Philosophisches Coaching „Bei Selbstoptimierung spiele ich nicht mit“

Gerhard Hofweber in seinem Büro, wo er auch ratsuchende Klienten und Gruppen empfängt. Quelle: Region Mainfranken GmbH, Daniel Peter

Neue Achtsamkeit, Sinnsuche, beschleunigte Arbeitswelt: Aus der Nachfrage nach Orientierung hat Gerhard Hofweber ein eigenes Geschäftsmodell entwickelt: Er gibt philosophische Seminare zur „Wahrheitssuche“.

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WirtschaftsWoche: Herr Hofweber, Sie sind Philosoph und begleiten Menschen auf dem Weg zur Wahrheit, wie Sie sagen. In Ihre Seminare im Staatsbad Bad Brückenau kommen häufig Arbeitnehmer und Führungskräfte. Was sind typische Fragen?
Gerhard Hofweber: Grundsätzlich geht es immer um Entwicklung. Die Leute sind an einem Punkt angekommen, an dem sie feststellen: So geht es nicht mehr weiter, etwas muss sich ändern. Man weiß aber nicht, was. Ein typisches Beispiel ist, dass ein bestimmtes Arbeitsfeld langsam durch Digitalisierung überholt wird, Tätigkeiten ganzer Abteilungen komplett obsolet werden. Es gilt dann erst einmal zu erkennen, dass sie über kurz oder lang überflüssig sein werden – wenn sie sich nicht selbst transformieren. Eine Schlussfolgerung kann sein: Da das vernünftig-intuitive Denken nicht digitalisierbar ist, sollten die betroffenen Mitarbeiter stärker ihre kreativ-schöpferischen Fähigkeiten in ihrem Arbeitsumfeld einfließen lassen.

Kann es Menschen in einer digitalisierten Welt noch gut gehen – oder sehen Sie darin schon das erste Problem?
Was dem Menschen guttut, ist das, was dem Kern seines Menschseins entspricht. Das ist sein vernünftiges Wesen. Die Digitalisierung ist deshalb kein Widerspruch zum spezifisch Menschlichen, weil der Verstand ja auch etwas Menschliches ist. Aber der Verstand muss in einem harmonischen Verhältnis zur Vernunft stehen. Sonst verliert der Mensch den Kontakt zu sich selbst.

Sie betreiben seit 15 Jahren diese Form der philosophischen Beratung. Welche gesellschaftliche Entwicklung haben Sie durch diese Arbeit beobachten können?
Es gibt mehr Probleme insofern, als sich das Gesellschaftsmodell nicht verändert hat, das Tempo der Entwicklung aber zugenommen hat. Das Nicht-mitgehen-können mit dem Tempo hat auch zugenommen. Es ist nicht so, dass die Leute sich daran gewöhnt hätten. Die Depression nimmt zu, die Angst ist allgegenwärtig. Was auch zunimmt, ist ein Hype der Oberfläche, die man eigentlich selbst schon als substanzlos durchschaut hat. Dazu eine gewisse Ratlosigkeit.

Depressionen und Burnout-Zustände nehmen zu. Das wäre nach landläufiger Meinung eher ein Grund, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Warum dann Philosophie und nicht Psychotherapie?
Der Unterschied zur Psychologie besteht darin, dass jede Art von Therapie eine Aufarbeitung der Vergangenheit ist. Es geht darum, alte Wunden zu heilen. In der philosophischen Arbeit spielt das keine Rolle. Unabhängig von Prägungen und Verletzungen gibt es einen metaphysischen Kern, das wahre Ich eines jeden Menschen. Wenn ich es wiederfinde, macht mich das frei und bringt mich nach vorne – und es heilt übrigens auch die Wunden. Die Griechen haben das als energea ausgedrückt: Dasjenige, das nur wirkt, aber keinen Widerstand bekommt. Philosophisch ausgedrückt ist das die reine Wirklichkeit des Geistes.

