Jule Körber steht an Gleis 6 und hofft, dass ihr Trick wieder funktioniert. Wenn gleich der Regionalexpress Richtung Minden in den Bahnhof rumpelt, entscheidet sich binnen Sekunden, wer sitzen darf und wer stehen muss. Kurz vor halb acht, noch bevor der rote Doppeldecker zum Stehen kommt, schleicht Körber ans hintere Ende des von ihr gewählten Wagens. Als die graue Doppeltür aufgeht, lauert sie schon an der äußeren Seite. „Dort steigen weniger Menschen aus“, sagt sie. Und während innen noch die Massen aus dem Waggon auf den Bahnsteig quellen, hat sie längst ihren Platz ergattert.
Körber wohnt in Essen und arbeitet in Gütersloh. Jeden Morgen und jeden Abend fährt sie 130 Kilometer mit dem Regionalexpress und durchquert dabei fast das gesamte Ruhrgebiet. Mit ihrer Pendelstrecke käme sie in einem Jahr anderthalbmal um die Erde.
Die 30-Jährige arbeitet als Texterin für ein Kundenmagazin der Bertelsmann-Tochter Arvato. Ende 2012 bekam sie die Zusage für den Job. Doch zur Freude über die neue Stelle kamen Fragen: Was wird aus meiner Essener WG und meinem Freund? Was mache ich abends allein in Ostwestfalen? Halte ich es aus, jeden Tag drei Stunden Bahn zu fahren? Und was sagen Chefs und Kollegen, wenn ich nicht nach Gütersloh ziehen möchte?
Körbers Antwort: Sie pendelt. Seit Anfang des Jahres klingelt der Wecker morgens um 6 Uhr, geduscht hat sie schon am Abend vorher. Obwohl der Weg zum Bahnhof nur fünf Minuten dauert, verlässt sie kurz nach sieben das Haus – „ich habe immer Angst, zu spät zu kommen“. Auf der Fahrt liest Körber – morgens Zeitung, abends Bücher. An die Arbeit denkt sie nicht, versucht, die Fahrzeit zur Freizeit zu machen. „Nur Schulklassen sind nervig“, sagt sie. „Da kann man nicht entspannen.“
Zurück in Essen ist sie abends nicht vor 20 Uhr. Sie setzt sich noch kurz zu ihren Mitbewohnern, kocht mit ihrem Freund, geht duschen, fällt ins Bett. Zeit für Sport, Kino, Freunde bleibt da kaum. Körbers Fazit nach neun Monaten Pendeln: „Wohnte ich allein, wäre ich schon längst umgezogen.“
226 Kilometer einfach
Mit Auto, S-Bahn oder Regionalbahn jeden Tag ein paar Kilometer zurückzulegen, um zum Job zu kommen – das tun Millionen Deutsche seit eh und je. Neu ist: Die Strecken, die sie dafür zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zurücklegen, werden immer länger, oft sind es mehrere Hundert Kilometer. Einige nehmen die Tortur einmal pro Woche auf sich, andere gar täglich. Fragen sich dabei immer wieder: Kommt mein Zug pünktlich? Stehe ich wieder im Stau? Komme ich am Flughafen schnell genug durch die Sicherheitskontrolle?
Die Pendler von heute, sie haben Familie in Hamburg und arbeiten in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg. Sie leben in Altbauwohnungen in Berlin-Mitte und verdienen ihren Lebensunterhalt in modernen Großraumbüros in Niedersachsen. Leben unter der Woche in einem Mini-Apartment in der Nähe des Arbeitgebers und sehen ihre Familie nur am Wochenende. Allein 400 VW-Mitarbeiter reisen täglich aus der Hauptstadt ins 226 Kilometer entfernte Wolfsburg, rund 160 Pendler legen die Strecke in die entgegengesetzte Richtung zurück.
