Produktivität Warum weniger arbeiten mehr bringt - und wie es gelingt

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Statussymbol der Leistungselite

In den meisten westlichen Industrienationen gelten lange Arbeitstage noch immer als Beweis für besonderes Engagement. Allein im Jahr 2016 sammelten die Deutschen rund 1,7 Milliarden Überstunden an, mehr als die Hälfte davon unbezahlt. Das geht aus einer aktuellen Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion der Linken hervor. Wenig überraschend: Die meiste Mehrarbeit leisteten Fach- und Führungskräfte. Doch in vielen Branchen – etwa bei Finanzdienstleistern, Unternehmensberatern und Juristen – verzichten auch Angestellte ohne Personal- oder Projektverantwortung auf den pünktlichen Feierabend. Nach Hause gehen, bevor der Vorgesetzte es tut? Undenkbar.

Das Diktat der Plackerei verstellt Managern oft den Blick dafür, wie belastet ihre Mitarbeiter tatsächlich sind – denn Arbeitszeit ist dehnbar wie Kaugummi. Das konnten zwei US-Forscher mit einer originellen Studie belegen. Teresa Amabile von der Harvard Business School und Andrew Brodsky von der Universität von Texas stellten kürzlich 1000 Freiwilligen eine besonders langweilige Aufgabe: Sie sollten Sätze abschreiben, wobei ihnen das Forscherduo bewusst zu viel Zeit einräumte. Doch anstatt den stumpfsinnigen Job schnell hinter sich zu bringen, begannen die Probanden zu trödeln.

Die meisten Menschen hassen Langeweile. Deshalb täuschen sie lieber Betriebsamkeit vor, anstatt Zeiten des Nichtstuns zu ertragen. Amabiles Studie ergab: 78 Prozent der Beschäftigten erlebten im Büro Phasen des Leerlaufs – zum Beispiel, weil sie auf Feedback eines Kollegen warteten, Geräte nicht funktionierten oder sie in überflüssigen Meetings sitzen mussten.

Überstunden, Unterforderung, wenig Flexibilität: So arbeitet Deutschland 2017

Amabiles Test zeigt allerdings auch, wie leicht diesem Dilemma zu entkommen wäre: In einer zweiten Versuchsreihe bot sie ihren Probanden an, im Internet zu surfen, sobald sie ihre Aufgabe erledigt hatten. Die Aussicht auf diese freie Zeit beschleunigte das Arbeiten der Versuchsteilnehmer immens. Nun brauchten sie für die Aufgabe zehn Prozent weniger Zeit – ohne dass ihnen dabei mehr Fehler unterlaufen wären.
Freizeit als Motivator: Dieses Prinzip nutzen inzwischen auch Unternehmen in Deutschland. Zum Beispiel die Agentur Rheingans Digital Enablers. Dort arbeitet die Belegschaft seit dem vergangenen Herbst nur von 8 bis 13 Uhr. „Jeden Morgen treffen wir uns zu einer kurzen Besprechung, danach weiß jeder, was zu tun ist, und legt los – leise und möglichst ungestört“, sagt Geschäftsführer Lasse Rheingans. Die Stille im Büro sei wichtig, damit die Kollegen fokussiert arbeiten könnten, so der 37-Jährige. Deshalb würden zum Beispiel auch E-Mails nur zwei Mal täglich abgerufen, jeweils morgens und mittags, kurz vor Feierabend.

Der Arbeits- und Organisationspsychologe Cornelius König von der Universität des Saarlandes rät Unternehmen, die überlange Arbeitszeiten reduzieren wollen, zur „Stillen Stunde“: Abteilungen sollten Ruhephasen vereinbaren, in denen Mitarbeiter ihr Mailprogramm ausschalten, das Telefon stumm stellen und die Bürotür schließen dürfen, um Nachfragen von Kollegen zu unterbinden.

Bei den Digital Enablers funktioniert das Arbeiten mit einem derart verdichteten Zeitplan bislang gut, sagt Geschäftsführer Rheingans: Kunden und Mitarbeiter seien zufrieden, Aufträge würden termingerecht erledigt – trotz der kürzeren Arbeitszeit. Streng genommen habe er den Arbeitstag seiner Kollegen ohnehin nur um etwa eine Stunde verkürzt, schätzt er. „In anderen Unternehmen arbeitet ja auch kein Mensch ununterbrochen acht Stunden am Stück. Ein bis zwei Stunden gehen stattdessen verloren – in viel zu langen Meetings, durch komplizierte Abstimmungsprozesse oder unnötige E-Mails.“ In einigen Monaten endet die Testphase bei der Bielefelder Agentur, danach will Rheingans entscheiden, ob an einigen Tagen doch länger gearbeitet werden muss – zurück zum Acht-Stunden-Tag will er aber auf keinen Fall.

Ähnlich denken viele Menschen in Deutschland: Bundesweit würden 18 Prozent aller Beschäftigten gerne weniger arbeiten – und würden dafür auch Einbußen beim Gehalt in Kauf nehmen, ergab kürzlich eine Studie des Personaldienstleisters Manpower Group Deutschland.

Auf das steigende Bedürfnis nach mehr Zeithoheit reagieren deshalb auch größere Unternehmen wie der Automobilzulieferer Bosch oder der Technologiekonzern Trumpf. Beide lassen Mitarbeiter – in Absprache mit den Vorgesetzten und im Einklang mit ihrem Team – selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten. „Wir wollten weg von der Präsenz- und hin zur Ergebniskultur“, sagt Bosch-Sprecher Michael Kattau. Nun können Mitarbeiter auch spontan zum Joggen aufbrechen, etwa wenn sie länger auf einen wichtigen Rückruf warten müssen. Oder sie wechseln mittags ins Homeoffice, weil beim Handwerker kein anderer Termin zu bekommen war.

So finden Sie Zeit fürs Wesentliche

Diese Form des Arbeitens verlangt von Führungskräften allerdings ein hohes Maß an Vertrauen. Bosch schickte deshalb zunächst 150 deutsche Manager für eine Woche ins Homeoffice, später weltweit noch einmal 1000. Die Führungskräfte sollten selbst erleben, wie viel effektiver es sich mitunter vom heimischen Schreibtisch aus arbeiten lässt. 80 Prozent der Manager, die bei diesem Experiment dabei waren, arbeiten noch heute einen Tag pro Woche von zu Hause aus, so Kattau.

Josephine Hofmann, Expertin für flexibles Arbeiten am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO), warnt vor allzu radikalen Umbrüchen. „Unternehmen sollten derartige Modelle schrittweise einführen und vorher genau absprechen, wie die Teams den kontinuierlichen Austausch untereinander sichern wollen.“ Denkbar seien feste Präsenztage oder ein Höchstmaß an Tagen, die zusammenhängend im Homeoffice verbracht werden dürfen. Hofmann: „Sonst ist die Gefahr zu groß, dass Mitarbeiter den informellen Kontakt zu den Kollegen verlieren.“

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