25.000 neue Jobs in Amerika zu schaffen. Nur: Auch ihr fehlen die richtigen Leute. Gerade bei jungen Menschen, die nicht studiert haben, hat IBM eine „skills crisis“ ausgemacht – also nicht vorhandene Fähigkeiten.

„Wir haben ein riesiges Problem, dass die jungen Leute nicht mehr fit sind für die Jobs des 21. Jahrhunderts“, sagt Stan Litow, IBM-Vizedirektor für gesellschaftliches Engagement. Er leitet das Schulprogramm. Vor allem mangele es den Jugendlichen an technischem Verständnis, selbstständigem Arbeiten, der Fähigkeit, komplexe Probleme zu analysieren – aber auch an Programmierkenntnissen und IT-Verständnis. „Jeder frühere ,blue collar job‘ wird irgendwann zum ,new collar job‘“, sagt Litow. „Wir brauchen solche Fähigkeiten bald in jeder Branche. Das ist ein globaler Wandel des Jobmarktes. Deshalb brauchen wir einen grundlegenden Wandel der Schule.“

Partnerschaften mit Grundschulen

Fünf Millionen Dollar hat IBM bislang in 60 Partnerschulen in ganz Amerika investiert. Der Konzern entwickelt die Lehrpläne mit, stellt den Jugendlichen Mentoren zur Seite und garantiert ihnen ein siebenwöchiges, bezahltes Praktikum. Wer sich gut anstellt, dem winkt danach ein Job. Einstiegsgehalt: über 50.000 US-Dollar. Für Litow keine Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern „ ein strategisches Investment in die Zukunft“.

Bei GM in Orion kooperiert man sogar schon mit der örtlichen Grundschule, um die Kinder für Mathematik, Technik und Wissenschaft zu begeistern. Irgendwer muss all die Roboter ja programmieren. Schließlich steht schon der nächste große Wandel an: Ab Herbst wollen sie in Orion nicht mehr nur Benziner und Elektroautos bauen, sondern auch selbstfahrende Wagen. In Serie. „Das ist viel komplizierter zu montieren: All die Kameras müssen eingesetzt, die Sensoren eingestellt werden. All diese kleinen Teile“, sagt GM-Chefautomatisierer Marty Linn. „Aber wir haben uns dafür einige neue Roboter gekauft. I like that.“

Klingt nicht so, als werde der Mann so bald wieder einen Blaumann anheuern.

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