Größer könnte der Kontrast kaum sein. Draußen blickt man auf einen geteerten Hof, hohe Backsteinmauern und Stacheldrahtrollen. Drinnen sitzt man in Ledersesseln an Glastischen und lauscht leiser Jazzmusik.
Von innen betrachtet, wirkt The Clink – auf Deutsch „Der Knast“ – wie ein ganz normales Edelrestaurant. Kellner in schwarz-weiß karierten Westen kümmern sich diskret um die Gäste, das Drei-Gänge-Menü bietet Haute Cuisine, darunter Forellen-Carpaccio, Lamm Wellington und Pannacotta an Holunderblüten. Der Raum ist erfüllt von Lachen und Gemurmel, Gläser klirren, es duftet nach frisch geröstetem Kaffee. So weit, so normal.
Einen ersten Hinweis auf die besondere Lokalität geben die schwarzen Schieferwände mit Porträts von Malcolm X und Nelson Mandela. Früherer Aktivist der eine, ehemaliger südafrikanischer Präsident der andere, beide saßen jahrelang im Gefängnis. Dann fällt der Blick auf das schwarze Besteck – es ist nicht aus Silber, sondern aus Plastik. Und auf der Getränkekarte fehlen Aperitifs, Wein und Bier. Stattdessen gibt es Mocktails, Mixgetränke aus frischen Früchten. „Alkohol ist hier nicht erlaubt“, sagt Chris Moore. Chef der Clink-Charity.
Die Wohltätigkeitsorganisation betreibt seit dem Jahr 2010 eines der ungewöhnlichsten Resozialisierungsprogramme Europas. In mittlerweile vier verschiedenen Gourmetrestaurants in London, Surrey, Styal in der Nähe von Manchester sowie dem walisischen Cardiff sollen sich Gefangene auf ihr Leben nach der Haft vorbereiten. Nach Verbüßung ihrer Strafe sollen sie als gelernte Köche und Kellner einen Job in der Gastronomie antreten.
Bedarf gibt es genug. Großbritannien hat eine der höchsten Gefängnispopulationen Westeuropas – 85 000 Kriminelle sitzen auf der Insel hinter Gittern, in Deutschland sind es knapp 62 000. Und die Rückfallquote der Briten ist hoch: 45 Prozent geraten bereits im ersten Jahr nach ihrer Entlassung wieder mit dem Gesetz in Konflikt, in den ersten fünf Jahren sind es sogar 75 Prozent. Die Rückfallquote der Clink-Absolventen, sagt Moore stolz, beträgt dagegen nur 12,5 Prozent.
Ein Grund: Bereits bis zu 18 Monate vor ihrer Entlassung werden sie von der Clink-Charity betreut, in Freiheit helfen Mentoren ein weiteres Jahr bei der Eröffnung eines Bankkontos, der Suche nach einer Unterkunft oder einem Job. Denn ohne Angehörige, Familie oder Freunde kommen viele der Exinsassen draußen nicht zurecht. 200 potenzielle Arbeitgeber stehen mit der Wohltätigkeitsorganisation in Kontakt, sagt Moore.
Ausbildung in der Anstaltsküche
Geistiger Vater des Konzepts ist Alberto Crisci, der einst in Londons Edelviertel Mayfair im französischen Schlemmerlokal Mirabelle gekocht hatte. Dann eröffnete er sein eigenes Restaurant und wurde später Küchenchef der Justizvollzugsanstalt High Down in der Grafschaft Surrey. Zunächst bildete er die Gefangenen in seiner Anstaltsküche und der Gefängniskantine aus. Für echte Gourmetkost blieb dort wahrlich keine Zeit, immerhin mussten bis zu 3000 Mahlzeiten am Tag zubereitet werden.
Schlimmer noch: Die Rückfallquote blieb weiter hoch. 2009 eröffnete er daher das erste Clink-Restaurant, um die Gefangenen in ruhigerem Ambiente zum Gourmetkoch und Kellner auszubilden, fernab der Massenabfertigung. Crisci hoffte, dass dies ihre Chancen auf einen gut bezahlten Job verbessern würde – weil es in diesem Segment traditionell an gut ausgebildeten Fachkräften fehlt. Der Erfolg gab ihm recht, manche Häftlinge entschieden sich tatsächlich zur beruflichen Umorientierung: Criscis erster Chefkoch war früher Drogenhändler.
