Führung Organisationen brauchen Hierarchien

Hierarchien: Vorteile und Nachteile des Pyramidenmodells Quelle: imago, Montage

Hierarchien haben aktuell keinen guten Ruf – dabei gibt es bislang keine bessere Art der Zusammenarbeit. Ein Buchauszug.

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Manchmal glauben Menschen, alles richtig zu machen, und scheitern trotzdem. Das ist bitter – so wie bei einer Abteilungsleiterin, die zu mir ins Coaching kam. Sie hatte sich in ihrer Firma etabliert, war angesehen und man hatte ihr signalisiert, dass es für sie durchaus noch nach oben gehen könnte. Obwohl sie zu Recht davon ausging, dass sie einen guten Job machte, schaute sie sich parallel nach neuen Möglichkeiten um – eher aus Spieltrieb als aufgrund echter Wechselgedanken.

Doch dann flatterte ihr das Angebot eines sehr attraktiven Unternehmens auf den Tisch. Die Produkte kannte und liebte sie, der Einsatz wäre in Wohnortnähe gewesen, und das Beste: Das Unternehmen verzichtete weitgehend auf Hierarchien und setzte auf einen radikal partizipativen Führungsstil.

Teamleiter wurden beispielsweise nicht eingesetzt, sondern von den Team-Mitgliedern gewählt. Abteilungsleiter durchliefen regelmäßig ein beinhartes Peer Review durch ihre Mitarbeiter und Kollegen. Doch das schreckte die Dame nicht – im Gegenteil. Sie hatte sich bereits seit einiger Zeit mit neuen Führungsmodellen auseinandergesetzt und war durchaus bereit, die bekannte Sicherheit der Hierarchie mit einem eher experimentellen Umfeld zu vertauschen.

Markus Väth Quelle: Presse

Die alternative Führungsphilosophie faszinierte sie; wie so viele Kollegen hatte sie das klassische Pyramidenmodell der Führung immer schon als etwas einfallslos und unflexibel empfunden. Nach kurzer Bedenkzeit nahm sie das Angebot des Unternehmens an und startete ihr persönliches Führungsabenteuer.

So wie meiner Klientin geht es vielen Mitarbeitern und Managern in Unternehmen. Seit Jahrzehnten exekutieren wir das uralte hierarchische Pyramidenmodell der Führung, und viele wollen das Spiel nicht mehr mitspielen. Ober sticht Unter. Ich Chef, du nix.

Das Organigramm teilt noch den kleinsten Winkel des Unternehmens in saubere Häppchen: Verantwortlichkeiten, Aufgaben, Stellenbeschreibungen. Von oben nach unten werden der wahrgenommene Handlungsspielraum immer enger und die eigenen Befugnisse weniger. Die Mitarbeiter ganz unten mutieren nicht selten zu reinen Befehlsempfängern.

Für einige Organisationen funktioniert ein solches Modell ganz hervorragend, zum Beispiel für das Militär. Stellen Sie sich vor, ein Stoßtrupp würde partizipativ ausdiskutieren, ob man den Hügel da vorne erstürmt oder nicht. Bis sich der Stuhlkreis wieder abgebaut hätte, wäre der Feind längst weg.

Oder nehmen Sie die Feuerwehr. Da muss jeder Handgriff sitzen, auch unter großem Stress. Für Diskussionen vor dem brennenden Mehrfamilienhaus bleibt da wahrlich nicht viel Zeit.

Das Problem der Pyramide liegt nicht in der Hierarchie selbst, sondern in ihrer flächendeckenden Verbreitung. So gut wie jede Organisation hat im Lauf ihrer Gründung das militärisch-hierarchische Pyramidenmodell übernommen.

Beraterdämmerung Quelle: Presse

Auch wenn die Führungsforschung oder Management-Gurus versuchen, neue Ansätze zu etablieren und den Gen-Code der Führung umzuschreiben, steht der Lackmus-Test alternativer Führungsmodelle wie der (fast) hierarchiefreien Netzwerk-Organisation in der Masse noch aus.

Es sind eher die immer gleichen Vorzeige-Unternehmen, die auf Tagungen und in der Presse ihre Erfolge vorweisen und versuchen, für andere eine Best-Practice-Lösung abzuleiten. Doch das klassische hierarchische Organisationsmodell wird davon bislang nicht erschüttert.

Warum ist das eigentlich so, wenn Mitarbeiter und Manager es doch gleichermaßen als einengend, unflexibel und kleinkariert empfinden? Dafür gibt es gleich mehrere einleuchtende Gründe.

Erstens: Es funktioniert. Machen wir uns nichts vor: Auch wenn man leicht über das Pyramidenmodell lästern kann, funktioniert die hierarchische Aufteilung von Verantwortung und Arbeitsbereichen weitgehend zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Deutschland ist in schöner Regelmäßigkeit Exportweltmeister, und wir haben immer noch einen starken, hierarchisch organisierten Mittelstand.

