WirtschaftsWoche: Herr Würzburger, soeben ist Ihr Buch „Die Agilitätsfalle“ erschienen. Agilität steht für flexibles Reagieren auf unvorhergesehene Ereignisse und neue Anforderungen. Was ist daran so schlecht?
Thomas Würzburger: Schlecht daran ist der Hype, der daraus gemacht wurde: Agilität als Wundermittel für die Herausforderungen der sogenannten neuen VUCA-Arbeitswelt: V für Volatilität (Flüchtigkeit), U für Uncertainty (Unsicherheit), C für Complexity (Komplexität) und A für Ambiguity (Mehrdeutigkeit).
Das Heuchlerische daran ist ja, dass insbesondere Unternehmensberater und Methodencoachs, aber natürlich auch die Unternehmen selbst, mit Schlagwörtern wie New Work suggerieren, dass die agile Arbeitsweise ungeheuren Spaß machen soll, weil es sich um eine Arbeit auf Augenhöhe und ohne Hierarchien handelt.
Es geht bei New Work Ihrer Meinung nach also nicht um Teamgeist und Motivation?
Man sollte sich mal überlegen, woher „agiles Arbeiten“ kommt und was das Ganze überhaupt soll. Schließlich ist diese Bewegung ja nicht gerade aus ethischen Gründen entstanden, sondern aus einer rein kapitalistischen Überzeugung: Talcott Parsons, der bekannte US-Soziologe, war der Wortschöpfer von Agilität – und diese ist in den 1950er Jahren aus dem Gedanken geboren, wie Wirtschaftssysteme in den USA adaptiv gestaltet werden können, damit sie in einer sich ständig wandelnden Umwelt erfolgreich weiter bestehen können.

Agilität ist ja nicht erst mit der Digitalisierung aufgekommen, sondern durch projektbezogenes Arbeiten und die Entgrenzung von Arbeit: Immer mehr Leiharbeit und befristete Anstellungen – Sie wissen ja heute in Unternehmen nicht mehr, wer fest angestellt ist und wer nicht.
Der flexible Mensch als reines Humankapital?
Was bis heute von Parsons' Gedanken bleibt, ist im Kern und in letzter Konsequenz eine strikte Kundenfokussierung bei maximaler Effizienz! Wenn Unternehmen Agilität zu Ende denken, dann müssen sie, um in einer dynamischen Welt wettbewerbsfähig zu sein, mit sich immer wieder neu organisierenden Teams arbeiten – in denen nur die Besten und Geeignetsten, also Anpassungsfähigsten, bleiben können, um den Kundenwünschen von morgen gerecht zu werden.
Verstehen Sie mich richtig, ich bin ja kein Kommunist, aber Agilität in letzter Konsequenz zu Ende gedacht, ist nichts anderes als turbokapitalistisches Gedankengut und New Work eine neue Form der real stattfindenden Bestenauslese.
Neun Agilitätsfallen
Agilität total kann es nicht geben, sie ist weder für jeden Menschen noch für jeden Organisationsbereich geeignet. In seinem Buch „Die Agilitätsfalle“ beschreibt Thomas Würzburger den Hype und die größten Fehlannahmen.
Nicht jeder Mitarbeiter und auch nicht jede Führungskraft eines Unternehmens ist dafür geschaffen, selbstorganisiert zu arbeiten, sich immer wieder auf neue Teammitglieder einzulassen und regelmäßig Entscheidungen zu treffen. Für viele ist es einfach zu anstrengend, sich einerseits eigenverantwortlich fachlich wie persönlich weiterzuentwickeln und sich andererseits bedingungslos neuen Kunden und Erfordernissen anzupassen.
Trotz aller Agilität bleiben Hierarchien bestehen. Zum einen gibt keine Führungskraft freiwillig ihre Macht und Privilegien ab, zum anderen muss letztendlich jemand verantwortlich sein, auch im juristischen Sinne (Haftbarkeiten). Das Einzige, was sich geändert hat, sind die Insignien der Macht: Firmenwagen, Büro mit Panoramablick und handgenähte Schuhe sind durch Sneaker, cooles Auftreten und digitale Tools ersetzt.
Total agil funktioniert nicht: Erst eine stabile Grundorganisation ermöglicht es Unternehmen, in den Bereichen schnell und flexibel zu reagieren, in denen es auch notwendig ist. Das gilt nicht nur für die Organisationsstruktur, sondern auch für die Unternehmenskultur und Psyche der Belegschaft: Radikale Veränderungen führen in der Regel zu Verunsicherungen, die einen Schaden anrichten, der monetär kaum zu beziffern ist.
Jüngere Generationen sind in der Regel agiler als ältere; gehen aber auch schneller, wenn ihnen etwas nicht passt. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch von den Unternehmen so gewollt. Allerdings kommt es auch zu einem Verlust an Lösungsansätzen und Denkanstößen, da die jungen Talente nach dem Prinzip „Love it or leave it“ handeln – und der Zwischenschritt „Change it“ dann wohl bald mit den ausscheidenden Generationen verloren geht.
Teamarbeit birgt immer auch Konfliktpotenzial. Auch Mitarbeiter mit einem „agilen Mindset“ und agiler Arbeitsweise kommen nicht um zwischenmenschliche Spannungen herum. Sich die Arbeit von Tag zu Tag neu zu organisieren ist das eine. Einen Konflikt „selbstorganisierend“ zwischen den betroffenen Teammitgliedern zu behandeln, ist ab einem gewissen Eskalationsgrad aber nicht mehr möglich.
