WirtschaftsWoche: Sie sind eine bekennende Introvertierte. Was macht Sie so verschieden von Extrovertierten?
Sylvia Löhken: Introvertiert heißt „nach innen gewandt“, extrovertiert heißt „nach außen gewandt“. Als der Psychoanalytiker C.G. Jung 1921 die Begriffe prägte, konnte er noch nicht wissen, dass das sogar im Hirn nachmessbar ist. Introvertierte haben mehr Aktivität im frontalen Kortex und im vorderen Thalamus. In diesen Hirnarealen sind Lernen, Denken, Vergleichen, Problemlösen angesiedelt, aber auch Sorgen. Wenn ein Introvertierter scheinbar passiv in den Himmel guckt, funkt es zwischen den Ohren oft auf Hochtouren. Eindrücke in Ruhe aufnehmen, nachdenken und dann reden, das ist introvertiert. Meine extrovertierte Kollegin Margit Hertlein dagegen, mit der ich den „laut-leisen Diwan“ mache, sagt: Woher soll ich wissen, was ich denke, bevor ich darüber geredet habe? Extrovertierte wollen Zugang zur Welt, mit ihr interagieren und dann nachdenken. In ihrem Gehirn sind Inselkortex und hinterer Thalamus, da wo die Andockstellen für Sinneseindrücke verortet sind, besonders aktiv.
Sind Intro- oder Extrovertiertheit rein neurobiologische Merkmale?
Nein. Wir können zwar schon bei ganz kleinen Babys neurologisch vorhersagen, ob es ein kleiner Intro oder eine kleine Extro wird. Aber unsere Gehirne sind bei der Geburt natürlich noch überhaupt nicht fertig. Es kommt darauf an, was wir daraus machen. Wir sind Hordentiere. Was wir über soziale Gemeinschaft in einer spezifischen Gruppe lernen, prägt unser Gehirn weiter aus.
Intro- oder Extrovertiertheit ist also nicht so einfach erblich wie die Augenfarbe.
Überhaupt nicht. Entwicklungspsychologen nennen die soziale Komponente die zweite Natur. Die lässt sich von der ersten, angeborenen gar nicht mehr genau trennen. Die meisten Menschen sind übrigens nicht komplett intro- oder extrovertiert, sondern befinden sich in einem mittleren Bereich. Jeder hat seine Komfortzone im Intro-Extro-Kontinuum.
Die zehn Stärken introvertierter Personen
Behutsam vorgehen, Risiko und Abenteuer meiden, aufmerksam beobachten, Respekt zeigen, vor dem Reden denken, unaufdringlich sein. Im Gespräch kann die Vorsicht eines introvertierten Menschen für ein druckfreies Gesprächsklima sorgen, in dem sich das Gegenüber ernst genommen fühlt.
Aus der eigenen Erfahrung schöpfen, Wesentliches betonen, Inhalte mit Bedeutung und Qualität vermitteln, inhaltsreiche Gespräche führen. Introvertierte sind fortlaufend damit beschäftigt, das was sie sehen, denken und erfahren zu verarbeiten und diese Hintergrundaktivität gibt den leisen Menschen Tiefgang – dafür brauchen sie aber Zeit!
Fokussieren können, Energie gezielt auf eine Aktivität richten, intensiv und beständig bei einer Sache bleiben. Konzentrierte Menschen strahlen Intensität aus, weil sie sich ihrer aktuellen Tätigkeit mit ganzer Kraft und Aufmerksamkeit widmen – das kann ihnen auch eine starke Präsenz verleihen.
Aus den Äußerungen des Gegenübers Informationen, Positionen und Bedürfnisse herausfiltern, einen Dialog schaffen: das ist eine der wichtigsten, aber auch meist unterschätzten Fähigkeiten. Zuhören wirkt Wunder, vom Beziehungsaufbau bis zur Konfliktlösung.
Innere Ruhe als Basis für Konzentration, Entspanntheit, Klarheit und Substanz. Auch die Fähigkeit, für äußere Ruhe im Sinne einer reizarmen Umgebung zu sorgen, kann als Stärke gesehen werden und kann für Extrovertierte wertvoll sein, weil leise Menschen sie ermutigen, auf sich und ihre Bedürfnisse zu achten und vor dem Handeln nachzudenken.
Planen und strukturieren, komplexe Zusammenhänge unterteilen und daraus systematisch Informationen, Positionen, Lösungen und Maßnahmen herleiten. Diese Stärke hilft auch dabei, Struktur in unübersichtliche Zusammenhänge zu bringen.
