Planlose Coronapolitik Führungslosigkeit muss nicht im Chaos enden – diese Unternehmen machen es vor

Was denn nun? Die geschäftsführende Kanzlerin und der wohl zukünftige Kanzler übten sich in den letzten Wochen in Führungslosigkeit. Quelle: imago images

Nach Wochen mit neuen Corona-Höchstwerten raffen sich Bund und Länder zu Verhandlungen zusammen. In manchen Unternehmen ist das Prinzip der Führungslosigkeit längst Alltag. Wie es zu Erfolg führt und wo die Grenzen liegen.

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Manuel Müller wird Tag für Tag an seinen ganz persönlichen Machtverlust erinnert. Immer dann, wenn er auf das Firmenlogo seines eigenen Unternehmens blickt. Auf diese vier Buchstaben in hellem Orange: „Emma“ steht dort. Müller gründete 2013 das Matratzen-Start-up Emma – ursprünglich mit blauem Logo. Es prägte über Jahre den Auftritt der Firma, die mit dem Verkauf von Matratzen bekannt wurde, erinnerte die Gründer jeden Tag daran, was sie erreicht hatten. Während das Team wuchs, Emma in mehr als 30 Länder expandierte, blieb das Logo blau.

Bis in diesem Monat. Müller war kein Fan eines orangenen Logos, sagt er. Doch obwohl er Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer ist, stand ihm in dieser Frage keine Entscheidung zu. Denn das Unternehmen verzichtet auf klassische Führungskräfte, arbeitet datengetrieben. Und weil Umfragen unter den Kunden nun mal gezeigt hatten, dass orange besser ankommt, schaffte Emma das ursprüngliche Logo kurzerhand ab. 

Budgets, Lohnboni, Abteilungen und ihre hochdotierten Leiter – alles Bestandteile einer alten Arbeitswelt. Bei Emma ist jeder Unternehmer. Statt in Abteilungen arbeiten die Mitarbeiter projektbezogen in Teams. „Die Teams“, sagt Müller, „haben zwar einen Leiter, doch diese sind nicht von ihm abhängig“. Urlaubstage, Dienstreisen, Budgets: Nichts muss beim Teamleiter erbettelt werden. Von vielen Projekten weiß Müller häufig gar nichts. Selbst bei denen, für die seine Mitarbeiter mehrere Millionen Euro ausgeben, beim Wechsel einer Software zum Beispiel.

Nicht die klassischen Chefs: Dennis Schmoltzi (links) und Manuel Müller gründeten zusammen die Emma Sleep GmbH. Quelle: Emma Sleep GmbH

Müller und sein Mitgründer, Dennis Schmoltzi, sind austauschbar: „Wir evaluieren alle drei bis vier Monate jeden unserer Mitarbeiter“, sagt Müller. Die direkten Kollegen beurteilen dann, „wie sich ein Mitarbeiter im Team entwickelt“. Und: „Auch wir Gründer werden regelmäßig bewertet.“ Statt auf Führungskräfte, die die Geschicke der Mitarbeiter unter ihnen lenken, kommt es bei Emma auf Selbstführung an.

Politisches Vakuum

Emma ist nicht das einzige Unternehmen, das Hierarchien und Führungskräfte abgeschafft hat. Und damit in gewisser Weise der aktuellen Regierung in Berlin ähnelt: So wie Müller und Mitgründer Schmoltzi im Kleinen nur noch auf dem Papier klassische Geschäftsführer sind, führen Kanzlerin Angela Merkel und ihre Minister im Großen Stil die Geschäfte: eher pro forma als de facto. In der Hauptstadt lässt sich auf dramatische Art beobachten, wohin diese Führungslosigkeit zumindest im politischen Betrieb führen kann: Während das Robert Koch-Institut (RKI) beinahe jeden Tag neue Rekordwerte bei den Coronainzidenzen vermeldet, hält sich die geschäftsführende Regierung auffällig lautlos zurück. Die neue Regierung steht noch nicht – und entwickelt während der Koalitionsverhandlungen quasi nebenbei Gesetzesentwürfe, die viele Experten prompt als zu lasch bewerteten.