Tag für Tag und Wochenende für Wochenende
Ob Tag für Tag oder Wochenende für Wochenende, ob mit Auto, Flugzeug oder Zug: Andere Lebensformen, Billigflüge, neue ICE-Rennstrecken und ein dichtes Autobahnnetz ohne Maut und Tempolimit, die zunehmende Verdichtung der Arbeitswelt und die Hoffnung auf Karriere haben aus unserem Land eine Pendler-Republik gemacht.
Mit Milliarden subventioniert
Allein die Zahl der Bahncard-100-Nutzer, die gegen eine jährliche Pauschale für 4090 Euro in der zweiten und knapp 7000 Euro in der ersten Klasse unbegrenzt mit jedem beliebigen Zug durch die Republik fahren können, hat sich seit 2003 vervierfacht. Laut Bundesfinanzministerium macht rund eine halbe Million Arbeitnehmer bei der Steuer mehr als 100 Kilometer zwischen Wohnung und Arbeitsstätte geltend. Und es könnten bald noch mehr werden: Fast 60 Prozent der deutschen Fach- und Führungskräfte würden für ihren Traumjob mehr als eine Stunde Fahrzeit in Kauf nehmen, ermittelte das Jobportal Stepstone.
Auch der Staat fördert die Reiserei, verzichtet über die Pendler-Pauschale jedes Jahr auf rund 4,5 Milliarden Euro Steuern.
Viel Geld – aber wofür? Pendeln ist riskant. Ein Stau auf der Autobahn, ein verpasster Anschlusszug, und schon gerät die ausgeklügelte Zeitrechnung ins Wanken. „Als Arbeitnehmer müssen Sie dafür sorgen, dass Sie pünktlich zum Job kommen. Verspätungen sind kein Kavaliersdelikt“, warnt der Hamburger Arbeitsrechtler Christian Oberwetter.
Steuertipps für Pendler
Tagespendler können für jeden Kilometer der einfachen Strecke ihres Arbeitswegs 30 Cent absetzen. Wer 50 Kilometer von seinem Job entfernt lebt und 200 Tage im Jahr arbeitet, kann für 10 000 Kilometer 3000 Euro Werbungskosten geltend machen. Bei einem Spitzensteuersatz von 35 Prozent spart man 1050 Euro. Wer mehr als 4500 Euro geltend macht, muss dem Amt meist Tankbelege, Reparaturrechnungen oder TÜV-Berichte vorlegen, sagt der Hamburger Steuerberater Jörg Lemmermann.
Bis 31. Dezember 2013 gilt: Wer in einer anderen Stadt arbeitet und deshalb eine Zweitwohnung hat, darf Mietkosten für bis zu 60 Quadratmeter von der Steuer absetzen. Ab 2014 können für eine Zweitwohnung bis zu 1000 Euro Kosten geltend gemacht werden. In den ersten drei Monaten können Wochenendpendler auch Kosten für Lebensmittel absetzen, außerdem Aufwendungen für Möbel, Bettwäsche, Maklergebühren und eine Heimfahrt pro Woche.
Unter dem Stellwerk-Chaos am Mainzer Hauptbahnhof, das im August wochenlang für Aufregung sorgte, litten vor allem Pendler. Als das Elbe-Hochwasser im Juni im halben Land den Verkehr lahmlegte, blieb vielen nur der Umzug ins Hotel – oder eine von der Stadt Wolfsburg bereitgestellte Kaserne. Wegen eines kaputten Bahndamms verliert man von Berlin nach Wolfsburg noch immer fast drei Stunden am Tag.
„Leben Sie so dicht wie möglich an Ihrem Arbeitsplatz“, empfiehlt deshalb Kienbaum-Personalberater Matthias Busold. Wenn der Headhunter mit Kandidaten über Führungspositionen spricht, zählt die Frage nach dem Wohnsitz zu den wichtigsten. Erst recht, seit die Bahn mit ihren Hochgeschwindigkeitstrassen lockt: Wenn alles glattgeht, schafft der ICE die 280 Kilometer von Berlin nach Hamburg in einer Stunde und 42 Minuten. Köln–Frankfurt (189 Kilometer) klappt im Schnitt in 75 Minuten, Hannover–Kassel mit Ausstieg ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe (168 Kilometer) in 55 Minuten. Wer kommt da nicht in Versuchung, sich eine weite Anfahrt kurzzurechnen.
