Organisation Bloß nicht immer so ordentlich!

Ordnung ist das halbe Leben? Von wegen. Inzwischen zeigen Studien: Auch Unordnung kann sinnvoll sein. Ein Plädoyer dafür, den Schreibtisch auch mal im Chaos zu hinterlassen.

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Ein unaufgeräumter Schreibtisch wirkt Wunder für die Arbeit. Quelle: imago images

Georg Christoph Lichtenberg hätte seine Freude: „Ordnung führet zu allen Tugenden“, sagte der deutsche Mathematiker einst. Tatsächlich wirken die Arbeitsplätze in vielen Unternehmen, als kämen sie direkt aus einem Baukasten. Steril, ordentlich, organisiert. Farblich sortierte Stifte liegen neben symmetrisch ausgerichteten Büroklammern, Tacker und Locher sehen aus, als stünde ein Fotoshooting für eine Designzeitschrift an.

Willkommen im Zeitalter der Clean Desk Policy. Unter diesem Schlagwort zwingen viele Arbeitgeber ihre Angestellten dazu, abends einen leeren Schreibtisch zu hinterlassen. Vor allem in Zeiten flexibler Arbeitsplätze soll kein Kollege am folgenden Tag ein Chaos vorfinden.

Irgendwie verständlich: Der Schreibtisch ist die Visitenkarte seines Besitzers. Aktenstapel, Kaffeetassen und Zeitungsberge signalisieren, dass da jemand unstrukturiert, undiszipliniert und letztlich mit sich und der Arbeit überfordert ist.

Vom guten Ruf der guten Ordnung profitiert die amerikanische Aufräumer-Lobby National Association of Professional Organizers. Ihre Mitglieder sortieren Schreibtische in Einzelsitzungen und verraten ihre Tipps in Vorträgen. Und die Japanerin Marie Kondo reüssiert seit einigen Jahren als Aufräumcoach. Sie hilft Menschen, die entweder Ordnung schaffen wollen, aber nicht wissen, wie das geht – oder jenen, die regelmäßig aufräumen, aber trotzdem im Chaos versinken: „Ich gebe meinen Klienten praktische Hilfestellung, ich unterstütze sie psychisch“, sagt Kondo, „und ich packe auch ganz handfest mit an.“ Nebenbei schreibt sie Bücher, die in knapp 40 Sprachen übersetzt wurden, im Englischen wurde ihr Nachname zum Verb: to kondo heißt so viel wie radikal aufräumen.

Denken Sie positiv!

Tatsache ist: Am Arbeitsplatz prallen zwei unterschiedliche Philosophien aufeinander. Auf der einen Seite schätzen die meisten Menschen ein gewisses Maß an Regeln, auf der anderen Seite neigen sie zur Faulheit. Außerdem wurde unser Bedürfnis nach innenarchitektonischer Disziplin schon früh im Leben geschmälert, wenn die Eltern mal wieder Ordnung im Kinderzimmer einforderten.

Zahlreiche Prominente liefern eine prima Rechtfertigung für das Chaos. „Wenn ein unordentlicher Schreibtisch auf einen unordentlichen Geist hinweist“, soll Albert Einstein einst gesagt haben, „auf was weist dann ein leerer Schreibtisch hin?“

Aber was stimmt denn nun wirklich? Ist Ordnung tatsächlich das halbe Leben? Oder gilt eher: Wer aufräumt, ist zu faul zum Suchen? Sollten wir die Tische im Büro sich selbst überlassen?

Ja, behauptet zumindest der bekannte britische Autor und Ökonom Tim Harford. In seinem gerade erschienenen Buch „Messy“ widmet er sich der konstruktiven Kraft von Unordnung, Spontaneität und Flexibilität. Wie er auf das Thema kam? Genau – aus eigener Erfahrung. „Wenn ich meinen Schreibtisch anschaue, denke ich: Ich bin ein Messie“, sagt Harford, „aber wenn ich etwas suche, finde ich es innerhalb von Sekunden.“

Schade um die Arbeitszeit

Was nach einer faulen Ausrede klingt, ist inzwischen sogar wissenschaftlich erwiesen. Studien zeigen: Besitzer eines aufgeräumten Schreibtisches kramen kurioserweise bis zu 36 Prozent länger nach ihren Zetteln, behauptet Eric Abrahamson, Professor der Columbia Business School. „Wenn ich perfekt aufgeräumte Schreibtische sehe, dann frage ich mich: Wann arbeiten die Leute, wenn sie so viel aufräumen?“, sagt Abrahamson.

