Produktivität Stress ist eine Frage der Einstellung

Hektik und Termindruck sind schädlich? Von wegen. Ja, Stress kann krank machen, aber eine Reihe neuer Studien zeigt: Mit der richtigen Attitüde macht Stress auch produktiv.

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Diese Berufe machen depressiv
MontagsbluesBesonders montags fällt es uns schwer, etwas positives am Arbeiten zu finden. Laut einer amerikanischen Studie dauert es im Durchschnitt zwei Stunden und 16 Minuten, bis wir wieder im Arbeitsalltag angekommen sind. Bei Menschen ab dem 45. Lebensjahr dauert es sogar noch zwölf Minuten länger. Doch es gibt nicht nur den Montagsblues: Manche Berufsgruppen laufen besonders stark Gefahr, an einer echten Depression zu erkranken. Allein in Deutschland haben nach Expertenschätzungen rund vier Millionen Menschen eine Depression, die behandelt werden müsste. Doch nur 20 bis 25 Prozent der Betroffenen erhielten eine ausreichende Therapie, sagte Detlef Dietrich, Koordinator des Europäischen Depressionstages. Quelle: dpa
Journalisten und AutorenDie Studie der medizinischen Universität von Cincinnati beinhaltet Daten von etwa 215.000 erwerbstätigen Erwachsenen im US-Bundesstaat Pennsylvania. Die Forscher um den Psychiater Lawson Wulsin interessierte vor allem, in welchen Jobs Depressionen überdurchschnittlich oft auftreten und welche Arbeitskriterien dafür verantwortlich sind. Den Anfang der Top-10-Depressions-Jobs macht die Branche der Journalisten, Autoren und Verleger. Laut der Studie sollen hier etwa 12,4 Prozent der Berufstätigen mit Depressionen zu kämpfen haben. Quelle: dpa
HändlerDer Begriff „Depression“ ist in der Studie klar definiert. Als depressiv zählt, wer mindestens zwei Mal während des Untersuchungszeitraums (2001 bis 2005) krankheitsspezifische, medizinische Hilferufe aufgrund von „größeren depressiven Störungen“ gebraucht hat. Händler aller Art, sowohl für Waren- als auch für Wertpapiere, gelten demnach ebenfalls als überdurchschnittlich depressiv. Platz neun: 12,6 Prozent. Quelle: dpa
Parteien, Vereine & Co.Neben den Hilferufen nach medizinischer Fürsorge flossen noch andere Daten in die Studie ein. Die Forscher beachteten außerdem Informationen wie Alter, Geschlecht, persönliche Gesundheitsvorsorge-Kosten oder körperliche Anstrengung bei der Arbeit. Angestellte in „Membership Organisations“, also beispielsweise politischen Parteien, Gewerkschaften oder Vereinen, belegen mit über 13 Prozent den achten Platz im Stress-Ranking.
UmweltschutzDer Kampf für die Umwelt und gegen Lärm, Verschmutzung und Urbanisierung ist oft nicht nur frustrierend, sondern auch stressig. Knapp 13,2 Prozent der beschäftigten Erwachsenen in dem Sektor gelten laut den Kriterien der Forscher als depressiv. In den USA betrifft das vor allem Beamte, denn die Hauptakteure im Umweltschutz sind staatliche Organisationen und Kommissionen. Quelle: AP
JuristenAls mindestens genauso gefährdet gelten Juristen. Von insgesamt 55 untersuchten Gewerben belegten Anwälte und Rechtsberater den sechsten Platz im Top-Stress-Ranking: Rund 13,3 Prozent der Juristen in Pennsylvania gelten für die Forscher der medizinischen Universität Cincinnati depressiv. Quelle: dpa
PersonaldienstleisterAuf Rang fünf liegen Mitarbeiter im Dienstleistungsbereich. Deren „Ressource“ ist der Mensch – und der ist anfällig: Denn der „Personal Service“ in Pennsylvania hat nach Lawson Wulsin und Co. eine Depressionsrate von knapp über 14 Prozent. Und nicht nur Kopf und Psyche sind von der Krankheit betroffen, sondern offenbar auch der Körper: Schon seit Jahren forscht Wulsin auf diesem Gebiet und geht von einer engen Verbindung von Depression und Herzkrankheiten aus. Gefährdeter als Menschen aus dem Dienstleistungsbereich sind nur vier andere Jobgruppen.