Allein sein können, selbstständig sein, innerlich losgelöst von der Meinung anderer nach eigenen Prinzipien leben, von sich selbst absehen können: Introvertierte Menschen sind weniger auf die Rückmeldungen ihrer Mitmenschen und auf Umwelteindrücke angewiesen.
Geduldig und mit langem Atem einer Sache nachgehen, um ein Ziel zu erreichen. Eine gründliche Vorgehensweise und die Bereitschaft, sich auch durch „dicke Bretter“ zu bohren, gehört zu dieser Eigenschaft.
Lieber und leichter schriftlich als mündlich kommunizieren. In manchen Situationen kann eine schriftliche Mitteilung nützlicher sein als eine mündliche. Auch eine schriftliche Vorbereitung kann unterstützend wirken – etwa vor Arbeitsgruppentreffen oder Diskussionen.
Sich in die Lage der Kommunikationspartner versetzen können, mit wenigen Konflikten leben, Gemeinsamkeiten und gemeinsame Interessen in den Vordergrund stellen, kompromissbereit sein, diplomatisch vermitteln. Ein leiser Mensch, der über Einfühlungsvermögen verfügt, wird leichter das Vertrauen seiner Mitmenschen gewinnen.
Kann Erziehung einen Intro zum Extro machen und umgekehrt?
Umpolen nicht, aber modifizieren. Die Frage für die Mutter eines intro- oder extrovertierten Kindes ist: Was macht die Horde mit dem Neuankömmling? Darf der sich so entwickeln, wie es für sie oder ihn artgemäß ist, oder bekommt dieses Kind signalisiert: Du bist nicht in Ordnung, wenn du zu laut bist oder zu große Risiken eingehst.
Sprechen wir mal über berühmte Menschen, Angela Merkel zum Beispiel.
Vorweg: Macht korreliert nicht mit Intro- oder Extroversion. Angela Merkel ist nach meiner Wahrnehmung klar introvertiert. Das belegt der Umgang mit ihrem Privatleben. Ihre ruhige, sicherheitsorientierte Art, auch in spannungsreichen Situationen. Und dass sie oft lange abwartet, bevor sie zu einem Thema Stellung nimmt. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder und ihr Herausforderer Peer Steinbrück sind dagegen wohl beide extrovertiert.
Barack Obama?
Auch eher introvertiert. Er berichtet, dass seine extrovertierte Frau Michelle manchmal nicht so happy ist, wenn er sich am Abend in sein Zimmer zurückzieht. Introvertierte brauchen das, um den Akku wieder aufzuladen.
Mark Zuckerberg?
Intro. Er hat Facebook gegründet, um Frauen kennenzulernen.
Introvertierte Rampensau
Steve Jobs?
Extro. Sein Kompagnon und Apple-Mitgründer Steve Wozniak dagegen ist ein Intro. Jobs schuf als genialer Vermarkter und Kommunikator das Schaufenster. Er überzeugte die Kunden und Kooperationspartner. Aber das hätte alles nichts genützt, wenn im Schaufenster ein Schrott-Computer gestanden hätte. Wozniak, der geniale, in sich gekehrte Tüftler, werkelte konzentriert, fokussierte mit unglaublicher Beharrlichkeit auf das Wesentliche – Intro-Stärken – und schuf seinerseits dieses Gerät. Doch ohne Jobs hätte er es wohl nicht verkauft. Apple ist die Erfolgsgeschichte eines Intro-Extro-Teams.
Kann man seine Intro oder Extrovertiertheit verleugnen oder überwinden?
Das ist keine Frage des Willens. Wir können uns flexibel an Situationen anpassen. Wenn Obama öffentlich redet, tut er das eher in einem extrovertierten Modus. Aber hinterher muss er Ruhe haben, weil ihm so ein Auftritt nicht Energie gibt, sondern nimmt. Ich gehe davon aus, dass Intros und Extros ganz eigene Stärken haben – und damit verbunden auch ganz eigene Hürden. Dolly Parton hat gesagt: "Find out who you are and do it on purpose" – "Finde heraus, wer du bist, und dann tu es mit Absicht." Wir sind am erfolgreichsten, wenn wir unsere Persönlichkeit identifizieren, annehmen und das Beste daraus machen.
Sind in unserer aufmerksamkeitsversessenen Gesellschaft die Extros im Vorteil?
Das glaube ich nicht. Augenscheinlich Extrovertierte fallen mehr auf. Aber sie sind nicht unbedingt wirksamer. Fernsehen ist sicher eine Extro-Domäne. Aber auch da gibt es einen introvertierten Günter Jauch, der mindestens so erfolgreich ist wie die extrovertierte Barbara Schöneberger. Auch Stefan Raab ist ein Introvertierter.