Weil er sich bestätigt sah, gründete er 2010 die Clink-Wohltätigkeitsorganisation. Die hat heute zahlreiche prominente Unterstützer aus der Branche. Starköche wie Albert Roux, der einst mit seinem Bruder Großbritanniens erstes Drei-Sterne-Lokal Le Gavroche führte, zu den prominenten Unterstützern. Zu den Förderern zählt außerdem der Italiener Antonio Carluccio, der in Großbritannien eine Reihe von Restaurants betreibt.
Die Resozialisierung beginnt im Kopf
Auch der Chef der Organisation, Chris Moore, ist überzeugt: Die Resozialisierung beginnt im Kopf. Am Anfang seien es vor allem zwei Faktoren, die die Identität der Männer ausmachen: das Verbrechen, das sie verübt haben, und die Länge ihrer Freiheitsstrafe. Wenn sie nach der Ausbildung im Clink in die Freiheit entlassen werden, haben sie idealerweise eine neue Identität und ein neues Selbstbild. Als Köche oder Kellner mit einer National Vocational Qualification, einem in Großbritannien anerkannten Berufsabschluss. Manche erwerben nach 18 Monaten gar eine Doppelqualifikation als Koch und Kellner. Und sie haben gelernt: Es lohnt sich, eine Sache konsequent zu verfolgen und durchzuhalten. Eine Lektion, die viele in ihrem bisherigen Leben verpasst oder wieder verlernt hatten.
Bei der Ausbildung geht es daher um mehr als handwerkliches Können. Viele der Insassen haben nie zuvor acht Stunden am Tag gearbeitet, geschweige denn 40 Stunden in der Woche. Sie müssen Verlässlichkeit lernen und Pünktlichkeit, manchmal auch ein freundliches Lächeln.
Etwa 850 Insassen hat das Gefängnis von Brixton, einem Stadtviertel im Süden von London. Die Gefangenen, die im Restaurant arbeiten, sind keine Schwerverbrecher. Viele sind wegen Delikten wie Drogenmissbrauch, Einbrüchen oder Betrügereien hinter Gitter gewandert, andere haben schon woanders den größten Teil einer langen Freiheitsstrafe verbüßt, manche sind Freigänger.
Rund 15 Häftlinge servieren in London bis zu 120 Gästen täglich Frühstück oder Mittagessen, ebenso viele bereiten in der Küche die Speisen zu. Dem einen oder anderen sieht man die sozialen Defizite noch an. Manche Bewegungen sind unbeholfen, die Aufmerksamkeit zu bemüht. Dennoch: Die Männer sammeln hier Selbstbewusstsein. Und sie entgehen dem eintönigen Dasein in ihrer Zelle. „Man fühlt sich nicht wie im Gefängnis“, sagt einer der Küchenlehrlinge.
Die Ausbildung ist deshalb auch sehr begehrt, der Auswahlprozess entsprechend streng – Lesen und Schreiben muss man können, besonders Letzteres ist keine Selbstverständlichkeit. „Entscheidend sind nicht die gastronomischen Vorkenntnisse, sondern die Motivation“, sagt Moore. Chancen haben Bewerber, die offen dazu stehen, Hilfe zu brauchen, weil sie es leid sind, immer wieder ins Gefängnis zu wandern.
Wer nascht, der fliegt
Am Anfang steht eine zweiwöchige Probezeit, 10 bis 15 Prozent der Bewerber fliegen meist schnell wieder raus, Moore kennt keine Gnade. Körperpflege, saubere Kleidung, Disziplin und Höflichkeit werden verlangt, Widerrede und Unehrlichkeit streng geahndet. Selbst wer in der Küche bei der Zubereitung der Speisen nascht, fliegt sofort. „Das Gefängnis ist die schlimmste Erfahrung meines Lebens“, sagt einer, der seit neun Monaten als Lehrling in der Küche arbeitet. „Das hier hat mich gerettet, es hat mich vor dem Durchdrehen bewahrt.“
Ähnlich äußert sich ein Kellner mit tätowierten Oberarmen: „Mir gefällt, dass ich im Restaurant mit normalen Leuten zu tun habe, das hat mein Selbstvertrauen wieder aufgebaut.“ Sogar die tägliche Routine – sein Arbeitstag dauert von morgens 8 bis nachmittags um 17 Uhr – findet er gut. „In der Zelle gehen die vielen Stunden ja nur langsam vorbei, man kann höchstens fernsehen.“
Und selbst jene, die später nicht in der Gastronomie anheuern, sind zufrieden. Einer will sich mit einem Freund in London selbstständig machen und Hochzeitsbankette ausrichten. Ein anderer will nach seiner Entlassung wieder zurück in seinen alten Job – als Dachdecker. Trotzdem möchte er die Erfahrung im Clink nicht missen: „Sie hat mir Selbstvertrauen gegeben.“
An diesem Vormittag hat die Vorbereitung der Mittagsspeisen bereits begonnen, die Stimmung ist unaufgeregt, in hohen Töpfen brodelt ein Sud. Es wird nicht laut geschrien, von Hektik keine Spur. „Hier geht es nicht zu wie beim britischen Starkoch Gordon Ramsay“, sagt einer der Ausbilder und lacht.