Das ist nur ein wenig übertrieben. Das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung fand in einer Studie vor einigen Jahren heraus: Etwa zehn Prozent der Arbeitszeit verdaddeln Menschen durch „überflüssige oder fehlende Arbeitsmaterialien“ oder „ständiges Suchen nach dem richtigen Dokument in chaotischen Dateiverzeichnissen“.

Kein Wunder. Wer ständig sämtliche Zettel, Notizen und Dokumente konserviert und archiviert, nummeriert und laminiert, blickt hinterher vielleicht zufrieden auf sein Werk. Er kann sich allerdings häufig nicht mehr erinnern, wo genau die Unterlagen stecken.

Diese Dinge auf der Arbeit können krank machen

Mehr noch: Es mag auf den ersten Blick sinnvoll sein, sofort alle neu eintreffenden Dokumente einzuordnen. Allerdings fehlt diese Zeit, um wirklich kreativ und produktiv zu sein.

Daher appellieren Experten daran, den Angestellten ihre Eigenarten zu gönnen. Wer im Chaos arbeiten kann und dabei trotzdem kreativ ist – vielleicht auch gerade deswegen –, den sollte man nicht zur Ordnung zwingen. Aus gutem Grund: „Mithilfe von Chaos oder Unordnung wird das Gehirn gefordert, und verkrustete Denkstrukturen werden aufgebrochen“, sagt Siegfried Preiser, Professor an der Psychologischen Hochschule Berlin, „man denkt plötzlich unkonventioneller.“

Das belegte vor einigen Jahren auch eine viel beachtete Studie. Kathleen Vohs von der Universität Minnesota forderte 48 Probanden zu einem Experiment heraus. Die eine Hälfte befand sich währenddessen in einem aufgeräumten Büro, die andere Hälfte an einem chaotischen Arbeitsplatz. Die Probanden sollten sich nun darüber Gedanken machen, wie man Tischtennisbälle nutzen könnte, abgesehen von ihrer sportlichen Funktion.

So werden Sie am Arbeitsplatz glücklicher
Menschen, die häufig lächeln, haben weniger oft Herzkrankheiten und leben länger, schreibt Ilona Bürgel in ihrem Buch „Die Kunst, die Arbeit zu genießen“. Selbst wenn wir uns zwingen, den Mund zu einem Lächeln zu verziehen, erkennt das Hirn den Unterschied nicht und empfängt die Botschaft, dass wir glücklich sind. Quelle: getty images
Glückliche Menschen verbringen 30 Prozent weniger Zeit vor dem Fernseher und sind lieber mit anderen unterwegs. Kino, Kirche oder Tanzen egal: Das Beisammensein mit anderen Menschen zählt. Quelle: dpa
Ob Fotos, Steine oder eben Hasen - die Erinnerungsstücke an schöne Momente tragen zu späteren Glücksgefühlen bei und sorgen für die Erwartung weiteren Glücks. Quelle: dpa
Bewegung baue das Stresshormon Cortisol ab und vertreibe Depressionen, so die Autorin. Wenige Minuten pro Tag reichen bereits. Noch besser ist die Wirkung im Freien, da dann zusätzlich Vitamin D produziert wird, das gesund und glücklich macht. Quelle: dpa
Bürgel zitiert eine Studie mit 160 Yoga-Lehrern. Diese ergab, dass regelmäßiges Yoga die Glücksblutwerte um 27 Prozent steigert. Quelle: REUTERS
Nicht nur negative Informationen, Gefühle und Haltungen stecken an - Glücklicherweise funktioniert das Prinzip auch umgekehrt. Wer bei der Arbeit positive Gefühle hat, nimmt diese mit nach Hause und überträgt sie so ins Privatleben. Und weiter bewirkt ein glückliches Privatleben auch gute Gefühle im Job - der Kreis schließt sich. Quelle: Handelsblatt Online
Massagen sollen die Abwehrkräfte steigern und Stresshormone im Körper abbauen. Quelle: Handelsblatt Online

