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Quelle: imago images

Effizient, aber ohne Vision? Wir brauchen mehr Arbeitszeit zum Nachdenken

Prozesse gelten in vielen Unternehmen als effizient, wenn sie den Laden günstig am Laufen halten. Auf der Strecke bleibt Zeit für den kreativen Blick in die Zukunft. Der Effekt: Es bleibt alles an der Chef-Etage hängen. Was für eine Ressourcen-Verschwendung.

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Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Der alte Bundeskanzler-Schmidt-Spruch muss heute heißen: Wer Visionen haben will, muss dafür zum Arzt gehen. Schlicht, um im Wartezimmer Zeit dafür zu haben, einfach mal nachzudenken.

Im Ernst – es fällt mir auf: Immer häufiger berichten mir Leute, die ich berate, davon, dass sie das Gefühl haben, im Hamsterrad zu stecken. Dieser Effekt habe sich durch das Homeoffice noch verstärkt. Einige Betroffene erklären sich das so: Im Bestreben, immer mehr Projekte bei gleichbleibender Teamgröße erfolgreich abzuwickeln, werden die Prozesse derart gestrafft, dass keine Luft mehr bleibt, über das Große und Ganze nachzudenken.

Im Homeoffice (das für viele viele Vorteile bietet) zeigen sich außerdem zwei Nachteile des Arbeitens auf Distanz:

1. Der „Proximity Bias“, also die verzerrte Wahrnehmung der Vorgesetzten im Team, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die näher an ihnen dran sind, also etwa im Büro nebenan sitzen, die qualifizierteren Arbeitskräfte seien. Einfach, weil sie häufiger optisch zur Kenntnis genommen werden. Ein rein kognitives Phänomen.

2. Je weniger sich Arbeitsabläufe durch spontane Feinjustierung im Team anpassen lassen („Hast du gerade mal eine Minute? Hier guck mal. Die Lieferverzögerungen...“), desto einheitlicher und universeller werden sie gestaltet (Online-Meetings täglich um 10 Uhr, 15 Uhr, und montags der große Auftakt um 9 Uhr). Der Laden muss eben auch laufen, wenn alle für sich vor sich hin arbeiten. Auf Kosten von Flexibilität und Spontanität.

Die Folge: Die Leute im Homeoffice nudeln die vereinbarten Prozesse runter, ohne mal eben zu „Komm mal rüber, ich bin an deiner Meinung interessiert“-Brainstormings dazu geholt zu werden. Der Anruf einfach mal außerhalb der Termine erfordert mehr Überwindung als der Wink ins Büro nebenan. Weil der Einblick fehlt.

Der neue Trend zur Heimarbeit verstärkt nach meiner Wahrnehmung aber nur, was sich schon vorher abgezeichnet hat: Neue Aufgaben und neue Herausforderungen müssen in alten Strukturen mit abgedeckt werden.

Die Medienbranche, aus der ich selbst komme, ist das beste Beispiel: Wo früher „nur“ Fernsehen gemacht wurde, „nur“ Zeitungen und Zeitschriften rechtzeitig vor Druck gefüllt werden mussten, sind jetzt längst auch die Website, Podcasts, YouTube-Channels, Facebook, Instagram und Tiktok zu bespielen. Aber auch, wenn Sie in anderen Branchen arbeiten – ich höre von vielen Seiten: „Es wird immer mehr und das müssen wir irgendwie alles wuppen.“

Und hier beginnt sich ein tragischer Abwärtsstrudel zu drehen: Denn wenn vor lauter Alltags-Kleinklein dem ganzen Team keine Zeit und keine Energie mehr bleibt für das große Ganze, dann muss sich irgendwann auf der Chefetage der Eindruck einschleichen: Aus dem Team kommt nichts Weltbewegendes: keine Ideen, kein „ich hab mal nachgedacht“. Tenor: Die sind gut darin, den Schreibtisch abzuarbeiten, aber für Visionen sind eben die zuständig, die zu Recht der hochbezahlte Kopf der Firma sind.

Und das ist das Gegenteil von agilem Arbeiten. Wenn die Führungsebene dem ganzen Team den Input etwa zu Langzeit-Strategie, neuer Ausrichtung und kreativen Ideen nicht (mehr) zutraut. Denn dann wird dieser Input gar nicht mehr erst eingefordert und abgefragt. Bis irgendwann die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das Gefühl haben: Die da oben interessieren sich eh nicht für unsere Kompetenzen jenseits des Fertigwerdens.

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Spätestens dann wirkt „groß denken“ für die meisten als Freizeitvergnügen. Mit dem Effekt: „Ich sehe nicht ein, denen was zu schenken.“

Und das war’s. Kreativität tot. Ein Füllhorn an Kompetenz versiegt. Dabei stellen sich doch so viele Fragen, zu denen der Input der Fachleute, die direkt an der Quelle sitzen, Gold wert ist. Die, die die Kunden persönlich kennen, die deren Feedbacks hören und lesen, die die alltäglichen technischen Herausforderungen erleben, die mit Leidenschaft fürs Produkt die Konkurrenz beobachten und sich inspirieren lassen – die vielleicht sogar genauso gute Chefs und Chefinnen geworden wären.

