Hartmut Rosa "Die eingesparte Zeit ist im Eimer"

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"Wir laufen vom Abgrund weg"

Wann schlägt die Klassische Moderne in die Spätmoderne um?

Die neue Veränderungsgeschwindigkeit lässt sich nicht an Jahreszahlen festmachen. Sondern nur in ihrer Logik verdeutlichen. In der Kunst, in der Musik und Wissenschaft erreicht sie uns früher als auf der Ebene der persönlichen Biografie.

Die Harmonie der Musik und die Linearität der Malerei zerbersten bereits 1910 - die Harmonie und Linearität unserer Biografien erst seit den 1990er Jahren?

Ein Student sagt heute jedenfalls nicht mehr: Ich studiere Soziologie, weil ich Soziologe werden will. Sondern er sagt: Ich studiere „jetzt halt mal“ Soziologie. Was ich damit sagen will, ist: Die Welt ändert sich nicht mehr von einer Generation zur nächsten, sondern kann schon in 10 Jahren eine ganz andere sein. Entsprechend ist das Zeitbewusstsein der Jungen episodisch: Jetzt ist es so, bald ist es anders. Die Postmoderne hat das Phänomen – übertragen auf Kunst und Architektur - gut beschrieben: Wir haben es nicht mehr mit einer Abfolge von Stilepochen zu tun, sondern mit  einem experimentellen Stile-Spiel, mit der Kollage von Fragmenten.

Und übertragen auf die Wirtschaft heißt das: Wir wachsen nur noch um des Wachstums willen, weil unser Fortschritt kein Ziel mehr kennt, nichts als leere Progression ist?

So ist es. Wirtschaftliches Wachstum hat uns die Überwindung von ökonomischer Knappheit, also Wohlstand und Reichtum verheißen – und die Eroberung von Freiräumen zur schönen Gestaltung unseres Lebens. Kurzum, an Wachstum und Beschleunigung war das Versprechen eines qualitativen Fortschritts gebunden. Entsprechend hatten fast alle Generationen die Hoffnung, dass es „ihren Kindern mal besser gehen wird“. Seit den 1990er Jahren hegen wir diese Hoffnung nicht mehr. Seither hoffen wir, dass es unseren „Kindern mal nicht schlechter gehen wird“.

von Ferdinand Knauß

Und Schuld daran soll die Beschleunigung sein?

Jedenfalls haben Finanzmarktderegulierung, Globalisierung und Digitalisierung den Kapitalismus ins Leere beschleunigt. Keiner erwartet mehr, dass durch ökonomische Effizienz Knappheit überwunden und unser Leben besser wird. Im Gegenteil: Wahrscheinlich wird der Kampf um Ressourcen härter werden. Und wahrscheinlich müssen wir in Zukunft noch härter arbeiten – und zwar nicht, damit wir endlich ruhiger und üppiger leben können, sondern damit wir nicht in den Abgrund rutschen. Das ist meine zentrale These: Wir laufen in Zeiten der beschleunigten Beschleunigung nicht mehr auf eine Verheißung zu, sondern vom Abgrund weg. Die Idee des Wachstums ist nicht mehr: Wir müssen uns steigern, die Ressourcen besser nutzen oder fleißiger sein, um was Neues realisieren zu können. Sondern die Idee ist: Wir müssen jedes Jahr einen Zahn zulegen, damit alles bleiben kann, wie es ist.

Wir gehen doch längst nicht mehr arbeiten, um Güter und Wohlstand zu produzieren. Sondern wir produzieren Güter und Wohlstand, um Arbeit zu haben. 

Aber das ist doch pervers. Sich unentwegt steigern zu müssen, damit uns die Arbeit erhalten bleibt, wenn recht eigentlich der materielle Mangel überwunden ist – das ist doch pervers.

Naja, wo kein Wachstum ist, fehlt auch der Wohlstand. Fragen Sie mal die Griechen  oder die Jugendlichen in Spanien.

Wenn ich von Postwachstum rede, meine ich nicht eine Gesellschaft, die nicht wächst. Im Gegenteil, es gibt wichtige Bereiche, in denen wir wachsen, beschleunigen und innovativ sein müssen – etwa im Falle grüner Technologien. Aber zu wachsen und zu beschleunigen, um zu bleiben, wie wir sind, das ist ein Systemfehler.

Sicher, wir wachsen längst nicht mehr. Sondern erkaufen uns mit billigem Geld die Illusion, weiter zu wachsen. Aber was schlagen Sie vor? Wachsen ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Systemfehler. Sondern primäre Voraussetzung für unternehmerisches Handeln.

Richtig. Ökonomisch tätig wird nur der, der Aussicht hat, mehr heraus zu bekommen, als er investiert hat. Das ist die Wurzel des Wachstumszwangs.

Und die wollen Sie jetzt rausreißen?

Ich will auf unsere verzweifelte Lage aufmerksam machen. Es gibt keine Fortschrittsidee mehr, aber wir müssen die Illusion von Fortschritt aufrechterhalten. Sonst bricht alles zusammen. Woher kommen denn Burnout und Depressionen? Aus dem Gefühl heraus, dass man immer schneller laufen muss, ohne irgendwo hinzukommen. Dass wir uns steigern müssen, ohne uns verbessern zu können.

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