Was genau meinen Sie mit Wahrheit und Wirklichkeit?
Wahrheit kann man im weitesten Sinn über den Begriff der Ordnung verstehen. Die Griechen haben das cosmos genannt – das bedeutet sowohl Welt als auch Ordnung. Die Welt, das Universum, aber auch unser Körper und unser Gefühlsleben unterliegen einer Ordnung. Die Wahrheit drückt sich darin aus und die reine Wirklichkeit ist ihr innerster Kern. Wenn diese Ordnung gestört wird, gibt es Probleme. Der Mensch zum Beispiel wird körperlich oder psychisch krank. Aus meiner Sicht befindet sich die Wahrheit heute in einer Krise: Sie wird als etwas höchst Subjektives definiert. Dass das nicht funktionieren kann, fällt höchstens noch auf, wenn Donald Trump Tatsachen als Fake News abqualifiziert. Dann regt sich Widerspruch.

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Und was ist und kann Philosophie in diesem Kontext?
Philosophie ist die denkende Erkenntnis der Prinzipien der Wirklichkeit. Dass unterschiedliche Begriffe von Philosophie existieren, hat damit zu tun, dass man das Subjekt zum Maßstab gemacht hat, aber nicht mehr den Bezug zur Sache. Wenn man sich an den wirklich großen Philosophen orientiert, weiß man, was gemeint ist: Kant, Platon, Hegel, Thomas von Aquin. Sie haben es geschafft, in die tieferen Dimensionen vorzudringen.

Mit welcher Methode arbeiten Sie mit Ihren Klienten?
Zum einen mit der von mir entwickelten Erkenntnisaufstellung. Diese ist eine Weiterentwicklung der systemischen Aufstellung, wie wir sie von der von der Familienaufstellung und Organisationsaufstellung kennen. Vor allem aber mit dem klassischen Denken. Nicht im Sinne von Denken, wie wir es im Alltagsgebrauch verstehen, nämlich Verstandesdenken. Ich meine das Vernunftdenken.

Das müssen Sie erklären.
Verkürzt ausgedrückt ist der Verstand eine Art Informationsverarbeitung von Kenntnissen – aber nicht von Erkenntnissen. Von Informationen werden Schlussfolgerungen abgeleitet, ähnlich wie beim Schachspielen. Die Verstandeserkenntnis ist geprägt durch das Verknüpfen und per se oberflächlich, zweidimensional. Jede Ableitung aber muss von Prinzipen ausgehen, die ich voraussetze. Die Vernunft ist die Erkenntnis dieser Prinzipien, von denen es gar nicht so viele gibt. Aber sie sind sehr schwer zu erkennen, weil ich dann in die Tiefe, also dreidimensional denken muss. Eines dieser Prinzipien wäre: Das Leben ist ein Geschenk. Wenn ich diese Erkenntnis habe, lebe ich auch besser. Eine andere Erkenntnis dieser Art ist: Der Mensch hat seinen Wert nicht in seiner Leistung, seiner Individualität oder seinen Eigenschaften, sondern in seinem Menschsein.

Und Sie finden, dass diese Prinzipien der Mehrheit nicht klar sind?
Richtig. Die moderne Gesellschaft ist defizitorientiert und auf Selbstoptimierung aus: „Ich bin zu dick, zu alt, nicht erfolgreich genug…“ – das zieht viele Menschen in einen Negativstrudel. Letztlich ist der Wunsch, Wert durch Leistung zu erwerben, aussichtslos. Der Verlust der Lebensfreude ist deshalb ein Massenphänomen geworden, Depression eine Volkskrankheit – obwohl wir materiell im Überfluss leben.

„Man muss sich erlauben, sich zum Idioten zu machen“

Da hört man eine grundsätzliche Gesellschaftskritik heraus. Was läuft wider die natürliche Ordnung, von der Sie sprachen?
Die Wachstumsgesellschaft ist an sich falsch. Unbegrenztes Wachstum ist erstens nicht möglich und zweitens für das Leben kein wesentlicher Faktor. Um erfüllt zu leben, sind Entwicklung und Selbstentfaltung entscheidend. Deshalb müssen heute die Grundfragen neu gestellt werden – man muss sich erlauben, sich zum Idioten zu machen, indem man die ganz einfachen Fragen stellt. Wofür leben wir? Welchen Sinn macht das Ganze überhaupt? Welche Rolle möchte ich darin spielen? Möchte ich das überhaupt? Was heißt Menschsein? Die Beschäftigung damit geht in der beschleunigten Welt unter, weil die Menschen so damit beschäftigt sind, schrittzuhalten.

