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Nettigkeiten führen dazu, dass wir uns zur Gegenleistung verpflichtet fühlen. Quelle: imago images

Reziprozität: Wie Nettigkeiten uns austricksen

Ein kleines Geschenk, ein selbstloses Entgegenkommen? Aufmerksamkeiten wirken als raffinierte Köder, durch die wir uns verpflichtet fühlen, uns zu revanchieren. So entkommen Sie der Dankbarkeits-Falle.

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Unser Kolumnist Marcus Werner ist Fernsehmoderator und Buchautor und arbeitet als Berater für Kommunikation und Persönlichkeitsentwicklung.

„Oh Gott, Christina hat heute Geburtstag und ich hab noch kein Geschenk.“
„Ach, schenkt ihr euch was?“
Dieser kleine Dialog bringt sie schon auf den Punkt: die Reziprozität als Grundprinzip des menschlichen Handelns. Letztendlich entspringt sie der Erkenntnis, dass es von Vorteil für alle ist, wenn wir zusammenhalten. Ich gebe dir etwas von mir, dafür gibst du mir etwas von dir. Wir tauschen. Und haben alle mehr.

„Schenkt ihr euch was?“ Diese Frage ist Ausdruck dieser von uns allen gelernten Reziprozitäts-Regel: Wer so fragt, geht davon aus, dass die Tradition mit den Geburtstagsgeschenken selbstverständlich auf Gegenseitigkeit beruht.

„Komm, wir schenken uns nichts mehr.“ Dieser Satz ist für Millionen Menschen auf der ganzen Welt in der Vorweihnachtszeit wiederum der Befreiungsschlag. Er entlässt uns aus der Wechselseitigkeit des Schenkens. Das Ende der Wechselseitigkeit muss aber schon sehr ausdrücklich festgelegt werden, sonst gibt es Knatsch.
Wenn jemand einseitig das Wechselspiel als erster aufgibt, dann kann das selbst bei Kleinigkeiten beim anderen zu Irritationen oder sogar Kränkungen führen: „Im Mai hatten wir die Polinskis zum Essen eingeladen, und jetzt machen die ´ne Grillparty ohne uns?“ - „Ich habe schon die letzten Runde bezahlt und jetzt soll ich schon wieder blechen?“ Meist geht es hier nicht um die 2,50 Euro fürs Bier. Es geht um das Gefühl, einseitig ausgenutzt zu werden.

Und weil wir alle dieses Gefühl kennen, wollen wir als soziale Wesen, die Konflikten mit anderen intuitiv aus dem Weg gehen, selbst nicht als der egozentrische Blutsauger dastehen. Wir haben von Kindheit an gelernt, Unterstützung anzunehmen und uns zu revanchieren. Weil das in der Gemeinschaft für alle von Vorteil ist.

Die Reziprozität, die gegenseitige Schuld aus Dankbarkeit, wird von Wissenschaftlern als Grundlage etwa für das Prinzip der Arbeitsteilung gesehen. Der US-amerikanische Psychologe und Marketing-Experte Robert B. Caldiani schreibt: „Es ist das Gefühl, dem anderen in Zukunft verpflichtet zu sein, das entscheidend zu sozialen Fortschritten beigetragen hat.“ Sogar die Diskussionen in der Nato zur Höhe der Rüstungsinvestitionen durch die Mitgliedsstaaten, in der Deutschland zurzeit in der Schusslinie steht, sind letztendlich ausgelöst worden von dem Gefühl der Amerikaner: Wir zahlen und zahlen und bekommen von euch viel zu wenig zurück. Es geht um die Frage: Habt ihr Deutschen denn nicht den Eindruck, der Gemeinschaft etwas schuldig zu sein?

Alles eine Frage der Reziprozität. Und jetzt kommt´s: Auch bei Vertragsverhandlungen, im Verkäufer-Kunden-Verhältnis, ist das Prinzip von unglaublich durchschlagender Bedeutung. Weil das Gefühl, dem anderen irgendwie etwas schuldig zu sein, von cleveren Überzeugern ausgelöst wird, um uns automatisch zu Ja-Sagern zu machen.
Es gibt wissenschaftliche Experimente, die belegen: Selbst die kleinsten Gefallen oder Aufmerksamkeiten des einen Geschäftspartners lösen beim anderen praktisch unvermeidbar das Gefühl aus, sich revanchieren zu müssen.

