Entzauberte Mythen
Selbstzweifler sind besser Quelle: imago images

Wer sein eigenes Unwissen kennt, weiß mehr

Bescheidenheit ist eine Zier? Nicht nur. Sie zeugt meistens auch von Stärke – und überdurchschnittlicher Kompetenz. Denn wem bewusst ist, wieviel er noch nicht weiß, macht weniger Fehler.

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„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, soll Sokrates vor mehr als 2000 Jahren gesagt haben. So einen Satz kann man sich heute natürlich nicht mehr erlauben. Wer zugibt, etwas nicht zu wissen, gilt nicht als weiser Philosoph, sondern als intellektueller Schwächling. Deswegen wimmelt es in sozialen Medien von selbst ernannten Besserwissern. Nur die wenigsten posten: „An alle! Habe gerade festgestellt, dass ich doch nicht so klug bin, wie ich dachte.“

Auch im Berufsleben ist Bescheidenheit nicht unbedingt ein Zeichen von Stärke. Die Selbsterkenntnis „Mir ist klar, dass ich nicht so viel weiß“ wird man in einem Bewerbungsgespräch nie hören. Doch Vorsicht – denn in Wahrheit ist Bescheidenheit kein Zeichen von Schwäche. Sondern häufig eine typische Charaktereigenschaft derjenigen, die mehr wissen als der Durchschnitt.

Genau das kam heraus, als man kürzlich untersuchte, was Menschen mit großem Wissensschatz auszeichnet. Diejenigen, die bescheiden über ihr eigenes Wissen urteilten, wussten mehr als diejenigen, die behaupteten, schon fast alles zu wissen.

Mehr noch: Understatement ging auch mit einer größeren Lernmotivation einher. Während die Arroganten ihre Ambitionen von externer Belohnung abhängig machten (zum Beispiel davon, ob sie gute Noten bekamen), dachten die Bescheidenen von sich aus neugieriger und flexibler. Je überheblicher die Probanden ihr Wissen einschätzten, desto eher fielen sie auf Falschbehauptungen herein, deren Wahrheitsgehalt sie beurteilen sollten. Mit anderen Worten: Je bescheidener jemand ist, desto neugieriger, kritischer und wissender ist er auch.

Leider genießt Bescheidenheit dennoch keinen guten Ruf und wird allzu oft mit Unterlegenheit gleichgesetzt. Niemand will einen Top-Manager, der von sich behauptet, nicht wirklich zu wissen, um was es geht. Oder einen Politiker, der klarstellt: „Ich ändere gerne meine Meinung zu wichtigen Themen.“

Die Alternative? Überhebliche Leute, die – vor Selbstüberschätzung strotzend – den Blick auf die Realität verlieren. Denn nur wer weiß, dass er (oder sie) sich weiter verbessern und Neues lernen kann, bleibt adaptiv und flexibel.

Sokrates war ja auch kein ungebildeter Depp, sondern kam erst durch sein vieles Wissen zur Einsicht, dass er noch mehr wissen könnte. Nicht zu überheblich zu sein – das ist heute, in Zeiten einer überquellenden Informationsflut, wichtiger denn je. Und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen, weil nur Selbstzweifler sich hinterfragen und nicht zu starr an ihren Perspektiven festhalten. Natürlich sollte man sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, sich aber auch nicht für schlauer halten als sein zukünftiges Ich.

Zum anderen geht es auch darum, die unprätentiösen Typen anzusprechen, also diejenigen, die sich in Meetings nicht vordrängeln und bescheiden bleiben. Sie sind oft diejenigen, die eine neue Sichtweise beisteuern können. Ob diese Form von intellektueller Zurückhaltung sich gegen die Überheblichen durchsetzen wird? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht.

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