Lebensarbeitszeitkonten Wir brauchen die Work-Life-Integration

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Wie das Zeitkonto funktioniert

Im sogenannten Flexi II-Gesetz  von 1998 (aktualisiert am 1. Januar 2009) wurden Lebensarbeitszeitkonten erstmals schriftlich festgehalten. Arbeitnehmer können demnach Geld oder Zeit auf einem Guthabenkonto ansparen: Weihnachtsgeld, ein Teil des Gehalts oder nicht genommener Urlaub und Überstunden werden angesammelt und entweder für ein Sabbatical, den früheren Ruhestand oder den Traum vom Ferrari angespart. Während Geld allerdings verzinst wird, gibt es die Zeit brutto für netto.

Wer zum Beispiel laut Arbeitsvertrag pro Woche 39 Stunden arbeitet und später gerne ein Jahr früher in Rente gehen möchte, muss dafür 2028 Überstunden ansammeln. Das kann dauern. „Wenn ich jemanden nehme, der drei Stunden wöchentlich auf sein Wertguthaben spart, ergibt das unter Berücksichtigung von Urlaub und Fehlzeiten 45 Wochen im Jahr. Dann sind für ein Jahr Freistellung 15 Jahre Ansparzeit nötig. Wenn ich vier Stunden wöchentlich anspare, dann brauche ich nur elf Jahre für ein Jahr Freistellung“, rechnete Judith Kerschbaumer, Verdi-Bereichsleiterin für Sozialpolitik, einmal vor. Der Haken: Falls der Mitarbeiter die Firma wechselt, kann der neue Arbeitgeber das Guthaben übernehmen, muss es aber nicht. Hier gibt es also Optimierungsbedarf.

Zeitkonten gibt's bislang nur für Überstunden

Das Zeitkonto an sich gibt es dennoch in so gut wie jedem Unternehmen – aber in der Regel nur für ein Jahr, wie es in einer Untersuchung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales heißt. „Die überwiegende Mehrzahl der in den Betrieben genutzten Arbeitszeitkonten sind Gleitzeit-,Überstunden- oder Flexikonten mit einem Ausgleichszeitraum von bis zu einem Jahr: Dabei dürfte es sich mehrheitlich um Konten handeln, die dem Ausgleich von Auslastungsschwankungen und/oder der flexiblen Gestaltung der werktäglichen und wöchentlichen Arbeitszeit dienen.“

In Deutschland gilt "9 to 3" statt 60-Stunden-Woche
Eine Hand steckt eine Karte in ein Arbeitszeiterfassungsgerät, eine so genannte Stechuhr. Quelle: dpa
Ein Mann telefoniert am Arbeitsplatz Quelle: dpa
Ein Zusatzschild eines Verkehrsschildes zeigt eine Familie mit Kinderwagen. Quelle: dpa
Eine Frau sitzt am 26.09.2007 mit ihrem Kind vor einem Laptop und telefoniert mit einem Handy. Quelle: dpa
Nachtschicht geht diese VW-Mitarbeiter durch das Tor 17 in das VW-Stammwerk in Wolfsburg. Quelle: dpa
Ein Kunde nimmt in Düsseldorf eine Broschüre zum Thema Kurzarbeit aus dem Regal. Quelle: dpa
Anteil der Zeitarbeiter in DeutschlandDer Anteil von Zeitarbeit in Deutschland ist zwar zurückgegangen, aber immer noch höher als in anderen europäischen Staaten. Der Gesamtanteil liegt bei rund drei Prozent, von den 15- bis 24-Jähringen sind 4,5 Prozent in Zeitarbeit beschäftigt. Nur in Frankreich gibt es noch mehr junge Menschen, die über eine Zeitarbeitsfirma den Einstieg ins Berufsleben versuchen. Quelle: Fotolia

„Echte“ Langzeitkonten, auf denen Mitarbeiter über ihr gesamtes Berufsleben hinweg Stunden ansammeln, werden dagegen nur von insgesamt zwei Prozent der Betriebe in Deutschland praktiziert, wie die Studie des Arbeitsministeriums zeigt. Und wie bei so vielem, was mit Flexibilisierung oder Neuerung zu tun hat, gilt auch hier: große Betriebe trauen sich, kleine Unternehmen nicht. Hinzu kommt: Langzeitkonten stehen in einem beträchtlichen Teil der Betriebe gar nicht allen Mitarbeitern offen. „60 Prozent der Betriebe, die über ein Langzeitkonto verfügen, schränken den Nutzerkreis ein“, heißt es in der Untersuchung. 

Es bedarf also einer gründlichen Überholung des Instruments. Trotzdem könnte dieses Krisen-Ruhestands-Überstunden-Tool helfen, damit Menschen nicht ihr Leben der Arbeit anpassen, sondern umgekehrt. Wer als Global Sales Manager um den Globus hechtet, aus dem Koffer lebt und 70 Stunden pro Woche für den Kunden da ist, sollte weder den Arbeitgeber wechseln müssen, noch als Loser gelten, wenn er nach drei oder fünf Jahren lieber einen Job im Heimatmarkt annehmen und normale Arbeitszeiten haben möchte. Ganz zu schweigen davon, dass dieser Global Sales Manager gut begründen müsste, warum er nun in die örtliche Filiale will. Stichwort: Überqualifiziert.

 

Aber nicht nur der Manager, auch der Büroangestellte oder der Handwerker haben Phasen, in denen Überstunden und Top-Leistungen überhaupt kein Problem sind und solche, in denen sie gerne im gleichen Betrieb eine ruhigere Kugel schieben würden. Aber wer geht schon zum Chef und sagt: Mir ist das grade alles zu viel, ich möchte weniger arbeiten? “In Deutschland heißt es dann schnell ‘der hat es nicht geschafft‘”, bestätigt Grosskopf. Downshifting ist hier ein Synonym für „zu wenig Biss“ beziehungsweise „den Mund zu voll genommen“. Dass die Interessen sich gewandelt haben und die Sturm-und-Drang-Zeit vorbei sein könnte, ist in der klassischen Karrierebiografie nicht vorgesehen.

Mit einem Zeitkonto könnte jeder Beschäftigte sowohl sich als auch dem Vorgesetzten beweisen, dass er die ruhige Kugel verdient hat. Alternativ müsste der nach Perfektion strebende Homo laborans seine Einstellung ändern. Da dürfte das Lebensarbeitszeitkonto der deutlich einfachere Weg sein.

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