
Womöglich ist Joseph Beuys an allem schuld. Jeder Mensch sei ein Künstler, dekretierte der Meister vom Niederrhein Anfang der Siebzigerjahre – und sein Publikum schaute damals ziemlich verdutzt drein. Der Michel war es schließlich noch gewohnt, Kunst als die Ausnahme genialen Schöpfertums zu sehen – oder als privilegierten Ort für höhere Spinnerei. Wer Erfolg im bürgerlichen Leben anstrebte, tat gut daran, zu Kunst und Künstlermilieu auf Distanz zu gehen und bewährte Tugenden zu pflegen: Fleiß, Beharrlichkeit, ruhige Arbeit statt Extravaganz, professionelles Können statt Genialität.
Hauptsache kreativ
40 Jahre später hat Beuys auf ganzer Linie gesiegt. Heute wollen alle wenn nicht genial, so doch wenigstens kreativ sein, lauter verkappte Künstler, die unentwegt damit beschäftigt sind, sich etwas einfallen zu lassen, ins Unbekannte vorzustoßen, Grenzen zu überschreiten, schöpferisches Neuland zu erschließen. Vor allem das Büro ist ein Tummelplatz für Gipfelstürmer geworden, die permanent Funken schlagen, eine aufregende Sicht der Dinge haben und ständig neue Projekte anstoßen. Forschung, Produktentwicklung, Marketing, Design, Kommunikation – am oberen Ende der Wertschöpfungskette sind am laufenden Band Originalität, Innovationsbereitschaft und Normabweichung gefragt: Es ist die Ankunft des Fordismus im Reich der Ideen. Und das nicht nur im Dienst. Auch in der Freizeit, als Konsument, ist der Kreative gefordert, indem er Designprodukte zu unkonventionellen Lifestyle-Arrangements gruppiert – und seine Modernität in der kunstvollen Nutzung der neuesten Apps unterstreicht: Hauptsache kreativ, originell, witzig.
Fast könnte man meinen, mit der Kunst sei die Kreativität, also die Fähigkeit, Neues hervorzubringen, zu einer Art Universaltherapeutikum avanciert, das alles Mögliche verspricht, nicht zuletzt Erfolg, Sinn und Selbstvervollkommnung. Die einschlägigen Buchtitel sprechen Bände: „Vom Spiel zur Kreativität“, „Die Befreiung der inneren Kraft“, „Die Potenziale des Gehirns entfalten“ – Kreativität, so die Botschaft, schlummert in jedem von uns. Es kommt nur darauf an, sie zu erwecken – und systematisch zu trainieren.
Kreatives Lesen - Bücher zum Thema
Andreas Reckwitz, Suhrkamp, 16,50 Euro
Gerald Hüther, Uli Hauser, Knaus, 19,99 Euro
Ernst Pöppel, Beatrice Wagner, Hanser, 18,99 Euro
Ulrich Bröckling, Suhrkamp, 13 Euro
Ludger Heidbrink, Peter Seele (Hg.), Campus, 19 Euro
Byung-Chul Han, Matthes & Seitz, 10 Euro
Alain Ehrenberg, Suhrkamp, 13 Euro
Robert Walser, Insel, 7 Euro
Denn Kreativität ist nicht nur ein Potenzial, sondern auch eine Norm: Der Mensch soll mit ihr nicht nur seine schöneren Möglichkeiten entdecken, sondern sie im Sinne einer Kompetenz fruchtbar machen. Kreativ sein heißt ständige Arbeit am eigenen Kreativitätspotenzial, ästhetische Aktivierung der Sinne, enthusiastische Steigerung der Produktivität. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen auf die schöpferische Mobilmachung mit Erschöpfungszuständen reagieren. Burn-out ist nicht zuletzt die natürliche Reaktion auf die Überforderung eines Ichs, das ständig auf der Höhe seiner kreativen Möglichkeiten steht.
Ästhetischer Kapitalismus
Der Soziologe Andreas Reckwitz sieht in der Befreiung zur Kreativität „neuartige Zwänge“ am Werk. Er stellt eine für „spätmoderne Zeiten“ typische „Dopplung von Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ, von subjektivem Begehren und sozialer Erwartung“ fest: „Man will kreativ sein und soll es sein.“ Dabei gehe es nicht nur um eine „rein technische Produktion von Innovationen“, sondern vor allem auch um „sinnliche und affektive Erregung“. Ein höchst merkwürdiger Vorgang, findet Reckwitz. Was einst in kulturellen Nischen beheimatet war, wird unter den Bedingungen des „ästhetischen Kapitalismus“ zum kulturellen Modell: Das romantische Originalgenie und seine modernen Nachfahren, die Bewohner von Bohème und Avantgarde, seien heute Leitbilder einer freien, schöpferischen Existenz.