Wer Visionen hat, solle zum Arzt gehen, nicht in die Politik, sagte Helmut Schmidt. Seine junge Genossin Manuela Schwesig ist da anderer Ansicht. Wer glaubt, dass Politik heutzutage ein ideologiefreies, technisch-taktisches Geschäft sei, der konnte sich bei der ersten Grundsatzrede der jüngsten Ministerin des Bundeskabinetts aus Anlass des morgigen Internationalen Frauentages eines Besseren belehren lassen. Schwesig hat eine Vision. Sie heißt Gleichstellung der Geschlechter. Und sie will damit keineswegs zum Arzt gehen, wie Sie gestern in Ihrer ersten Grundsatzrede verkündete.
Schwesig ist offiziell „Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend“. Doch sie selbst sieht sich, das hat sie nun endgültig überdeutlich gemacht, vor allem als Gleichstellungsministerin. Und wenn ihre Vision, die sie unter dem Jubel der an diesem Abend zum Empfang gekommenen Frauen und wenigen Männer ausmalt, zur politischen Realität werden sollte, kann man sie mit gutem Grund auch als Gesellschaftsveränderungsministerin bezeichnen.
Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit seien der „Dreiklang“ ihres „politischen Kompass“, behauptet Schwesig. Für sie sei „Gleichstellung ein zentrales Freiheitsthema, weil es darum gehen muss, Abhängigkeiten zu verhindern und die freie Entfaltung einer Jeden und eines jeden Einzelnen zu verwirklichen. Nur wer selbstbestimmt ist, kann frei leben.“ Es gehe nicht darum, den Menschen Leitbilder zu verordnen, sagt Schwesig.
Doch was sie dann ausbreitet, belegt, dass es ihr sehr wohl um Leitbilder geht, nämlich darum, traditionelle Rollenvorstellungen von Frauen auszumerzen und zu ersetzen. Empört berichtet sie von einem Quizz-Spiel ihres Sohnes, in dem das Kind nach einem Küchengerät gefragt wird, dass „deine Mutter verwendet“. Ein empörtes Raunen geht durch den Saal. Schwesig verspricht, künftig „mit Argusaugen“ auf ähnliche Passagen in Schulbüchern zu achten. Und nicht nur das: Gleichstellungspolitik müsse „den gesamten Lebenslauf, alle gesetzlichen Regelungen und gesellschaftlichen Konventionen in den Blick nehmen.“ Gleichstellung, das wird hier deutlich, ist ein Veränderungs- und Kontrollprogramm für die ganze Gesellschaft.
„Eingriffe“ seien an vielen Stellen nötig: „Rollenbilder bei der Berufswahl von Frauen müssen aufgebrochen werden, Aufstiegschancen von Frauen müssen verbessert werden. Die Lohnunterschiede zu Männern müssen verringert“ werden. In der Vision der Frau Schwesig, das wird hier klar, sind Arbeitnehmer und Arbeitsgeber nur noch sehr eingeschränkt freie Vertragspartner.
Konkret kündigte sie für die „nächsten Wochen“ ein gemeinsam mit Justizminister Heiko Maas ausgearbeitetes Gesetz zur Förderung von Frauen in Führungspositionen an. Darin soll unter anderem stehen: Eine 30-Prozentquote für Aufsichtsräte in voll mittbestimmungspflichtigen, börsennotierten Unternehmen (rund 110 Firmen) und „verbindliche Zielvorgaben" für Aufsichtsräte, Vorstände und Führungsebenen in rund 3500 mitbestimmungspflichtigen oder börsennotierten Unternehmen. Nicht zuletzt sollen auch Vorgaben für die Besetzung aller Gremien, auf die der Bund Einfluss hat, aufgenommen werden.
Manuela weiß, was gut für euch ist
Aber Schwesigs Vision betrifft nicht nur das öffentliche Leben. Gleichstellung à la Schwesig macht auch vor der Wohnungstür nicht halt: Ihr Ziel sei „Partnerschaftlichkeit“ in den Beziehungen als „Schlüssel gleichberechtigter Teilhabe“. Nichts anderes als das Privatleben, das Zusammenleben von Männern und Frauen in den Familien, ist es also, was Schwesig verändern will.