Aus Dank zur Gegenleistung verpflichtet - selbst bei ungebetenen Gefallen

Ein bekanntes Beispiel: Der Schnaps aufs Haus oder die Bonbons auf dem Tellerchen neben der Rechnung erhöhen laut Studien die Bereitschaft bei uns Gästen deutlich, ein gutes Trinkgeld zu geben. Weil wir denken: „Och, das ist aber nett. Da will ich mal nicht so sein.“

So erklären sich auch die Kekse und Gummibärchen auf Messeständen. Und das Angebot, den schicken Kugelschreiber behalten zu dürfen, den man zum Ausfüllen des Bestellformulars verwenden soll. Oder das kostenlose Erfrischungsgetränk zum Einstieg in die Diskussion in der Bahnhofshaupthalle, ob Sie denn nicht ein Tageszeitungs-Abo testen wollen.

„Der lustige USB-Stick im Osterhasen-Design ist ein Geschenk für Sie. Wir würden uns übrigens sehr freuen, wenn Sie uns drei Euro für unsere Tierschutzorganisation spenden“. Das funktioniert in der Fußgängerzone besser als: „Hier, ein USB-Stick. Der kostet drei Euro. Für den Tierschutz.“ Und deshalb sponsert die Tabakindustrie Sommerfeste von Parteien oder Parteitage in Berlin. Wem kann man schon mit Gesundheitsschutzgesetzen an den Karren fahren, der so hilfsbereit ist?

Das Dramatische ist: Die Sympathie des Schenkers spielt dafür keine Rolle. Das belegen Tests. Obwohl die Leute den „großzügigen“ Verkäufer auch nach dem Geschenk weiter nicht sympathischer fanden als vorher, fühlten sie sich dennoch aus Dank zur Gegenleistung verpflichtet. Das ist ein Segen für alle windigen Vertreter, zu deren Geschäftsmodell es gehört, ungebeten auf der Matte zu stehen. Ein kleiner Gefallen reicht! Selbst ungebetene Gefallen. Und es kommt noch besser: Wer den anderen rumkriegen will, muss noch nicht einmal etwas aus der Hand geben.
Ein Beispiel: Eine Gruppe von aufgedrehten jungen Frauen eines Junggesellinnen-Abschieds kam mir eines Mittags auf der Kölner Domplatte entgegen. Leider hatte ich nicht schnell genug in die andere Richtung geschaut, so hatten sie mich grölend aus der Masse herausgepickt. Die Braut hatte die dämliche Aufgabe, diverse Selfies abzuliefern und auf einer Liste abzuhaken, und das Foto, das sie mit mir machen wollte, war eins, bei dem sie mir meinen nackten Bauchnabel küsst. Das hätte mir gerade noch gefehlt. So kam es zu einigem Gequengel: sie, dass sie das Foto dringend brauchte, ich, dass ich allein die Vorstellung daran schon hasste, vor der Kamera blank zu ziehen.

„Na gut, dann kauf mir wenigstens einen Pflaumenschnaps ab“, sagte sie. „Das wäre mir auch schon eine Hilfe. Ein Euro.“
Ich zückte den Euro und bekam dafür ein Miniaturfläschchen eines Pfaumenlikörs. Dabei mag ich gar keinen Pfaumenlikör. Und schon gar nicht um diese Uhrzeit! Ich war Opfer der Reziprozität geworden. Und zwar so:

Die Braut war von ihrer ursprünglichen Forderung abgerückt und hat sich mir zuliebe mit weniger zufrieden gegeben. Und das hatte in mir den Drang ausgelöst, mich erkenntlich zu zeigen. Statt zu rufen: „Ich will auch keinen Schnaps“, nahm ich ihr neues Angebot dankbar an. Weil sie mir ja entgegengekommen war, fühlte ich mich gezwungen, ihr auch etwas zu bieten.
Diese Erkenntnis ist natürlich Gold wert. Wenn Sie etwa einige Ihrer Mitarbeiter dazu bringen wollen, sich in ihrer Freizeit unbezahlt für die Arbeit auf einem Wohltätigkeitsball einteilen zu lassen, dann fragen Sie Ihr Team nicht: „Wer von euch ist bereit, am letzten Sonntag im Oktober einen Abend lang unbezahlt für den guten Zweck beim Ball an unserem Firmenstand im Foyer Prospekte zu verteilen?“
Sondern sagen Sie zuerst: „Ich suche Freiwillige, die ab jetzt bis Oktober zweimal die Woche unbezahlt nach Feierabend im Projektteam den Wohltätigkeitsball mit organisieren.“
Sprechen Sie jeden drauf an. Und wenn Sie bei den anderen merken, wie sie sich innerlich winden und wie sie murren, dann sagen Sie: „Oder wenigstens am Ballabend selber ein paar Stunden an unserem Stand ein paar Prospekte verteilen.“ Sie werden sich vor Zusagen kaum retten können.

Und wenn Sie zu den Mitarbeitern gehören, die gefragt werden, sagen Sie einfach: „Okay, hör auf zu lügen. Worum geht’s dir wirklich, Chef? Ich kenne die Reziprozitäts-Regel.“

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