




Der Chef kam um 16 Uhr ins Büro gestürmt und sagte: „Können Sie das vor Feierabend noch schnell erledigen?“ Die Betriebswirtin Sophie K. (42) hörte sich „Ja“ sagen – und schon regnete ein Aktenstapel auf ihren Schreibtisch. Erst um 19.30 Uhr war sie damit fertig. Eine Verabredung mit Freunden hatte sie absagen müssen. Ihr eigenes Verhalten grämte sie: Warum hatten sie „Ja“ zu den Überstunden gesagt, obwohl sie „Nein“ meinte
Zur Person
Martin Wehrle ist Karriereberater, Gehaltscoach und Buchautor. Sein neuestes Buch „Sei einzig, nicht artig – So sagen Sie nie mehr Ja, wenn Sie Nein sagen wollen“ ist im Mosaik-Verlag erschienen.
Der Hang zum Ja-Sagen stammt aus der Kindheit. Laut einer britischen Studie hört ein Kind am Tag 449 Bemerkungen, davon nur 37 positive. Gerügt wird ein Kind, wenn es seinen eigenen Bedürfnissen folgt: wenn es weint, vor Wut strampelt oder trotzig ist. Dagegen wird es belohnt, wenn es Ja zu Anforderungen von außen und Nein zu eigenen Bedürfnissen sagt: Es hat keinen Hunger, aber isst den Teller leer. Dafür wird es angelächelt, gelobt und geliebt.
Warum wir Angst vorm Nein sagen haben
Die Gründe, warum sich viele Menschen nicht trauen, auch einmal Nein zu sagen, sind vielfältig. Einer davon ist die Angst vor Ablehnung. "Wenn ich jetzt ablehne, verliere ich Sympathien."
Wir fürchten, den anderen zu enttäuschen oder hängen zu lassen.
Wenn wir jemandem einen Wunsch abschlagen, sind wir herzlos oder egoistisch. Und das wollen wir nicht sein.
Viele haben außerdem Sorge, durch ein "Nein" eine Freundschaft, die fällige Gehaltserhöhung oder die Karriere aufs Spiel zu setzen.
Diese Lektion wirkt ein Leben lang nach: Viele Berufstätige sagen reflexhaft „Ja“, versprechen sich davon Erfolg und Anerkennung. Aber stimmt das? Nein, erfolgreich sind nicht Kopfnicker, sondern gut Abgegrenzte. Kein Chef der Welt kann es sich erlauben, zu allen Gehaltsforderungen, Urlaubswünschen und Rabattforderungen Ja zu sagen. „Nein“ ist die Vokabel der Mächtigen, der Erfolgreichen, der Zielbewussten.

Ein Nein an der richtigen Stelle verschafft Respekt und Ansehen – und es verhindert, dass ein Individuum abrutscht in ein fremdbestimmtes Leben, in Frust, Burnout und Depression. Aber wie hätte Sophie K. reagieren müssen, um nicht in die Ja-Falle zu tappen? Erstens hätte sie nicht spontan antworten, sondern sich Zeit nehmen sollen: „Einen Augenblick bitte. Ich komme gleich in Ihr Büro rüber“. Damit hätte sie sich innerlich sammeln können.
Zweitens hätte sie in sich horchen müssen: Will ich diese Arbeit noch für heute annehmen? Ein Nein wäre ihr leicht gefallen, wenn sie Ja zu etwas Größerem gesagt hätte, so zu ihrem Treffen mit den Freunden, zu ihrer eigenen Erholung. Dabei hätte sie gegenüber ihrem Chef den Vorteil der Firma hervorheben können: „Es ist mir wichtig, dass ich morgen wieder frisch und ausgeruht zur Arbeit komme. Nur dann kann ich meinen Job optimal machen.“