Führungskräfte sind ähnlich überfordert mit sich selbst organisierenden Teams wie so manches Teammitglied – sie wissen oft nicht, wie und warum sie überhaupt noch führen sollen. Der Chef in der Stammorganisation wirkt oft abgeschnitten von Kunden und anderen Gruppen, mit denen das Team nun direkt im Kontakt ist. Kontrolle als ureigene Führungsaufgabe wird zur bloßen Vertrauensaufgabe degradiert.
Mit der Abschaffung bestehender Hierarchien, Zuständigkeiten und Prozesse ist auch der psychische Krankenstand nachweislich gestiegen. Denn das waren die Strukturen, die lange Halt und Schutz gaben. Der Mensch ist eben keine Arbeitsmaschine, kein „Human Doing“, sondern ein „Human Being“, wie es Samuel Koch ausdrückte. Wir haben Stärken und Schwächen, Gefühle und Bedürfnisse.
Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht das Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Teams mit gemeinsamen Ritualen können dem gerecht werden. Aber dafür benötigen sie Zeit. Teamleiter können zwar auch mit agilen Methoden Rituale und Austausch schaffen. Aber oft degradieren sie Teammitglieder zu schnellen „Lieferanten“. Viele haben ihre Rolle der neuen, ermöglichenden Führungskraft auch noch nicht gefunden.
Wenn die Verantwortung des Einzelnen steigt und die Anweisungen und die Kontrolle durch Vorgesetzte verschwinden, entsteht ein Vakuum, das nur mit Eigenverantwortung gefüllt werden kann. Dazu gehört auch das Verantwortungsgefühl dem Unternehmen gegenüber. Das aber setzt die persönliche Reife eines jeden Einzelnen voraus. Aber noch lange nicht jeder Arbeitnehmer bringt diese mit.
Wie sonst sollen Unternehmen dann in einem dynamischen Umfeld wettbewerbsfähig bleiben?
Eine agile Belegschaft ist ein möglicher Zugang zu diesen sich ständig wandelnden Anforderungen – wir brauchen anpassungsfähige Mitarbeiter und auch anpassungsfähige Führungskräfte. In einer digitalen Welt mit Robotern und künstlicher Intelligenz müssen wir heute in Teams mit höchster Flexibilität und Unvorhersehbarkeit arbeiten, sodass wir natürlich letztlich auch austauschbar werden.
Was mich daran stört ist, dass insbesondere den jungen Menschen, kaum die Zeit und Chance gegeben wird, zu ihren Stärken und ihrer Motivation zu finden. Meist wird nach dem Prinzip „Liefern“ oder „Gehen“ verfahren. Dabei sollte man vielmehr versuchen, die Talente an anderer Stelle einzusetzen, wenn die ursprüngliche Besetzung nicht passt. Da bedarf es noch einer höheren Fehlertoleranz seitens der Unternehmen.
Drei Arten agiler Arbeit
Arbeitsschritte werden in Phasen von zwei bis vier Wochen zerlegt und von einem kleinen Team bearbeitet. Der Scrum Master sorgt dafür, dass Regeln eingehalten werden. Ein Product Owner behält die Wünsche des Auftraggebers im Blick.
Ziel ist die Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle oder Produkte. Die Methode orientiert sich an der Arbeit von Designern. Basis ist die These, dass Probleme besser gelöst werden, wenn Menschen aus verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten.
Die Philosophie geht auf den US-Softwareunternehmer Brian Robertson zurück. Holons sind selbstständige Einheiten aus Mitarbeitern, die sich mit anderen Holons zu einer Struktur zusammenschließen – der Holacracy. Statt einer Hierarchie gibt es Regeln in einer „Verfassung“, die Mitarbeiter versammeln Gleichgesinnte in „Zirkeln“, um „Spannungen“ zu klären, und besprechen den Fortschritt in „taktischen Sitzungen“. Bereits 50 Organisationen weltweit verwenden die Philosophie .
Sie schreiben, dass es seitens der Mitarbeiter einer enormen inneren Sicherheit und persönlichen Reife bedarf, um in einer solchen Arbeitswelt bestehen zu können …
Ja, absolut. Wir brauchen Stabilität im Inneren, damit wir in einer agilen Außenwelt arbeiten können. Es gibt viele Agilitätsfallen (siehe Klickliste). Allein die Beschleunigungsfalle spricht ja für sich: Nicht jeder Mitarbeiter ist dafür geeignet, sich selbst zu organisieren und sich ständig weiterzuentwickeln und sich ständig auf neue Teams einzulassen. Da kommen viele Menschen einfach nicht mehr mit.
Ist das nicht auch eine Verlagerung der Verantwortung von Unternehmen auf den einzelnen Mitarbeiter?
Genau. Agile Mitarbeiter brauchen eine stabile, gereifte Persönlichkeit, damit sie auch „liefern“ können bei sich ständig verändernden Rahmenbedingungen und in sich immer wieder neu bildenden Teams. Dafür ist eine sehr hohe Anpassungsfähigkeit nötig.
Wobei Führungskräfte und Arbeitgeber ihren Beitrag dazu leisten müssen, ihre Mitarbeiter mit den nötigen Kompetenzen auszustatten. Das findet aus meiner Sicht noch zu wenig statt. Und das ist auch nicht mit einem einfachen Methodentraining, wie viele Agilitätscoachs es anbieten, zu erreichen.
Innere Stabilität erlangt man nur durch einen tiefgehenden, menschlichen Reifungsprozess: Erkenne Dich selbst – dieser Lernprozess geht bis in den Tod.
Ist das nicht ein bisschen viel verlangt vom Arbeitgeber?
Der Arbeitgeber hat dabei nicht die Aufgabe, den Charakter der Menschen bis zu seiner Vollendung zu begleiten. Aber er hat die Aufgabe, den richtigen Mitarbeiter mit der richtigen Aufgabe im richtigen Team in seinem Unternehmen auszustatten.