Männer und Frauen sind noch nicht gleichberechtigt. Auch wenn eine Frauenquote für die Kontrollgremien der börsennotierten Unternehmen beschlossen ist. Auch wenn die Politik über transparente Löhne diskutiert, damit Frauen nicht schlechter bezahlt werden als Männer. Oder darüber gestritten wird, das Sexualstrafrecht zu verschärfen, damit mehr Vergewaltiger auch verurteilt werden können. Und auch wenn Stimmen wie etwa die von Birgit Kelle die Bestrebungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit eine "absurde Ideologie" nennen und meinen, in puncto Gleichberechtigung sei jetzt mal genug.
Immerhin wird wieder mehr über Gleichberechtigung diskutiert – und über Feminismus. Nun hat die Publizistin Anke Domscheit-Berg die Debatte um ein kluges, präzises und unaufgeregtes Buch erweitert. Ein bisschen gleich ist nicht genug soll ein Weckruf sein. Darin stellt sie nüchtern dar, warum überhaupt nicht die Rede davon sein kann, dass Männer und Frauen hierzulande annähernd gleiche oder wenigstens vergleichbare Chancen und Bedingungen haben. Sie erklärt, warum Sexismus nach wie vor ein Problem ist und dass es keine einfachen Erklärungen für die Ungleichheit gibt.
Zwar sind in den vergangenen Jahren zu Fragen der Gleichberechtigung der Geschlechter unzählige Bücher erschienen, doch sie beschränken sich oft auf das Kritisieren der Zustände oder idealisieren und favorisieren vor allem einen Lebensstil. Sheryl Sandberg etwa ist das Sprachrohr der karriereambitionierten Frauen. Ihre Hauptbotschaft in Lean in ist, dass sich die Frauen einfach noch mehr reinhängen müssten, dann könnten sie – vielleicht – auch alles haben. Für ihr Leitbild der Karrierefrau wurde die Managerin als "BWL-Feministin" kritisiert. Sandberg taugt insofern wenig als Vorbild.
Alison Wolf liefert in The XX Factor zwar eine umfassende Datenanalyse des ökonomischen Status quo der Gleichberechtigung in der westlichen Welt, verlässt hierbei aber kaum die makroökonomische Perspektive. Antworten hat die Wirtschaftsprofessorin allenfalls wirtschaftspolitische. In den Büchern von Anne Wizorek und Laurie Penny wiederum finden sich junge Frauen in ihrer Lebensrealität wieder. Darum sind die Autorinnen wichtige junge, vor allem freche und laute Stimmen des Feminismus. Ihre pointierten Thesen polarisieren allerdings. Und nicht zuletzt wegen ihrer Jugend werden sie in den Medien zu Ikonen eines vermeintlich neuen Feminismus stilisiert. Dem Ziel, mehr Gleichberechtigung zu erreichen, ist es wenig dienlich, wenn zwischen Alt- und Jungfeministinnen unterschieden wird.
Eine ruhige, erwachsene Stimme
Eine ausgewogene Stimme kommt nun von Domscheit-Berg. Ruhig und präzise seziert sie in ihrem Buch die Komplexität der Geschlechtergerechtigkeitsfrage. Im ersten Teil beschreibt sie die Ungleichheit anhand von Daten wie etwa den Männer- und Frauenlöhnen. Die bekannten Studien zum Gender Pay Gap bereichert die Autorin um Daten zur Rentenlücke, die zwischen Männern und Frauen immerhin 57 Prozent beträgt. Außerdem geht sie auf die Rechtslage zum Unterhaltsanspruch von Alleinerziehenden ein (die allermeisten sind Frauen). Zahlt der Vater nicht, springt der Staat nur für maximal sechs Jahre ein und generell nicht mehr, wenn das Kind über zwölf Jahre alt ist. "Als hätten Jugendliche in der Pubertät keinen Bedarf an neuer Kleidung, Wohnraum, gesunder Ernährung, vernünftiger Bildung oder Freizeitgestaltung", schreibt Domscheit-Berg. Die Autorin lässt auch die Vermögensverteilung zwischen den Geschlechtern nicht unerwähnt: Bezieht man neben dem Arbeitseinkommen auch Kapital- und Vermietungserlöse sowie Renten, Pensionen und Lohnersatzleistungen ein, dann haben Männer im Schnitt 53 Prozent mehr Vermögen als Frauen.