Nun, sicher, die meisten heutigen Paare wünschen sich Umfragen zufolge eine partnerschaftliche Aufteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit. Sicher wünschen sich auch die meisten Väter mehr zeit für ihre Kinder. Aber ist die Realisierung dieser höchst persönlichen Wünsche wirklich eine Aufgabe, die die deutschen Familien unter den Argusaugen der Manuela Schwesig zu meistern haben? Was maßt sich eine „moderne Gleichstellungspolitik“ an, wenn sie eine „Partnerschaft“ stärken will, „in der beide mit ihren Kindern spielen, ihnen die Welt zeigen und für ihre Sorgen und Probleme da sein können“?
„Reale Sorgen aufnehmen“, nennt sie das alles. „Ich habe Respekt vor jeder Lebensentscheidung,“ behauptet Schwesig, „aber ich will nicht, dass sie erkennbar in Sackgassen führen.“ Anders gesagt: Ich weiß besser, was gut für euch ist.
Manche Beobachter des politischen Geschehens glauben, dass eine entschieden liberale Partei im aktuellen Parteiensystem nicht mehr gebraucht werde, weil liberales Denken längst politisches Allgemeingut geworden sei. Das kann man bezweifeln.
Zu den größten Gefahren für eine freie Gesellschaft gehört, dass den Menschen der Sinn dafür verloren geht, was Freiheit bedeutet. George Orwell hat in seinem stets aktuellen Werk „1984“ gezeigt, wie durch das politisch gelenkte Verdrehen von Wortbedeutungen – „Neusprech“ – Macht verfestigt und Opposition unmöglich gemacht wird. Wer keinen Begriff von Freiheit mehr hat, vermisst sie nicht. Schwesigs Grundsatzrede ist ein sprechendes Beispiel dafür, wie auch unter der Flagge der Freiheit Programme der Bevormundung installiert werden, die ganz in der Tradition der sozialistischen Träume eines „neuen Menschen“ stehen.
Ähnliches gilt für die Begriffe Gleichberechtigung und Gleichstellung. Schwesig verwendet beide fast synonym, wenn sie etwa wiederholt von „gleichberechtigter Teilhabe“ als Gleichstellungsziel spricht. Sie vermittelt damit den Eindruck, als sei Gleichstellung eine Forderung, die sich aus der Realisierung von Gleichberechtigung ergebe. Die Sicherung gleicher Rechte für alle Menschen bedeutet aber gerade nicht, dass eine Obrigkeit sich in die Verteilung der gesellschaftlichen Positionen nach Gruppenzugehörigkeiten einmischt. Gleiche Rechte bedeuten keinen Anspruch auf gleiche Stellung.
Der Gleichstellungsstaat, auf den wir zusteuern, ist ein Quotenstaat, in dem die Gleichberechtigung für alle durch besondere Regelungen für Angehörige eines Geschlechts relativiert wird. Genau auf diese „Sonderrechte“ hatte übrigens die von Schwesig zitierte Clara Zetkin, jene Urmutter der Sozialistischen Internationale, die den ersten Internationalen Frauentag 1911 angeregt hatte, bewusst verzichtet.
Die Zuständigkeiten des „BMFSFJ“ hatte Schwesigs Parteifreund und Ex-Kanzler Gerhard Schröder einst unter „Gedöns“ zusammengefasst. Dahinter stand eine fatale Blindheit für die Bedeutung dieser Themen. Unter der Führung der Visionärin Schwesig und im Windschatten einer aufs wirtschaftspolitische Tagesgeschäft fokussierten Medienöffentlichkeit kann dieses Ressort zur gesellschaftspolitischen Schaltzentrale werden. Zumal im politischen Berlin nicht der geringste Widerstand gegen ihr Programm sichtbar ist. Diese junge Ministerin, die im Ministerium eine Schar entschlossener GleichstellerInnen um sich schart, könnte Deutschlands Zukunft nachhaltiger prägen als gänzlich visionsfreie Regierungstechniker wie Dobrindt und Gröhe.
Keine beglückende Aussicht ist das für Bürger beiderlei Geschlechts, denen Freiheit und Selbstbestimmung am Herzen liegen und die nicht wünschen, dass eine Politikerin, der Staat oder sonst wer für sie ein "partnerschaftliches Lebensmodell konsequent Wirklichkeit werden lassen".