Philosophisches Coaching „Bei Selbstoptimierung spiele ich nicht mit“

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„Man muss sich erlauben, sich zum Idioten zu machen“

Da hört man eine grundsätzliche Gesellschaftskritik heraus. Was läuft wider die natürliche Ordnung, von der Sie sprachen?
Die Wachstumsgesellschaft ist an sich falsch. Unbegrenztes Wachstum ist erstens nicht möglich und zweitens für das Leben kein wesentlicher Faktor. Um erfüllt zu leben, sind Entwicklung und Selbstentfaltung entscheidend. Deshalb müssen heute die Grundfragen neu gestellt werden – man muss sich erlauben, sich zum Idioten zu machen, indem man die ganz einfachen Fragen stellt. Wofür leben wir? Welchen Sinn macht das Ganze überhaupt? Welche Rolle möchte ich darin spielen? Möchte ich das überhaupt? Was heißt Menschsein? Die Beschäftigung damit geht in der beschleunigten Welt unter, weil die Menschen so damit beschäftigt sind, schrittzuhalten.

Sie kritisieren gleichzeitig, wenn Menschen versuchen sich zu verbessern, beispielsweise ihre Gesundheit durch Sport und Ernährung. Was ist dagegen eigentlich einzuwenden, wenn es doch guttut?
Ich habe etwas gegen Selbstoptimierung im Gegensatz zu Entwicklung. Es sind ähnliche Dinge aus unterschiedlichen Motiven. Selbstoptimierung gründet auf einem Defizitgefühl: „Ich bin nicht gut genug, ich muss mich verbessern.“ Dieser Wettbewerbs- und Verdrängungsgedanke ist anstrengend. Dazu kommt, dass das, was ich dann tue, nur Mittel zum Zweck ist. Die meisten Menschen, die im Fitnessstudio auf dem Laufband rennen, sehen nicht aus als mache ihnen das Spaß. Entwicklung ist, sich aus der Fülle des Daseins und Lust am Leben entwickeln zu wollen, aus Lust, aus der Neugier auf die Grenze. Wenn ich mich daran orientiere, dann tue ich diese Dinge aus Selbstzweck – um beim Sport zu bleiben, zum Beispiel Beachvolleyball spielen, einfach aus Spaß.

Ist das Defizitgefühl etwas Neues?
In dieser Form, ja. Das hat im vergangenen Jahrhundert massiv zugenommen.

Und woher kommt es?
Über die Jahrhunderte und Jahrtausende hat der Mensch stets um Selbsterkenntnis, sein Verständnis von Freiheit und Person-sein, von Wahrheit, von Endlichkeit und Gott gerungen. Dabei gab es immer Aufs und Abs. Im Moment sind wir eher im Tal, aber mit aufsteigender Tendenz. Das geht aktuell mit dem Verlust des Bezugs zum eigenen Selbst einher. Man erkennt den Wert des Menschen nicht mehr. Nehmen Sie den Körper. Der ganze menschliche Leib ist ein Wunderwerk der Natur. Es ist phänomenal, was der Mensch an Hirnfunktionen hat, was er mit seinen Fingern machen kann – Klavierspielen zum Beispiel. Und was machen die Menschen? Sind unzufrieden mit ihrem Körper, quälen sich und ihn und lassen sich sogar immer häufiger operieren. Es ist doch irre, dass Schönheitsoperationen normal geworden sind! Was sich die Leute wünschen, mit sich selbst im Frieden zu sein, nahe am Kern zu leben, ist möglich – aber nur, indem sie sich in die Tiefe begeben. 

Kommt es auch vor, dass sie Leute doch noch zum Psychiater verweisen?
Ja, das kommt manchmal vor. Ich arbeite nicht therapeutisch und traue den meisten Therapieansätzen nicht viel zu. Das ist die eine Grenze. Die andere Grenze, wo ich nicht mitspiele, ist, wenn Selbstoptimierung gewünscht wird. Wenn jemand etwa einen Karriereplan von mir haben will. Bei mir geht es nicht um eine Vorgabe, nach der sich der Kunde richten kann, sondern um die Wahrheit.

Wie kommt der philosophische Ansatz zur Wahrheitsfindung bei Ihren Klienten an?
In der individuellen Arbeit ist es oft so, dass das Problem nicht gelöst, sondern einfach verschwunden ist. Damit ist es natürlich gewissermaßen gelöst. Was mich immer sehr freut, weil ich mir genau das auch wünsche, ist wenn die Klienten einmal eine Beziehung zur Wahrheit gefunden haben. Das ist ein Feuer, das nicht mehr ausgeht. Der Maßstab ist der, sich von der Wahrheit führen zu lassen statt von der eigenen Konstruktion. Aber dazu muss ich die Wahrheit einmal gesehen und verstanden haben. Das ist eine ganz tiefe Erkenntnis, die nachhaltig ist.

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