„Viele reden sich ein, sie könnten auch im Zug arbeiten. Aber wenn der Zug voll ist, wird das schwierig“, sagt Personalberater Busold. „Mit der Zeit geht Ihnen die Pendelei gewaltig auf den Keks. Und nach spätestens zwei Jahren belastet der Stress die Arbeitsleistung.“
Der typische Pendler
Wie stark Pendler unter Strom stehen, hat bereits 2004 der britische Stressforscher David Lewis untersucht. Sein Ergebnis ist alarmierend: Droht ein Pendler seinen Zug zu verpassen, kann sein Stresspegel stärker steigen als der von Kampfpiloten im Einsatz. Die Gesundheit leidet mit steigender Entfernung. Laut einer von der AOK veröffentlichten Studie fehlen Arbeitnehmer umso häufiger wegen psychischer Erkrankungen, je weiter sie vom Arbeitsplatz weg wohnen.
Der typische Pendler ist männlich, älter als 35, hat Frau und Kinder. Doch die sind im Unterschied zu früher nicht mehr bereit, bedingungslos hinterherzuziehen. Auch, weil die Partnerin heute oft selber Karriere macht. „Männer sind lieber auf Achse“, sagt Norbert Schneider, Leiter des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Sie verließen nur ungern ihre gewohnte Umgebung. Andere pendeln, weil ihr Büro umgezogen ist oder weil sie Angst haben, keinen anderen Job zu finden. „Manche leiden Jahrzehnte unter dieser Situation, ohne etwas daran zu ändern“, sagt Soziologe Schneider. Wochenendpendler wiederum bildeten sich sogar ein, mit der Reiserei ihre Karriere zu befördern. Ihr Kalkül: Werktags gilt die volle Konzentration dem Beruf, das Wochenende gehört der Familie. „Der typische Wochenendpendler ist hoch qualifiziert und gebildet“, sagt Schneider. Eine Zweitwohnung oder ständige Hotelübernachtungen können sich oft nur Top-Verdiener leisten.
Auf der Überholspur
So wie Peter Körner. Der 49-Jährige hat jahrzehntelang ein Leben auf der Überholspur geführt: Nach seinem Studium in Kiel, Informatik und Wirtschaftswissenschaft, und ersten Jobs bei TUI-Vorgänger Preussag in Hannover und dem genossenschaftlichen Berater Genoconsult bei Frankfurt holt ihn die Telekom als Personalentwickler. Schon in den Neunzigerjahren ist Körner berufsbedingt ständig auf Achse, den Kontakt zu seiner Frau hält er vor allem übers Handy. „Unter 600 Mark im Monat“, erinnert sich Körner, „hatte ich selten auf der Rechnung.“
Die fünf Großstädte mit dem höchsten Anteil an Pendlern
Offenbach am Main
Ludwigshafen
Mülheim an der Ruhr
Wolfsburg
Frankfurt am Main
Bis in den Zirkel der 70 wichtigsten Konzernmanager steigt Körner auf, verantwortet die gesamte Personalentwicklung seines Arbeitgebers. Als er 2006 von Darmstadt wieder in die Zentrale nach Bonn beordert wird, bleibt seine Frau mit den beiden Kindern in Hessen. Die Berufsschullehrerin hatte sich gerade erst nach Darmstadt versetzen lassen. Also nimmt sich Körner eine Zweitwohnung am Rhein und pendelt jedes Wochenende mit dem Auto über die A3. Rund 200 Kilometer, sieben Jahre lang. Allein für die Heimfahrt am Freitagabend braucht Körner oft bis zu vier Stunden. „Die Raststätten konnte ich irgendwann nicht mehr sehen“, erinnert er sich. „Wenn mir einer erzählt, dass Pendeln nicht stressig ist, lache ich mich schlapp.“
Zu Hause bei der Familie bleiben ihm oft nur 36 Stunden: In dieser Zeit geht er Sprudel holen, tauscht verschwitzte Hemden und Anzüge in der Reinigung gegen frische und begleitet seinen Sohn zum Fußball. Ab Sonntagmittag verschwindet der Manager in seinem Arbeitszimmer und bereitet die neue Woche vor. Körner steigt so rasant auf, dass er kaum merkt, was alles auf der Strecke bleibt. Seine alten Freunde aus Kiel trifft er höchstens einmal im Jahr. „Je höher ich kam, desto mehr war ich fremdbestimmt“, sagt er heute.