Wie lässt sich dieser Abwärtsstrudel abschneiden? Ich finde mit:

1. Wertschätzung fürs Reingraben

Als fest angestellter Redakteur habe ich das mal erlebt: Weil immer alle im Haus davon ausgegangen waren, dass in meinem intern lesbaren Outlook-Kalender ein weißer Zeitraum bedeutete, dass ich nichts zu tun hatte (nur weil ich keine Termine drin stehen hatte) – was dazu geführt hatte, dass meine Arbeitstage zerschossen waren durch Meetings mit 15 Minuten Pause hier und 20 Minuten Unterbrechung dort – habe ich mir damals angewöhnt, mir dreistündige Schreibtisch-Zeiten in den Kalender einzutragen, in denen ich ungestört und unzerschossen an einer neuen Wissenschaftsshow für Kinder arbeiten konnte. Da kam ein Kollege von Sales in mein Büro und war ganz empört: „Du hast ja DOCH Zeit! Warum steht in deinem Kalender, dass du verplant bist?“
Es schwang regelrecht ein Betrugsvorwurf mit.

Weil für ihn nicht als sinnvoll genutzte Arbeitszeit zählte, sich über Stunden konzentriert in eine Materie einarbeiten zu können. Am Ende war ich einer der ersten, der Homeoffice machen durfte. Eine ganze Woche am Stück! Um dort zu recherchieren, zu schreiben, Moderationen zu proben. Mein Chef hatte Gnade mit mir gehabt. Und auch wenn es freilich bei weitem nicht allein an mir und meiner Woche Homeoffice lag: Am Ende wurde die Sendung ein großer Quotenerfolg.

Will sagen: Nachdenken fühlt sich nicht nur gut an, es bringt das ganze Team voran. Es als Träumerei oder gar als Zeitverschwendung zu betrachten, wäre ein trauriger Management-Fehler.

Zeigen Sie, dass Sie an den professionellen Einschätzungen des ganzen Teams interessiert sind. Rufen Sie Ihre Leute auf, eigene Ideen einzubringen und dafür jederzeit mitzudenken. Als Führungsfigur werden Sie dann erleben, dass Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dafür sogar ihre Feierabende und Wochenenden investieren werden. Weil ihnen ihre ureigene Materie einfach am Herzen liegt – und ihre Meinung gefragt ist.

2. Delegieren Sie für mehr eigene Denkzeit

Zum Team gehören auch die Führungskräfte, die ihrerseits oft beklagen: „Ich komme zu nix!“ – was soviel heißt wie: Das, was den Job eigentlich ausmacht, nämlich den Blick in die Zukunft zu richten, Strategien zu entwickeln und Visionen wahr werden zu lassen, fällt hinten vom Schreibtisch runter, weil der Alltagskram von links und rechts in die Mitte drängt.

Geben Sie nach Möglichkeit Dinge aus der Hand, um selbst einen freien Kopf zu bekommen. Denken Sie an das, weshalb Sie angetreten sind, und machen Sie es möglich, Ihre Stärken auszuspielen. Und wenn Sie zwischen der Perfektion hier und heute und einer gut konzipieren Zukunftsstrategie wählen müssen: Entscheiden Sie sich nicht immer für das, was gerade ganz oben auf dem Stapel liegt, sondern wischen die Platte frei. Geben Sie sich selbst einen Ruck – Ihrem Unternehmen zuliebe.

3. Schaffen Sie Austauschräume

Das gilt örtlich wie zeitlich. Wenn es immer überall stört, wenn Mitarbeitende miteinander reden, macht es schnell mundtot. Rückzugsräume, die aussehen wie Pausenlounges sind keine Bereiche für Schlendrian, sondern oft Orte bester Ideen. Manchmal passieren dort ad hoc Brainstormings, ohne dass die Beteiligten merken, was sie dort gerade mit einem Kaffee in der Hand Wertvolles entwickelt haben. Wenn es am Ende heißt: „Lass uns das bald mal weiterspinnen“, scheint etwas Wertvolles angestoßen worden zu sein.

Räumen Sie solchem Austausch aber auch Zeiten ein. Eine einstündige Runde etwa am Freitag um 16 Uhr. Damit alle die Woche mit einem kreativen Sammelsurium abrunden können.

Manchmal werden dort vier, fünf Ideen in die Runde geworfen, diskutiert, verworfen, notiert, gelobt. Manchmal trägt ein Anliegen die gesamte Stunde. Wenn am Ende das Gefühl vorherrscht: „das ist noch nicht zu Ende gedacht“, winken Sie nicht mit dem Blick aufs Wochenende ab. Sondern vereinbaren Sie, den Faden bald wieder aufzunehmen.

4. Fordern Sie von „Thinktanks“ konkrete Ergebnisse ein

Zeit zum konzertierten Nachdenken über das große Ganze ist nicht nur gedacht für das gute Gefühl. Sondern für belastbare Ergebnisse. Geben Sie konkrete Fragestellungen in Thinktanks mit den richtigen Leuten, die Dinge diskutieren und Ergebnisse präsentieren sollen. Das alles muss ja nicht in jedem Fall an das Versprechen geknüpft sein, alle Vorschläge wahr werden zu lassen. Es geht um das gedankliche Vorankommen durch die gegenseitige Inspiration, die am Ende irgendwann in handfeste Erfolge münden kann.

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Und zum Schluss: Merken Sie sich diese Erfolge. Beobachten Sie genau, was der Austausch bringt und ob er Früchte trägt. Ich kenne nicht einen Fall, in dem die Quintessenz lautete: „Die kreativen Austauschrunden sind Zeitverschwendung.“ Meistens höre ich: „Endlich haben wir ein gemeinsames Grundverständnis“ oder „Wir haben ein Leitbild erdacht, an dem wir uns gemeinsam orientieren“ oder „wir wollen ein paar Dinge demnächst echt mal mit Kunden/Zuschauern/Leserinnen testen.“

Es ist eben Zeitverschwendung, sich keine Zeit für Visionen zu leisten.

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