Welche Gründe für Ungleichheit stimmen wirklich?
Domscheit-Berg, die selbst Politikerin der Piratenpartei war, beschreibt auch die geringe Beteiligung von Frauen in der Politik, zeigt sachlich die Männerdominanz in Behörden, Gremien und Ministerien auf. Selbst in den Medien fehlen Frauen an der Spitze. Vieles hat man schon gelesen, andere Daten dagegen sind selbst versierten Feministinnen neu. Zugleich überfrachtet die Autorin die Leserinnen und Leser nicht mit Studienergebnissen.
Die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen hat Gründe. Aber welche stimmen wirklich? Das beleuchtet Domscheit-Berg im zweiten Teil des Buches. Sie unterzieht eine Reihe von Erklärungen einem Check, etwa dass Frauen einfach den falschen Beruf ergriffen und statt eines sogenannten Mint-Fachs (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) ein geisteswissenschaftliches Fach studierten. Doch tatsächlich ist der Gender Pay Gap in den Mint-Berufen, wo Frauen händeringend gesucht werden, sogar noch größer als in anderen Bereichen – eine Frau schadet sich also auch noch, wenn sie das "Richtige" studiert. Wie kommt das?
Mit biologistischen Erklärungen hält sich Domscheit-Berg nicht zu lange auf, denn weder hat die Steinzeit heute noch einen Einfluss auf unser Verhalten noch können die Gene für unsere Präferenzen verantwortlich gemacht werden. Stattdessen zeigt die Autorin, dass die Ursachen für die Geschlechterungerechtigkeit in einem komplexen Zusammenspiel von Erziehung, Prägung und starren Machtverhältnissen liegen. Für die Karriere heißt das: "Die lebenslange Sozialisierung führt tatsächlich häufig dazu, dass Frauen mit verstärkter Zurückhaltung ihre eigene Karriere behindern. Andererseits gelten auch hier doppelte Standards. Denn trommeln sie für ihre Leistung, gelten sie schnell als überehrgeizig und unsympathisch. Die Gratwanderung zwischen zu wenig und zu viel Selbstmarketing müssen nur Frauen beherrschen. Männern bleibt sie aufgrund anderer Geschlechtsstereotypen erspart."
Diese Unternehmen bieten die besten Karrierechancen für Frauen
Für den Frauen-Karriere-Index des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) bekommen die teilnehmenden Unternehmen eine Wertung auf einer Skala von 0 bis 100. Je höher die Punktzahl, desto besser die Karrierechancen für Frauen in dem Betrieb.
Die Symrise AG kam im Jahr 2015 auf 73 von 100 Punkten - im Ranking reicht das für Platz zehn.
Quelle: Frauen-Karriere-Index
GFT Technologies AG - 75 Punkte
Jeweils 76 Punkte entfallen auf:
Intel GmbH / Intel Mobile Communications
DATEV eG
TÜV Rheinland
ING-DiBa AG
Jeweils 78 Punkte gehen an
Bombardier Transportation GmbH
Uniklinik Köln
Jeweils 79 Punkte für
Hydro Aluminium Rolled Products GmbH, Grevenbroich
SEB AG
KfW
Jeweils 80 Punkte gehen an
Siemens Betriebskrankenkasse SBK
HypoVereinsbank
SMA Solar Technology
Charité Universitätsmedizin Berlin - 81 Punkte
Jeweils 82 Punkte erreichten
Randstad Deutschland
Airbus Group Deutschland
Deutsche Telekom AG - 83 Punkte
Hewlett Packard GmbH - 85 Punkte
Domscheit-Berg reduziert die Gleichberechtigungsfrage aber nicht auf den Arbeitsmarkt oder die Frage, wer wie viel im Haushalt arbeitet. Sie thematisiert auch Sexismus und Gewalt sowie die private Partnerwahl, die immer noch entscheidend für ein Frauenleben ist. Und hier spricht sie unangenehme Wahrheiten aus: "Liebe macht leider blind, und so finden sich oft progressive Frauen mit konservativen Partnern wieder. (...) Hoch qualifizierte Frauen verlassen den Arbeitsmarkt oder Karriereleiter häufig, weil sie durch ihre Partner nicht die nötige Unterstützung erhalten, die für eine weitere berufliche Entwicklung erforderlich wäre. (...) Ist der Arbeitgeber keiner der Weltverbesserer in puncto Vereinbarkeit von Leben (...) und Arbeit, dann hängt fast alles vom Partner ab. Ist er nicht kooperativ, wird er zur Bremse für seine Partnerin, sie steigt aus oder ab oder trennt sich."