Zerbrochene Beziehungen
Immer öfter erfährt er von Kollegen, deren Beziehungen an der Pendelei zerbrechen. Dass in seiner Bonner Zweitwohnung niemand auf ihn wartet, bedrückt Körner immer mehr. Ihm wird klar, dass er Sohn und Tochter in all den Jahren nicht richtig aufwachsen sieht – und er verlässt die Telekom. Für seinen neuen Arbeitgeber, eine Unternehmensberatung in Frankfurt, ist er zwar auch viel unterwegs – aber jeden Abend zu Hause bei der Familie. „Neulich habe ich mit meinen Kindern zum ersten Mal überlegt, was wir zum Straßenfest beitragen.“
Und das ist ihm mehr wert als die Unterstützung, die sein ehemaliger Arbeitgeber ihm und anderen Pendlern zukommen lässt: Die Telekom erlaubt Mitarbeitern flexible Arbeitszeiten und Heimarbeit, im Intranet des Konzerns können sich Pendler zu Fahrgemeinschaften verabreden, manche bekommen gar eine Bahncard auf Firmenkosten.
Materielle und organisatorische Unterstützung für Pendler – bei großen Unternehmen offenbar keine Seltenheit, wie eine Umfrage der WirtschaftsWoche unter den 30 größten Dax-Konzernen zeigt. Fast 90 Prozent erlauben Angestellten, an manchen Tagen zu Hause zu arbeiten. In zwei von drei Konzernen gibt es Pendler-Netzwerke für Fahrgemeinschaften, Firmen-Bahncards oder Jobtickets. Und dennoch verschließen die Unternehmen vor der Brisanz des Themas letztlich die Augen. Auf die Frage, wie viele Mitarbeiter zum Job wohl mehr als 50 Kilometer zurücklegen, antwortete überhaupt nur jedes vierte Unternehmen – und dann nur mit groben Schätzungen. Die Allianz mutmaßt, dass fast jeder dritte Mitarbeiter in der Münchner Zentrale täglich aus der Ferne anreist. BMW schätzt den Anteil auf 25 Prozent. Die Deutsche Börse, BASF und Rückversicherer Munich Re rechnen an ihren Hauptsitzen mit rund zehn Prozent. 18 Dax-Unternehmen ist der Wohnort ihrer Mitarbeiter egal, zwei Konzerne bevorzugten das Domizil am Arbeitsort.
Die fünf Branchen mit dem höchsten Anteil an Pendlern
Industrieller Anlagenbau
Verarbeitende Industrie
Chemie-, Pharma- und Bio-Industrie
Technikbranche
Agrarwirtschaft
„Pendeln muss nicht automatisch ein Karrierekiller sein. Es kann helfen, Privatleben und Beruf unter einen Hut zu bringen“, heißt es bei Infineon. „Es kann aber für Mitarbeiter auch zur Belastung werden.“
Die meisten anderen von der WirtschaftsWoche befragten Unternehmen blocken Nachfragen zum Thema Pendeln ab. Zu groß ist offenbar die Angst, in Zeiten knapper Fachkräfte in ein schlechtes Licht zu geraten oder sich juristisch angreifbar zu machen. Laut Arbeitsrecht darf ein Unternehmen seinen Mitarbeitern den Wohnort nämlich nicht vorschreiben, sagt der Bremer Anwalt Alexander von Saenger. Es sei denn, die Nähe zum Arbeitsplatz ist wie etwa bei Ärzten von unmittelbarer Bedeutung für den Job.