Und siehe da: Die Probanden im Messie-Büro waren wesentlich origineller und hatten kreativere Ideen. Vohs glaubt: Eine chaotische Umgebung regt zu unkonventionellen Gedanken an. Sterile, ordentliche Räume hingegen veranlassen Menschen eher dazu, in traditionellen Mustern zu denken – und zu handeln.

Wohlgemerkt: Äußere Unordnung garantiert noch lange keine Kreativität. Wichtig ist vielmehr, was währenddessen im Kopf passiert. „Um kreativ zu sein, hilft es nicht, kurzfristig sein Zimmer nicht mehr aufzuräumen oder seinen Schreibtisch zuzumüllen“, sagt Harford, „sondern vielmehr, ein natürliches Maß an Unordnung zuzulassen und manchmal auch spontan zu sein.“

Stress muss sein

Davon profitiert nicht nur der einzelne Angestellte, sondern das gesamte Unternehmen. Eric Abrahamson hat herausgefunden: Unternehmen, die sich strikt an eine Strategie halten, sind oft weniger erfolgreich als jene ohne Schlachtplan. Womöglich begrenzt ein starker Fokus auf Ordnung sogar die Flexibilität von Organisationen oder Individuen mit dem Ergebnis, dass sie Chancen verpassen und Lösungen übersehen. So ärgerlich gewisse Probleme und Herausforderungen scheinen, in Wahrheit verbessern sie die Leistung. Das fand der Psychologe Daniel Oppenheimer von der UCLA Anderson School of Management heraus. Für eine Studie arbeitete er vor einigen Jahren mit Lehrern zusammen. Er wollte erforschen, auf welche Weise die Schüler Informationen besser behalten können.

Die eine Hälfte einer Klasse erhielt Texte mit der Schriftart Helvetica oder Times New Roman – leicht lesbar, ordentlich, strukturiert. Die andere Hälfte bekam Texte mit der Schriftart Comic Sans oder Haettenschweiler, schwer lesbar und unordentlich. Das Ergebnis: Am Ende des Schuljahres schnitt die Versuchsgruppe, die die schwierigen Schriftarten lesen musste, deutlich besser in den Klausuren ab. „Milder Stress hilft dabei, effektiver zu arbeiten und genauer hinzuschauen“, sagt Autor Harford. „Genau wie bei Unordnung.“ Nun will er mitnichten zum grenzenlosen Chaos aufrufen. Jeder müsse individuell herausfinden, wie viel Unordnung gut für ihn ist. „Aber Unordnung hat durchaus ihre Berechtigung“, sagt Harford. „Oft setzen wir Prioritäten falsch. Vieles, was wir krampfhaft organisieren wollen, lässt sich nicht in enge Strukturen pressen.“

Eine vergessene Kaffeetasse hier, ein Aktenstapel da, ein schlecht geführter Terminplan dort – was auf Beobachter von außen negativ wirkt, hält den Geist in Wahrheit wach. Sogar messbar.

Chaos bietet dem Gehirn Ablenkungen und setzt gleichzeitig zahlreiche Impulse, aus denen sich neue Ideen entwickeln können. Dadurch bleiben unordentliche Menschen interessiert und offen für Neues. „Unser gesamtes Leben ist ein bisschen chaotisch – na und? So sind wir eben“, sagt der Autor Tim Harford, „und so sollten wir uns auch lassen.“

Es scheint also an der Zeit, umzudenken. Womöglich führt Ordnung zu allen Tugenden. Doch wer kreativ sein will, sollte Lichtenbergs Weisheit nicht stur befolgen.

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