Außerdem dürfen Sie nicht unterschätzen, dass wir alle mit der sogenannten Maschinen-Metapher der Organisationstheorie aufgewachsen sind: Unternehmen werden implizit verglichen mit Maschinen, deren Einzelteile eben nicht nur aus tatsächlichen physischen Maschinen, sondern auch aus Menschen(-Maschinen) besteht.

Ein Rädchen kennt seinen Platz

Und genauso wenig, wie man ein Rädchen nach seiner Meinung fragt oder ob es einen Sinn in seinem Beitrag sieht, fragt man in der klassischen Pyramide die Mitarbeiter weiter unten auch eher weniger nach ihrer Meinung oder macht sich größere Gedanken, dass sie plötzlich mit einer eigenen Haltung auftrumpfen könnten. Ein Rädchen kennt seinen Platz. Und diese Philosophie funktioniert für sehr, sehr viele Unternehmen bislang ganz hervorragend.

Zweitens: Es ist bequem. Wir müssen damit rechnen, dass nicht alle Mitarbeiter selbstorganisiert, agil und eigeninitiativ arbeiten können oder wollen. Manche empfinden ihren Verantwortungsbereich zwar als kleines Kästchen. Aber es ist ihr Kästchen, ihr Reich.

Versuchen Unternehmen, solche Mitarbeiter zu mehr Selbstorganisation zu bringen, ist es, als würde man Stallhasen auswildern wollen. In seiner kleinen Box kennt sich der Stallhase aus, da macht ihm keiner was vor. Und andere Hasen sollen sich gefälligst aus seiner Box heraushalten. Doch in der freien Wildbahn könnte er keine zwei Tage überleben. Selbstorganisiert Futter suchen und agil überleben? Eher nicht sein Fall.

Für große Feldversuche einer Netzwerk-Organisation müsste daher der Ansatz einem viel größeren Publikum bekannt gemacht werden, das auf spielerische Art damit Erfahrungen machen und sich daran gewöhnen kann. Das ist bislang nicht der Fall.

Drittens: Es gibt entsprechende Gesetze. Was auch passiert in Unternehmen: Jemand muss dafür geradestehen. Natürlich findet es ein Team toll, gemeinsam über die Einstellung eines neuen Mitglieds zu entscheiden. Doch wer will die Verantwortung dafür tragen, den zweifachen Familienvater wieder zu entlassen? Und wer unterschreibt die Kündigung? Sogar innerhalb der sogenannten Organhaftung fordert der Gesetzgeber zumindest in Deutschland einen einzelnen Menschen als rechtlich Verantwortlichen.

Deswegen gibt es bei uns auch kein Unternehmensstrafrecht wie in den USA, wo eine Organisation als Ganzes in Haftung genommen werden kann (und dann beispielsweise bei Fehlverhalten oder Betrug exorbitante Schadenersatz-Forderungen bezahlen muss).

Daher bleibt bei Entscheidungen im Kollektiv immer die Frage: Wer trägt letztlich die rechtliche Verantwortung? Trotz dieser Tatsachen und Vorteile hat die klassische Pyramidenorganisation natürlich auch offensichtliche Nachteile. Sie verhindert aufgrund der vielen institutionellen Schnittstellen schnelle Reaktionen des Unternehmens, zum Beispiel auf dynamische Marktveränderungen. Sie provoziert Silodenken und hemmt die Kommunikation und Innovation eines Unternehmens. Und nicht zuletzt engt sie den Spielraum der Führungskräfte ein.

Gerade Mittelmanager sehen sich oft einer Sandwich-Situation ausgesetzt: Sie müssen die Anweisungen von oben ausführen und weitergeben, von unten bekommen sie ebenfalls Druck, und eigenen strategischen Spielraum haben sie in der Regel so gut wie gar nicht. In vielen Unternehmen können wir daher eher weniger von einer kraftvollen Führung, von einer Empowered Leadership sprechen.

Und wie wollen Sie denn auch Ihre Mitarbeiter „empowern“, wenn Sie sich selbst nur als Rädchen im Getriebe sehen und eine gewisse Machtlosigkeit fühlen? Wie wollen Sie Ihre Spielräume nutzen, Ihre Mitarbeiter fördern und sich gleichzeitig Freude und Energie bewahren?

Diese Kernforderungen sind es, die eine Empowered Leadership erfüllen muss. Bevor wir Mitarbeiter ermächtigen, sollten wir an die Manager denken und diesen unter die Arme greifen. Damit die Pyramide nicht ihre Leistungsträger verschleißt und das Unternehmen durch eine ausgelaugte Führung nicht auf der Strecke bleibt.

Die gute Nachricht: Für eine Revolution in der Führung müssen wir die Pyramide nicht abschaffen. Das wäre auch ein Herkules-Akt: Zu tief verankert ist dieses Organisationsmodell in den Köpfen von Managern und Mitarbeitern, in den Prozessen und Strukturen von Unternehmen.

Aber es gibt eine Alternative zur strukturellen Revolution, die manche junge Wilde unter den Beratern ausrufen. Sie müssen kein Fan von Holacracy, Unternehmensdemokratie oder Zero Hierarchy werden. Wir müssen die Organisation nicht neu erfinden. Wir müssen den Geist der Führung neu erfinden.

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