Karrierekiller Pendeln
„Die meisten Unternehmen wissen nicht, welche ihrer Mitarbeiter fernpendeln“, sagt Soziologe Schneider. „Viele Pendler verschweigen ihre Situation auch bewusst. Sie fürchten, als weniger leistungsfähig zu gelten.“ Der Frankfurter Personalberater Michael Faller von der Frankfurter Unternehmensberatung Baumann AG hält das für alarmierend: „Die Arbeitgeber sind nicht ausreichend sensibilisiert. Sie erwarten Mobilität, wissen aber nicht, wie ihre Mitarbeiter das bewerkstelligen.“
Regional verwurzeln
Ein Problem gerade auch im Mittelstand, vor allem unter Führungskräften. Denn Pendler leiden nicht nur unter dem höllischen Stress. Sie senden auch negative Signale an Kollegen und Mitarbeiter. Die entwickeln nämlich ein gutes Gespür dafür, wo ihr Chef am Samstagmittag ist. „Wenn Sie im Schwarzwald arbeiten, aber in jeder freien Minute nach Hamburg düsen, drücken Sie damit aus: Bei euch gefällt es mir nicht“, sagt Kienbaum-Personalberater Busold.
Viele seiner Kandidaten wollen erst mal pendeln, solange sie in der Probezeit sind. Dabei wäre es umgekehrt viel sinnvoller, findet der Headhunter. „Am Anfang müssen Sie sich in der Firma verwurzeln. Nach drei Jahren sind die Meriten verdient – dann können Sie am Wochenende auch mal verschwinden.“
Gerade Familienunternehmer legen Wert darauf, dass sich ihre Chefs mit der Region identifizieren. Mitunter scheitern Kandidaten auf der Zielgeraden, nur weil sie nicht bereit sind, umzuziehen.
So wie bei einem Maschinenbauzulieferer aus Ostwestfalen. Der Inhaber ist im Ort verwurzelt, fördert Kindergarten und Kultur. Nach mehr als 30 Jahren in der Firma sucht er einen Nachfolger. Bald begeistert ihn ein aufstrebender Manager aus Düsseldorf, mit perfektem Lebenslauf und tollen Ideen. Bei einem gemeinsamen Abendessen mit den Ehefrauen soll feierlich der Vertrag unterschrieben werden. Doch am festlich gedeckten Tisch kippt plötzlich die Stimmung: Die Gattin des Kandidaten will ihre Zahnarztpraxis nicht aufgeben, ein Umzug von der Landeshauptstadt in die Provinz kommt für sie nicht infrage. „Nach Ostwestfalen ziehen wir nicht!“, raunzt sie den Patriarchen an. Die Übergabe platzt.
So wird Pendeln erträglicher
Regeln Sie den Umgang mit Verspätungen, fragen Sie nach Heimarbeit und Gleitzeit.
Klären Sie familiäre Probleme am Feierabend. Genießen Sie das Wochenende.
Nicht am Wochenende nachholen, was unter der Woche wegen des Pendelns liegen geblieben ist. Erholen Sie sich lieber.
Schalten Sie ab – vor allem Laptop und Smartphone. Hören Sie Musik.
Dass es auch anders laufen kann, zeigt Michael Dittrich. Der Hamburger passt auf den ersten Blick so gar nicht nach Muggensturm, einem 6000-Seelen-Dorf im badischen Landkreis Rastatt. Vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren hat der 51-Jährige dort seinen Vorstandsvertrag beim europaweit tätigen Reifenhändler Ihle AG unterschrieben. Um mit der Region warm zu werden, blieb er anfangs jedes vierte Wochenende in Baden. „Meine Frau ist auch Unternehmerin“, sagt Dittrich, „sie hatte dafür Verständnis.“
Der Manager aus dem hohen Norden hat sich längst eingelebt im Südwesten, spielt jeden Donnerstag Saxofon im Musikverein einer Nachbargemeinde. „Wenn die anderen badisch sprechen, verstehe ich zwar noch immer kein Wort“, sagt er. „Aber es macht Spaß. Manchmal trete ich sogar bei Konzerten auf.“
Pendeln und Karriere machen ohne Stress?