Als Ergänzung zum Buch hat Domscheit-Berg eine Website veröffentlicht, auf der sie nüchtern Zahlen, Daten und Fakten rund um den Status quo der Gleichberechtigung zusammengetragen hat. Damit will sie Interessierten die Möglichkeit geben, "Behauptungen an ihrer Datenquelle selbst nachprüfen zu können, eigene Schlussfolgerungen zu ermöglichen und insgesamt eine sachlichere Debatte zu unterstützen".
Analyse und konkrete Lösungen
Sie belässt es außerdem nicht bei der Analyse. Sie liefert konkrete Lösungen. Für die Frauen, die Männer, die Politik und die Wirtschaft. Auch hier hat man manches bereits gehört. Etwa die Forderung, das Ehegattensplitting abzuschaffen und Individualbesteuerung abhängig vom Familienstand einzuführen. Anderes wie etwa konkrete Vorschläge zur Beseitigung des Lohnunterschieds sind teilweise zu wenig bekannt. Auch die Forderung, Verbandsklagen gegen Diskriminierung rechtlich möglich zu machen, sind in der Gleichberechtigungsdebatte lange nicht mehr oder kaum diskutiert worden.
Führende Rolle in der Feminismus-Debatte
Wenn es überhaupt etwas zu kritisieren gibt an Domscheit-Bergs Buch, dann ist es vielleicht die stark heterosexuelle Sicht auf die Geschlechterfrage. Allerdings will Ein bisschen gleich ist nicht genug ein Weckruf sein, der an den Mainstream gerichtet ist.
Natürlich erfindet die Publizistin die Welt nicht neu, aber sie stellt unlängst vergessene mit hoch aktuellen Lösungsansätzen zusammen und weist auf Möglichkeiten zur pragmatischen Umsetzung hin. Ihr Buch ist eine kluge Anleitung zur Erschaffung einer Welt mit mehr Gleichberechtigung. Und damit zeigt sie, dass in ihr eine Vordenkerin, eine Visionärin steckt – aber eine, die ausgewogen debattieren kann, weil sie lebenserfahren genug ist.
Domscheit-Berg wurde 1968 in der DDR geboren, war Unternehmensberaterin bei Accenture, McKinsey und hat Karriere bei Microsoft gemacht. Sie hat zwei eigene Unternehmen gegründet, war Politikerin in der Piratenpartei. Sie ist außerdem Mutter eines Sohnes und mit dem früheren WikiLeaks-Sprecher Daniel Domscheit-Berg verheiratet. Kurzum: Eine Frau wie sie hat das Profil von einer, die man gerne in einer führenden Rolle der Feminismus-Diskussion sehen würde.
Anne Wizorek hatte im vergangenen Herbst mit ihrem Buch Weil ein Aufschrei nicht reicht ein wütendes wie auch pointiertes Buch vorgelegt, das ähnlich empörte und aufregte wie Alice Schwarzers Kleiner Unterschied in den siebziger Jahren. Wenn Anne Wizorek so etwas wie eine neue Alice Schwarzer ist, dann muss man Domscheit-Berg mindestens als Simone de Beauvoir ansehen. Besser ist es natürlich, diese Frauen in ihrem politischen Engagement einfach als die zu sehen, die sie sind. Überzeugte und aufrichtige Aktivistinnen für mehr Geschlechtergerechtigkeit.
Dieser Artikel ist zuerst bei Zeit Online erschienen.