Die Rampensau Raab ein Introvertierter?
Ich dachte auch erst, er sei extrovertiert. Aber wer ihn kennt, weiß, dass sich Raab anknipst und nach der Show wieder ausknipst. Und niemand erfährt etwas über ihn.
Unser finanzmarktgetriebenes Wirtschaftssystem ist auch eher eine Extro-Domäne, oder?
Es gibt Studien, die sagen, dass die Krise von 2008 nicht stattgefunden hätte, wenn man in den Banken auf die Warnungen der introvertierten Controller gehört hätte. Die Finanzkrise ist zum großen Teil durch extrovertiertes Belohnungsdenken getriggert worden.
Extrovertierte an den Schalthebeln sind also ein Sicherheitsrisiko?
Wenn ich über den Atlantik fliege, finde ich es zwar toll, einen introvertierten Piloten zu haben, der vorsichtig ist. Aber auch introvertiertes, sicherheitsorientiertes Verhalten kann riskant sein. Etwa wenn ich mich an eine Investition klammere, die der Berater als sicher bezeichnete, sie aber leider von Lehman kommt.
Also waren es Extrovertierte, die neue Länder entdeckten …
… und die Introvertierten sorgten dafür, das dabei das Schiff nicht unterging.
Und die großen Erfinder und Wissenschaftler?
Oft Intros, weil sie beharrlich sein müssen, um erfolgreich zu sein. Thomas A. Edison brauchte sehr viele Versuche, bevor das Ding mit der Glühbirne klappte. Aber ebenso wie es in der eher extrovertierten Politik eine introvertierte Kanzlerin gibt, gibt es auch extrovertierte Forscher. Der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman war nebenbei Bongo-Trommler und malte Striptease-Tänzerinnen. Seine letzten Worte waren: "Ich fände es schrecklich, zweimal zu sterben. Es ist so langweilig."
Wo bleiben die Intros ganz unter sich?
Philosophie vielleicht. Bevor man da etwas sagen darf, muss man erst zwei Meter Bücher gelesen haben. Aber grundsätzlich kann man in allen Bereichen auch den jeweils anderen Persönlichkeitstypen finden, der Spitzenleistungen vollbringt.
Gibt es Intro- und Extro-Nationen?
Die Verteilung ist überall gleich: 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung sind introvertiert. Aber in Finnland und Japan zum Beispiel richten sich die sozialen Normen eher an introvertierten Verhaltensweisen aus. In Japan ist es ganz normal, dass man im Gespräch auch mal länger schweigt. In den USA dagegen ist das sozial kaum akzeptabel. Aber über den Erfolg sagt das nichts. Die eher extrovertiert genormten USA haben einen eindeutig introvertierten Präsidenten.
Und Deutschland, das Land der Dichter und Denker?
Ich sehe uns irgendwo in der Mitte.
Extrovertierter Dicherfürst
Welcher der großen deutschen Dichter war denn ein Extrovertierter?
Goethe zum Beispiel. Der brauchte immer ein Buffet an verschiedenen Themen. Er war nicht nur Dichter, sondern auch Naturwissenschaftler, Minister, Reisender, Liebhaber. Extrovertiert waren auch seine letzten Worte: "Mehr Licht!"
Gibt es im Wirtschaftsleben Intro- und Extro-Branchen?
Ich sehe bei meinen Kunden, dass es viele introvertierte Spitzenkräfte in der Verwaltung und im IT-Bereich gibt. Aber es kann auch sehr heikel sein, wenn brillante Köpfe als IT-Berater eingestellt werden, die jedes technische Problem lösen, es aber nicht vermitteln können.
Die zehn Hürden introvertierter Menschen
An den passenden Stellen ist Angst ein lebenserhaltendes Gefühl, doch unangemessene Angst blockiert, stört und hemmt. Was tun? Stellen Sie sich Ihrer Angst, nehmen Sie bewusst wahr, wovor Sie sich fürchten und gehen Sie dann kalkulierte Risiken ein, die sich für Sie lohnen, weil Sie ein Ziel vor Augen haben.
Einzelinformationen blockieren den Blick auf Prioritäten und das „große Ganze“. Im Gespräch verlieren sich Menschen mit dieser Neigung in Kleinigkeiten und beachten den großen inhaltlichen Bogen und die Bedürfnisse des Gesprächspartners nicht.
Introvertierte fühlen sich durch zu viele, laute und schnelle Eindrücke überfordert und dosieren deswegen soziale Anlässe sehr vorsichtig. Gehen leise Menschen ständig gegen das Bedürfnis nach Rückzug an, so treibt sie dies in die Erschöpfung.