Sie kritisieren gleichzeitig, wenn Menschen versuchen sich zu verbessern, beispielsweise ihre Gesundheit durch Sport und Ernährung. Was ist dagegen eigentlich einzuwenden, wenn es doch guttut?
Ich habe etwas gegen Selbstoptimierung im Gegensatz zu Entwicklung. Es sind ähnliche Dinge aus unterschiedlichen Motiven. Selbstoptimierung gründet auf einem Defizitgefühl: „Ich bin nicht gut genug, ich muss mich verbessern.“ Dieser Wettbewerbs- und Verdrängungsgedanke ist anstrengend. Dazu kommt, dass das, was ich dann tue, nur Mittel zum Zweck ist. Die meisten Menschen, die im Fitnessstudio auf dem Laufband rennen, sehen nicht aus als mache ihnen das Spaß. Entwicklung ist, sich aus der Fülle des Daseins und Lust am Leben entwickeln zu wollen, aus Lust, aus der Neugier auf die Grenze. Wenn ich mich daran orientiere, dann tue ich diese Dinge aus Selbstzweck – um beim Sport zu bleiben, zum Beispiel Beachvolleyball spielen, einfach aus Spaß.

Ist das Defizitgefühl etwas Neues?
In dieser Form, ja. Das hat im vergangenen Jahrhundert massiv zugenommen.

Und woher kommt es?
Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hat der Mensch stets um Selbsterkenntnis, sein Verständnis von Freiheit und Person-sein, von Wahrheit, von Endlichkeit und Gott gerungen. Dabei gab es immer Aufs und Abs. Im Moment sind wir eher im Tal, aber mit aufsteigender Tendenz. Das geht aktuell mit dem Verlust des Bezugs zum eigenen Selbst einher. Man erkennt den Wert des Menschen nicht mehr. Nehmen Sie den Körper. Der ganze menschliche Leib ist ein Wunderwerk der Natur. Es ist phänomenal, was der Mensch an Hirnfunktionen hat, was er mit seinen Fingern machen kann – Klavierspielen zum Beispiel. Und was machen die Menschen? Sind unzufrieden mit ihrem Körper, quälen sich und ihn und lassen sich sogar immer häufiger operieren. Es ist doch irre, dass Schönheitsoperationen normal geworden sind! Was sich die Leute wünschen, mit sich selbst im Frieden zu sein, nahe am Kern zu leben, ist möglich – aber nur, indem sie sich in die Tiefe begeben. 

Kommt es auch vor, dass sie Leute doch noch zum Psychiater verweisen?
Ja, das kommt manchmal vor. Ich arbeite nicht therapeutisch und traue den meisten Therapieansätzen nicht viel zu. Das ist die eine Grenze. Die andere Grenze, wo ich nicht mitspiele, ist, wenn Selbstoptimierung gewünscht wird. Wenn jemand etwa einen Karriereplan von mir haben will. Bei mir geht es nicht um eine Vorgabe, nach der sich der Kunde richten kann, sondern um die Wahrheit.

Wie kommt der philosophische Ansatz zur Wahrheitsfindung bei Ihren Klienten an?
In der individuellen Arbeit ist es oft so, dass das Problem nicht gelöst, sondern einfach verschwunden ist. Damit ist es natürlich gewissermaßen gelöst. Was mich immer sehr freut, weil ich mir genau das auch wünsche, ist wenn die Klienten einmal eine Beziehung zur Wahrheit gefunden haben. Das ist ein Feuer, das nicht mehr ausgeht. Der Maßstab ist der, sich von der Wahrheit führen zu lassen statt von der eigenen Konstruktion. Aber dazu muss ich die Wahrheit einmal gesehen und verstanden haben. Das ist eine ganz tiefe Erkenntnis, die nachhaltig ist.

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