Planlose Coronapolitik Führungslosigkeit muss nicht im Chaos enden – diese Unternehmen machen es vor

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Weniger Orchester, mehr Jazz

Solche Herausforderungen kennt auch Björn Waide. Er ist Geschäftsführer bei Smartsteuer, jedoch nur formalrechtlich, weil seine GmbH, die eine Software für die Steuererklärung anbietet, nun mal einen Geschäftsführer braucht. Der Klassik-Fan bemüht meist einen musikalischen Vergleich, wenn er den Wandel der Firma erklärt. Smartsteuer war eine „hochfunktionale Maschinerie“, die stets dasselbe Programm abspielte, sagt Waide. Wie ein Orchester. „Mit uns Geschäftsführern an der Spitze als Dirigenten“. Ein solides Geschäft, allerdings ohne wirkliche Innovationen. Um die zu fördern, schaffte Waide die Hierarchien ab, stellte neue Regeln für das Zusammenarbeiten auf. „Vor Beginn des Transformationsprozesses waren einige Kollegen besorgt“, sagt Waide. „Sie fragten sich, ob das gut gehen kann.“ Das tat es.

„Heute arbeiten wir viel freier – eher wie eine Jazzband“, sagt Waide. Ende 2019 etablierte Smartsteuer den neuen Führungsstil ohne feste Führung, kurz vor dem Ausbruch der Pandemie. „Als wir das Team ins Homeoffice schicken mussten“, sagt Waide, „hatte ich Panik“. Er habe sich gefragt, wie die Kollegen nun zusammenhalten können. Die Zeit in der Pandemie beschreibt er als „holprige Achterbahnfahrt“. Doch auch in der Zeit wirkte die Selbstorganisation: „Zum Glück hat sich ein Team gefunden, das zum Beispiel einen täglichen Call etablierte, um 9 Uhr. Damit sich alle einmal am Tag sehen – das machen wir bis heute“, sagt Waide.

Damit Führungslosigkeit nicht im Chaos endet, brauche es Regeln, sagt Isabell Welpe von der TUM. „Aufgaben, Rollen, Zuständigkeiten und Berichtspflichten müssen glasklar verteilt sein.“ Waide und seine Kollegen bei Smartsteuer schrieben alle Regeln in mehreren Dokumenten nieder. „Etwa dass jeder frei über Budgets und Urlaub entscheiden darf oder auch Auszubildende Verantwortung übernehmen müssen“, sagt Waide. So habe eine Auszubildende etwa die Entwicklung einer App geleitet.

Björn Waide ist seit 2013 Geschäftsführer von Smartsteuer. 2019 hat er die Reorganisation der Firma initiiert. Heute ist Waide auch noch beim Mutterkonzern von Smartsteuer, der Haufe-Gruppe, tätig. Quelle: PR

Die Abschaffung der Führungskräfte war nicht mal das Ziel von Weide, sondern viel mehr die „Konsequenz“ am Ende des langen Transformationsprozesses. „Als wir alle Regeln aufgeschrieben hatten, fragten wir uns: Was soll jetzt noch unsere Aufgabe als Chef sein?“ Heute sei jeder  Führungskraft in seinem Spezialgebiet. „Ich bin als Geschäftsführer immerhin nicht der Experte für Marketing, Steuern oder IT“, sagt Waide.

Mit dem Machtverlust kommt allerdings nicht jeder Chef klar, der sich an Personalverantwortung, hohes Gehalt und Status gewöhnt hat. Als der US-amerikanische Onlineshop Zappos auf starke Selbstführung umstellte, „unterbreitete das Unternehmen den Mitarbeitern ein Angebot, die Firma mit einer Abfindung zu verlassen“, weiß Isabell Welpe. „Selbst bei diesem modernen, fast hippen Unternehmen, sind 20 Prozent der Belegschaft gegangen.“ Sollte ein solches Modell nun etwa in deutschen Industrieunternehmen eingeführt werden, „dürfte die Ablehnung sicherlich erheblich größer sein“, sagt Welpe.

Von Pyramiden und Zellen

Viele basisdemokratische Modelle haben ihren Ursprung in Techunternehmen. Die seien extrem erfolgreich darin, Talente mit dem Wunsch nach Eigenverantwortung einzustellen, die „teils besser sind als die bisherigen Mitarbeiter und auch die Führungskräfte“, sagt Welpe. Dann könnte eine Firma auch weniger formale Führungskräfte beschäftigen. „Diese sind ja teuer und die Abstimmung von Fach- mit Führungskräften kostet natürlich immer auch Zeit.“

Neben den richtigen Regeln und Kollegen brauche es laut Welpe auch ein anpassungsfähiges System. Diese Erfahrung musste auch das Unternehmen Traum-Ferienwohnungen  machen. Beim Ferienwohnungsvermittler in Bremen etablierten die damaligen Gründer und Geschäftsführer eine neue Organisationsform: Statt in einer Pyramidenstruktur zu arbeiten, organisierten sich Teams in Zellen – samt ganz eigener Führungsverantwortung. Das mittlere Management wurde abgeschafft. Die Geschäftsführer, gewissermaßen als letzte Instanz, gab es jedoch weiterhin.

„Jede Zelle war auf eine Kundengruppe, also Privatvermieter, gewerbliche Anbieter und Urlauber, ausgerichtet“, sollte Kundensupport, Sales, Marketing und Produkt für diese Gruppe organisieren, erzählt Mirco Erdmann, der bei dem Unternehmen die Geschäftskunden betreut. In der vierten Zelle saßen die Geschäftsführer, die Personalabteilung und die interne IT, die sich im „Rahmen der Selbstorganisation als Dienstleister verstanden und deren Hauptaufgabe es war, Sorge dafür zu tragen, dass die anderen drei Zellen ihren Job erfolgreich ausüben konnten“, sagt Erdmann.

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Das Modell allerdings ist seit Sommer 2020 Geschichte, kurz zuvor wurde der bisherige Eigentümer von Traum-Ferienwohnungen von einem indischen Konzern übernommen. Die Firma arbeitet zwar noch heute recht modern: In einer hybriden Mischung aus Pyramide und Zellen, wie Erdmann sagt, gebe es keine Urlaubsanträge, die Mitarbeiter arbeiteten in Vertrauensarbeitszeit, wann und wo sie wollen. Allerdings stehen seit rund zwei Jahren wieder Führungskräfte über ihnen. Erdmann arbeitete in den verschiedenen Phasen bei Traum-Ferienwohnungen - und sagt: Selbstorganisation könne vor allem in kleinen Firmen und Start-ups funktionieren. Ab einer bestimmten Firmengröße stoße sie unweigerlich an ihre Grenzen.

Für die Bundesregierung mit ihren 15 geschäftsführenden Ministern könnte die Selbstführung ja dennoch etwas sein. Zumindest in der aktuellen Übergangsphase.

Mehr zum Thema: Neue Technologien, neue Geschäftsmodelle, neue Abläufe: Veränderung ist in der Arbeitswelt zum ständigen Begleiter geworden. Anpassungsfähigkeit ist die Tugend der Stunde. Wie erwirbt man die?

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