Lebensmitte Neuanfang mit über 40

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Branchenwechsel gewagt

Von Kaffeeriechern, Fackeljungen und Milchmädchen
Der AufweckerUrsprünglich standen die Menschen morgens mit der Sonne auf und versorgten ihre Tiere, kümmerten sich um ihre Felder oder brachten ihre Waren auf den Markt. Mit der Industrialisierung kamen feste Arbeitszeiten, die sich allerdings nicht immer am Sonnenstand orientierten. Wer also pünktlich morgens um sechs in der Fabrik oder der Mühle antreten musste, brauchte einen Wecker. Bevor die aber erfunden wurden, übernahmen diese Aufgabe Menschen, die auf Bestellung zu einer bestimmten Uhrzeit mit einer langen Stange an die Fenster klopften oder Steine ans Fenster warfen. Wer die sogenannten "Knocker-ups" weckte, damit sie ihrem Beruf nachgehen konnten, ist hingegen nicht überliefert. Quelle: Fotolia
Nathan Harrington trägt die Olympische Fackel Quelle: AP
GaslaternenanzünderEin Job, der spätestens mit Entdeckung und Verbreitung elektrischen Lichts nicht mehr von Nöten war. Doch auch in den Zwanzigerjahren wurden in vielen Städten die Straßenlaternen ferngezündet. Das funktionierte allerdings nicht immer ganz reibungslos, sodass der Laternenanzünder durch die Stadt fuhr und dafür Sorge trug, dass auch dunkel gebliebene Lampen die Straße erhellten. Der Beruf ist heute komplett ausgestorben. Gleiches gilt für... Quelle: plainpicture/Millennium/Stefano
... das MilchmädchenDas Milchmädchen hatte die Aufgabe, Milch zu besorgen und diese dann auszuliefern. Jedoch erfuhr der Beruf vor allem Bekanntheit durch die sogenannte Milchmädchenrechnung. Diese könnte auf die Fabel "Die Milchfrau" von Johann Wilhelm Ludwig Gleim zurückgehen. Auf ihrem Weg zum Markt rechnete sich die Milchfrau aus, für was sie den Erlös ausgeben könnte und verschüttete vor lauter Freude die ganze Milch. Die Dame auf dem Bild ist übrigens die bayrische Milchkönigin des Jahres 2013 - Milch mädchen im ursprünglichen Sinn gibt es heute nicht mehr. Quelle: dpa
SchmuckeremitDie Berufsbezeichnung kennen Sie nicht? Kein Wunder, denn die Aufgabe des Schmuckeremiten lag darin, in einem Garten zu leben, diesen mit seiner Anwesenheit zu schmücken - aber auf keinen Fall mit jemandem zu reden. Das Berufsbild des schmückenden Einsiedlers hatte seine Glanzzeit in britischen Landschaftsgärten des 18. und 19. Jahrhunderts. Bis zu 700 britische Pfund ließ sich damit verdienen, vorausgesetzt man sah aus wie ein Einsiedler, beschränkte seine Körperpflege also auf ein Minimum. Heutzutage findet man "Schmuckeremiten" nicht mehr unbedingt in Gärten, sondern.... Quelle: dpa
... als Welcome-ModelGut aussehen, nicht viel reden und das Publikum mit seinem Aussehen unterhalten. Das dürften die Aufgaben eines "Welcome-Models", übrigens eine Wortschöpfung der WirtschaftsWoche-Online-Redaktion, bei Modeketten wie Abercrombie & Fitch sein. Das Model begrüßt die Gäste an der Tür und lässt auch gerne mal ein Foto mit sich machen. Im Gegensatz zum Schmuckeremit ist hier Körperpflege allerdings höchstes Gebot. Quelle: dpa
KaffeeriecherEine skurrile Aufgabe hatten feine Nasen im 17. Jahrhundert: Im Auftrag Friedrichs des Großen suchten sie in preußischen Gemeinden nach heimlichen Kaffeeröstern. Das war nämlich nur mit einer staatlichen Lizenz erlaubt, die man sich teuer erkaufen musste. Den Kaffeeriecher gibt es heute nicht mehr, doch längst haben andere Profis eine ähnlich Aufgabe übernommen... Quelle: dpa

Um als angehende Kunsthändlerin nicht mit Hurra ins finanzielle Verderben zu laufen, macht sie sich auf Messen ein Bild von den Portfolios und Ständen anderer Händler, sondiert Marktpreise, lässt ihre Sammlung von Museumsdirektoren und Vertretern führender Auktionshäuser begutachten, die ihr ein „gutes Auge für die Kunst“ attestieren. Als „klassische Due Diligence“ beschreibt Krümmer ihren Kunstmarktstart, „dafür war ich zu lange rational denkende Kauffrau“.