Um zu vermeiden, dass ein extrovertierter Gesprächspartner Sie als passiv wahrnimmt, weil Sie mehr Zeit zum Nachdenken brauchen, äußern Sie Ihr Bedürfnis und bringen Sie auch das Ergebnis Ihrer Bemühungen ins Gespräch ein.
Manchmal ist die Flucht das Mittel der Wahl, um Restenergie zu bewahren. Leider kann der ständige Rückzug leise Menschen vom aktiven Handeln und dem Erreichen ihrer Ziele abhalten.
Introvertierte neigen dazu, Gefühle zu vernachlässigen. Kommunikation besteht nicht nur aus dem Austausch von Fakten – eher trifft das Gegenteil zu. Die Beziehungsebene zu unterschätzen wirkt sich auch im Beruf nachteilig aus.
Die Unterdrückung beziehungsweise negative Bewertung introvertierter Merkmale und Bedürfnisse führt dazu, dass sich leise Menschen als abweichend von ihrer Umgebung wahrnehmen. Sie riskieren damit soziale Entfremdung oder sogar Selbstentfremdung.
In einer bestimmten Situation immer gleich zu reagieren, macht berechenbar – und verhindert eine gelungene Kommunikation. Ein leiser Mensch, der mit dieser Hürde zu tun hat, nimmt sich selbst Spielraum und die Souveränität, einer Situation aktiv zu begegnen.
Leise Menschen haben gewöhnlich lieber wenige, aber gute Freunde als viele oberflächliche Kontakte. Beginnt ein Introvertierter jedoch, sich von der Außenwelt abzuschotten, riskiert er, sich sozial zu isolieren. Dadurch fehlen wichtige Impulse und Korrekturen durch andere, sowohl privat als auch beruflich.
Viele Intros bewerten Konfliktsituationen als zu aufwändig und unvorhersehbar, vermeiden den Energieaufwand völlig und wälzen sich dann nachts schlaflos im Bett, weil sie der Konflikt dennoch stark beschäftigt.
Also lieber keine Intros zum Kunden schicken?
Doch - Kommunikation kann man lernen. Am erfolgreichsten ist oft ein gemischtes Team aus Intro- und Extrovertierten. Der eine macht das Konzept für den Pitch und der andere präsentiert es auf seine begeisternde Art und Weise. Der introvertierte Zuckerberg und die extrovertierte Sheryl Sandberg ergänzen sich bei Facebook perfekt .
Was sollten Arbeitgeber für Intros und Extros tun.
Für artgerechte Haltung sorgen! Extros lieben Brainstormings und reichlich Austausch. Meetings sind meist sehr extro-freundlich organisiert. Das erzeugt bei Intros Leidensdruck. Weil sie weniger Andockstellen im Hirn für äußere Reize haben, sind sie schneller überstimuliert, während Extrovertierte auf diesen Reizen surfen. Für Intros sind Großraumbüros nicht gut, das zeigen auch aktuelle Studien. Sie brauchen Rückzugsräume, um in Ruhe dicke Bretter bohren zu können.
Kommen wir mal zum Privatleben.
(Lacht) Da zuckt ein Intro wie ich sofort zusammen.
Gegensätze ziehen sich an, heißt es. Gilt das auch für liebende Intros und Extros?
Ich lebe in einer Misch-Ehe. Im Idealfall bedeutet das - ähnlich wie bei den Teams in der Wirtschaft -, dass beide ihre Assets zusammenlegen und voneinander profitieren. Mein Mann ist – typisch Extro – begeisterter Fußballer, während mein ideales Wochenende von einem Stapel Bücher am Sofa bestimmt ist. Aber ich hätte viele interessante Erfahrungen verpasst, wenn mein Mann nicht gefragt hätte: Und was machen wir jetzt? In so einer Partnerschaft kann man bekommen, was man sich selbst nicht geben kann. Aber nur unter der Bedingung, dass ich weiß, was ich selbst will und dem anderen sein Anderssein gönne.
Mit welchen Fragen kann man schnell einen Intro vom Extro unterscheiden?
Wie kommen Sie am besten wieder zu Energie, wenn sie sehr erschöpft sind?
Lesen.
Wie fühlen Sie sich nach einem vergnügten Nachmittag auf der Kirmes?
Ich brauche Ruhe.
Wie verhalten Sie sich in einem Raum voller Fremder?
Ich bleibe am Rande und beobachte. Smalltalk mag ich nicht.
Das Beobachten ist eine Stärke von Intros. Smalltalk nicht.
Ich bin ein Intro. Vielen Dank für diese Erkenntnis.