Erst 24 Tage nachdem die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland die Schwelle von 100 Fällen pro 100.000 Einwohner überschritt, treffen sich Bund und Länder zur Ministerpräsidentenkonferenz. Bei einer Inzidenz von über 330. War die Versammlung noch vor der Wahl ein wichtiges Gremium, das die Republik durch das erste Pandemiejahr manövrierte, entsteht in diesen Tagen der Eindruck, die Verantwortlichen müssten sich erst dazu aufraffen, über Maßnahmen überhaupt zu debattieren.

Zwar tragen die Firmen, die ihr gesamtes Konzept auf dem führungslosen Führen aufbauen, keine Verantwortung für ein ganzes Land. Doch in den Unternehmen lässt sich erkennen, warum es nicht immer starre Hierarchien braucht und wie viel Führungslosigkeit zuträglich für wirtschaftlichen Erfolg und menschlichen Zusammenhalt ist.



Isabell Welpe, Inhaberin des Lehrstuhls für Strategie und Organisation an der Technischen Universität München, kennt die Vor- und Nachteile solcher Konzepte: „Völlige Basisdemokratie“, sagt sie, „kann Unternehmen in den Ruin treiben, wenn die Mitarbeiter nicht mitziehen – ihnen aber auch eine Menge Geld und Zeit sparen“. Wenn die Belegschaft sich nicht selbst führen könne, „wäre es unternehmerischer Wahnsinn, auf Agilität und Selbstverantwortung zu setzen“, sagt Welpe.

Dass nicht jeder für die Selbstorganisation gemacht sei, zeige eine politische Debatte: „Offenbar können wir nicht allen die Entscheidung überlassen, ob die Impfung nun für sie sinnvoll ist – oder nicht.“ Bei mitunter existenziellen Entscheidungen hätten Hierarchien große Vorteile, sagt Welpe: Nicht umsonst gibt der Chefarzt im OP die Kommandos, nicht umsonst ist die Bundeswehr extrem hierarchisch organisiert. „Doch in der Wirtschaft können Hierarchien eben auch Kreativität und Innovationen bremsen“, sagt Welpe.

Häufig würden in Unternehmen oder Organisationen Hierarchie und Demokratie vermengt: „Sie können im Unternehmen auch demokratisch entscheiden, dass die Hierarchie die beste Form der Organisation ist. Und selbst in einer Firma, die mehr oder weniger demokratisch arbeitet, gibt es häufig immer noch Hierarchien“, sagt Welpe.

Praktikanten geben Zehntausende Euro aus

Bei Emma ist das Prinzip aus der Not heraus entstanden: In der Anfangszeit war das Unternehmen nicht üppig finanziert, Kollegen mit Führungserfahrung, die Teams aufbauen und im klassischen Sinne leiten, konnte sich die Firma nicht leisten. Also holten Müller und Schmoltzi erst gar keine Führungskräfte. Mittlerweile ist die Firma auf 800 Mitarbeiter gewachsen, konnte den Umsatz im vergangenen Jahr um fast 170 Prozent steigern. Außerdem stieg 2020 der Duisburger Traditionskonzern Haniel ein, übernahm die Mehrheit der Anteile. Hinter Müller und Schmoltzi liegen rasante Jahre.

Heute unterschrieben selbst Praktikanten bei Emma Verträge über 10.000 Euro, erzählt Müller. Etwa wenn sie eine Werbekooperation mit einem Influencer an Land zögen. Um Erlaubnis müssten sie nicht bitten: „Ihre Teamleiter müssen sie bloß darüber in Kenntnis setzen, in einer Mail“, sagt Müller. Widerspricht der Teamleiter nicht innerhalb einer Frist, etwa bis zum Feierabend, kann das Geld fließen. Die Strategie birgt für sein Unternehmen auch eine Gefahr, nicht jede Kooperation rechnet sich am Ende, mal fließt viel zu viel Geld. Solche Fehler nimmt Müller in Kauf, „für Agilität und Flexibilität“. In Summe bringe diese hohe Eigenverantwortung mehr, „als sie uns kostet“, sagt Müller.

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