Als ihr klar ist, dass sie auch kommerziell auf die richtigen Stücke gesetzt hat, wagt sie den Branchenwechsel. Lehnt Jobangebote aus der Finanzwelt ab, gründet Krümmer Fine Art. Und bereitet ihren ersten Messeauftritt vor – auf der Cologne Fine Art im November 2010. Zum Verkauf stehen auch einige ihrer erklärten Lieblingsstücke. „Wenn mir das Herz blutet, blutet es eben, ich wollte mich ja etablieren“, sagt Krümmer. „Mein erster Auftritt musste ja sitzen.“

20 Minuten nach Start ist das erste Bild verkauft – an einen anderen Händler. „Offenbar“, so Krümmers Lehre, „war der Preis zu niedrig.“

Deutschlands ältester Schreinerlehrling

Krümmer macht sich mit ihrem exquisiten Angebot schnell einen Namen in der Branche; Galerien, Sammler, Museen haben sie in kürzester Zeit als Partnerin auf Augenhöhe akzeptiert. Ab Mitte Januar 2014 wird die 57-Jährige in der Etage unter ihrer Wohnung auf 150 Quadratmetern Schau- und Verkaufsräume eröffnen. „Die Zeit dafür ist jetzt reif“, sagt Krümmer und lässt ihren Blick über eine Skulptur schweifen, die auf ihrem Wohnzimmertisch steht – „Die tanzende Alte“ von Ernst Barlach aus dem Jahr 1920. „Wenn ich mal so alt bin wie sie und immer noch so fröhlich“, sagt Krümmer, „dann habe ich es richtig gemacht.“

Eine Einstellung, die auch dem Credo von Karsten Deege sehr nahe kommt: „Warum soll ich einen Beruf, in dem ich nicht alt werden will, nicht gleich an den Nagel hängen?“

Diese Erkenntnis hat er kurz vor seinem 40. Geburtstag – da hat er knapp zwei Jahrzehnte in der Versicherungsbranche hinter sich, vom klassischen Außendienstler bis zur Führungskraft mit Schulungsaufgaben. War jahrelang von Termin zu Termin durch ganz Deutschland gehetzt, hatte 16 Punkte in Flensburg gesammelt. Bis er keinen Sinn mehr darin sah, Kunden und Kollegen hinterherzujagen, „um einen Lebensstandard aufrecht zu erhalten, der einem von der Werbung als nötig vorgegaukelt wird“: mein Haus, mein Pferd, mein Auto. „Wer reich werden will und die Gabe hat, Menschen ohne Skrupel zu überzeugen, ist in diesem Gewerbe gut aufgehoben“, sagt Deege. „Mich hat die Dominanz des Geldes kaputt gemacht.“

Also fängt er noch mal ganz von vorn an – als Deutschlands ältester Schreinerlehrling, mit 275 Euro monatlich. „Der finanzielle Rückschritt war mir egal“, sagt Deege. „Ich habe schließlich einen hehren Anspruch an mich selbst.“

Wie sich die Beschäftigungsquote für 50- bis 64-Jährige entwickelt hat

Schicker Dienstwagen

Das zeigt sich schon als Jugendlicher: Deege, Jahrgang 1970, aufgewachsen im Ostberliner Stadtteil Friedrichshain, verzichtet auf Abitur und Studium, weil er nicht drei Jahre zur Armee gehen will. Stattdessen lernt er in Magdeburg Binnenschiffer, „in der Hoffnung, dadurch in den Westen zu kommen“. Als er 19 ist, fällt die Mauer, Deege hat als Segellehrer ein annehmbares Auskommen. Unter seinen Schülern ist ein Versicherungsmakler, der ihn ermuntert, in seine Branche einzusteigen. Deege holt die Fachhochschulreife für Wirtschaft nach und fängt als Außendienstmitarbeiter bei der Arag an. Nach der „Schnellbesohlung“, wie Deege es nennt – „Kulturstrick um den Hals, Tasche in die Hand, Tritt in den Hintern“ – geht es zum Klinkenputzen an den Prenzlauer Berg. Deege quatscht sich in die Wohnungen potenzieller Kunden, verkauft ihnen Policen aller Art. „Damals habe ich gelernt, wie man Menschen um den Finger wickelt.“

Nach fünf Jahren wechselt er zum Branchenprimus Allianz, macht dort eine Ausbildung zum Versicherungsfachwirt, wird Führungskraft, mit neuem Laptop und teurem Handy, kurvt mit schickem Dienstwagen über den Ku’damm. Sein oberstes Ziel, ein sechsstelliges Jahresgehalt, erreicht er ohne Anstrengung, parallel zum Job studiert er an der Deutschen Versicherungsakademie. Mit Anfang 30 lebt er mit Freundin und Tochter in einer schicken Vier-Zimmer-Wohnung am Prenzlauer Berg, in der Garage stehen Auto und Motorrad, am Flussufer ein Segelboot. „Wir lebten wie die Könige“, sagt Deege. Und spürt doch, wie er seinen Lebensstil zunehmend infrage stellt. Erlebt, wie Kollegen in der Mittagspause zusammenklappen, weil sie der Jagd nach immer höheren Umsatz- und Gewinnzielen nicht mehr standhalten. „Es zählte nur noch Rendite, Rendite, Rendite“, erinnert sich Deege. „Das wollte ich nicht mehr mitmachen, ich musste weg.“

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