An Dittrichs Arbeitsplatz riecht es nach Gummi statt nach Nordseeluft. Neben seinem Schreibtisch hängt ein Bild von der Hamburger Speicherstadt. Mehr als 600 Kilometer trennen ihn davon. Wenn alles glattgeht, schafft er es in drei Stunden. Meistens aber dauert es länger, so wie heute. Weil er spontan schon am Donnerstag nach Hause zurückkehren möchte, gibt es keinen Flug mehr vom nahen Baden-Baden. Also muss er ins 90 Kilometer entfernte Stuttgart fahren. Katastrophe? Nicht für Dittrich. „Als Air Berlin noch die Strecke bedient hat, wurden wir ein paar Mal in Busse verfrachtet und dorthin umgeleitet. Kommt halt mal vor.“
Nach zwei Stunden mit dem Hamburger hat man das Gefühl, dass es doch gehen kann: Pendeln und Karriere machen ohne Stress. Man hat aber auch eine Ahnung, was Psychologen wie Sabine Siegl meinen: „Nicht jeder ist fürs Pendeln geschaffen“, sagt sie. „Pendeln kann krank machen.“
Ihr Tipp: Auf keinen Fall sollten Pendler versuchen, am Wochenende alles nachzuholen, was von Montag bis Freitag auf der Strecke geblieben ist. „Entspannen Sie sich, und kommen Sie zur Ruhe“, rät die Psychologin. Damit das gelingt, muss aber auch der Partner mitspielen. „Wenn zu Hause jemand wartet, der sich nach Aktivität und Unternehmungen sehnt, drohen Konflikte“, warnt Bevölkerungsforscher Norbert Schneider.
Sabine Siegl empfiehlt Pendlern deshalb, schon auf den Fahrten abzuschalten und die Gedanken schweifen zu lassen. „Nutzen Sie die Zeit nicht zum Arbeiten, sondern um Abstand zum Tag zu gewinnen.“ Ihr Tipp: Musikhören und aus dem Fenster schauen statt telefonieren und auf den Bildschirm starren. Oder einfach nur die Mitreisenden beobachten.
Jule Körber kennt ihre Mitfahrer im Regionalexpress nach Gütersloh inzwischen ganz gut. Die Anzugträger fahren zu den vielen kleinen Firmen auf dem Land. Die Jura-Studenten sind auf dem Weg zur Uni nach Bielefeld. Die Mädchengruppe, die immer so laut lacht, fährt noch eine Station weiter zur Friseurausbildung an die Berufsschule.
Anfangs hatte Körber noch große Zweifel, ob sie wirklich pendeln soll. Gerade wenn der Zug wieder durch Orte wie Neubeckum oder Oelde schlich. „Man sieht echt nicht ein, wieso der Zug hier halten muss“, sagt Körber. Noch in der Probezeit merkt sie: Der Großteil ihrer Kollegen teilt ihr Schicksal. „Die haben auch Verständnis, wenn der Zug mal zu spät kommt.“
Kurz hinter Rheda-Wiedenbrück, die Sprechanlage knackst. „Verehrte Reisende, die Weiterfahrt verzögert sich um wenige Minuten, wir werden von einem Fernverkehrszug überholt“, meldet eine knarzende Stimme. Körber zuckt mit den Schultern. „Das passiert öfter“, sagt sie. „Dafür kann man dann auch mal in den ICE umsteigen, wenn der Regionalexpress ausfällt.“
Ein schwacher Trost, irgendwie weiß Körber das wohl selbst. Wie lange sie sich die täglichen Reisen noch antut? „Keine Ahnung“, sagt sie. Nur eins weiß sie genau: „Familie haben und pendeln – das kann ich mir nicht vorstellen.“