Sicherheit geht vor
In der Küche wird alles von Grund auf hergestellt: Die Auszubildenden lernen, wie man Entenbrust, Pasta, Sorbets und Eiscreme zubereitet. Sie schneiden, kneten, formen und frittieren. „Alle Küchenmesser sind nummeriert“, sagt der Ausbilder und deutet auf die Glasvitrinen an der Wand. Dort hat jedes einzelne Stück Küchenbesteck – 58 Einzelteile sind es insgesamt – seinen ganz bestimmten Platz und wird dort nach getaner Arbeit wieder eingeschlossen. Fehlt nur ein Teil, so muss es gesucht werden, bis es wieder auftaucht. Notfalls wird auch der Müll durchwühlt. Andernfalls wird nicht nur die Küche und das Restaurant abgeriegelt, sondern der gesamte Gefängniskomplex.
Der achteckige Backsteinbau, in dem sich heute das Clink befindet, stammt bereits aus dem Jahr 1811. Früher hatte hier der Gefängnisdirektor seinen Sitz. Der Umbau zum Restaurant, das 2014 eröffnete, wurde überwiegend mit privaten Spendengeldern finanziert und kostete rund eine Million Pfund. Die Inneneinrichtung einschließlich der Möbel wurde von Gefangenen in einer Schreinerei in Nordengland hergestellt.
Chris Moore arbeitete früher acht Jahre lang im Restaurant des Edelkaufhauses Harrods, nun ist er seit sechs Jahren Chef der Clink-Charity. Und er hat noch viel vor, drei weitere konkrete Projekte sind in Planung. Vor einiger Zeit startete die Wohltätigkeitsorganisation ein Cateringgeschäft, und sie betreibt eine Gärtnerei. Drei Viertel aller in den Restaurants verwerteten Gemüse und Salate stammen aus eigenem Anbau; Rind- und Hühnerfleisch werden von einer Justizvollzugsanstalt in Wales geliefert. Noch machen die Clink-Restaurants Verluste, was auch an den hohen Kosten und geringen Einnahmen liegt. „Uns geht es nicht darum, unsere Restaurants zu füllen und Profite zu machen“, sagt der Brite, „entscheidend sind das Training und die Resozialisierung.“ Daher sind die Mahlzeiten nicht unerschwinglich teuer.
Gutes Essen zu kleinen Preisen
Die Vorspeise Forellen-Confit kostet umgerechnet knapp 8 Euro, das Hauptgericht Krabben-Linguine 17,60 Euro, zum Nachtisch gibt es Schokoladen-Crème-brulée mit Chili-Popcorn für 7,60 Euro. Dazu noch der Mocktail des Tages für 5 Euro – so bleibt man unter 40 Euro. Für dieses kulinarische Niveau ein echtes Schnäppchen, erst recht in der teuren britischen Hauptstadt. Gerichte und Service kommen bei den Gästen gut an, auf Websites wie Tripadvisors bekommt das Lokal viel Lob. Nicht nur für die Qualität des Essens. Sondern auch für die gewisse Portion Nervenkitzel, mitten im Gefängnis gespeist zu haben – für die kulinarisch verwöhnten Londoner ein zusätzliches Plus.
Wer als Gast im Clink-Restaurant speisen will, muss vorher einen Tisch reservieren und wird von den Behörden zunächst erkennungsdienstlich überprüft. Handys, Laptop, Parfüm, Kaugummi und Bargeld von mehr als 50 Pfund müssen draußen abgegeben und in ein Schließfach gesperrt werden. Der Vollständigkeit halber: Auch Wachs, Magnete und Werkzeuge sind verboten, Messer und Waffen sowieso.
Eines gönnen die Betreiber den Kellern allerdings nicht: Trinkgeld anzunehmen ist verboten. Die Gäste können in einem Briefumschlag lediglich eine Spende für die Wohltätigkeitsorganisation hinterlassen.