Wer viel zu tun hat, neigt gerne mal zum Jammern – und mit jedem zusätzlichen Punkt auf der To-do-Liste wird das Klagelied ein paar Dezibel lauter. Keith Wilcox hat dafür wenig Verständnis. In einer neuen Studie zeigt der Psychologe von der Columbia-Universität in New York: Wer viel beschäftigt ist, kann sich glücklich schätzen. Denn je mehr man zu tun hat, desto mehr schafft man auch.

Wilcox untersuchte die Daten einer Zeitmanagement-App von rund 28.000 Menschen. Und entdeckte ein interessantes Muster: Zwar verpassten die Personen immer mal wieder eine Deadline. Doch manche ließen sich davon nicht entmutigen und arbeiteten umso fleißiger weiter – falls sie noch andere Aufgaben hatten.


Je mehr Arbeit, desto produktiver?

Die verpasste Frist, gepaart mit dem schlechten Gewissen einer unerledigten Herausforderung, steigerte die Motivation. Und führte letztlich dazu, dass die Menschen die angefangene Aufgabe schneller erledigten als ihre weniger stark beschäftigten Kollegen. Wilcox ist sich der Brisanz seiner Studie bewusst: „Manager könnten feststellen, dass ihre Angestellten eher produktiv sind, wenn sie ihnen mehr Arbeit geben – und nicht weniger.“

Der Angestellte wächst mit seinen Aufgaben, also schütte man ihn mit Arbeit zu? So einfach ist es auch wieder nicht.

Doch tatsächlich findet in der Wissenschaft derzeit ein Paradigmenwechsel statt, der an unserer Vorstellung von Stress rüttelt. Zahlreiche Forscher kommen in jüngster Zeit zum Ergebnis, dass Anstrengung und Hektik nicht Grund zur Sorge sein müssen, sondern Anlass zur Freude werden können. Denn für die Vertreter dieser Denkschule ist Stress vor allem eines: Ansichtssache.

Ich wär dann so weit

Statt verzweifelt zu versuchen, mit Entspannungstees, Atemübungen und Wellnessurlauben dem bösen S-Wort aus dem Weg zu gehen, solle man das Stressgefühl positiv sehen – als Zeichen dafür, dass sich der Körper auf eine Drucksituation vorbereitet.

Die Verfechter dieser Umdeutung sehen sich einer Armee von Buchautoren, Beratern und Therapeuten gegenüber, deren einzige Daseinsberechtigung es ist, Stress zu vermeiden und zu verteufeln. Wäre er plötzlich nur noch hilfreich, es bräche ein ganzer Wirtschaftszweig zusammen. Auch deshalb ist die optimistische Deutung noch lange nicht salonfähig.

Was bei der Arbeit stresst

Seitdem der österreichisch-kanadische Mediziner Hans Selye im Jahr 1936 den Begriff „Stress“ zum ersten Mal prägte, schwang immer ein negativer Unterton mit. Stress galt als Belastung, die man zwar eine Zeit lang aushalten konnte, aber am besten war doch ihre Vermeidung. Selye unterschied später zwar zwischen förderlichem Eustress und schädlichem Disstress. Doch die Idee, dass man allein durch die innere Einstellung die Konsequenzen beeinflussen könnte, ist neu.

Was bedeutet Stress für den Körper?

Dabei ist schon lange bekannt, dass die Stressreaktion, rein biologisch betrachtet, wie ein Turbolader wirkt. Das geschieht automatisch, wenn man mit etwas konfrontiert wird, das sich den eigenen Zielen in den Weg stellt. Das Herz pumpt mehr Blut in Arme, Beine und ins Gehirn, das Immunsystem und der Verdauungstrakt laufen auf Sparflamme, Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin durchfluten den Körper. „Stress ist eine sehr feine Anpassungsreaktion des Körpers auf Anforderungen von außen“, sagt Tim Hagemann, Professor für Arbeitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld.

Doch genau an diesem Punkt kommt es zur entscheidenden Unterscheidung: Ob man diese Reaktion als positiv („Jetzt erst recht!“) oder negativ („Das schaffe ich nie!“) empfindet, entscheidet darüber, eine stressige Situation zu meistern – oder daran zu scheitern. Der Gedanke dahinter: Indem man seine Einstellung zum Stress ändert, beeinflusst man seine Folgen.

Wie das funktioniert, zeigte kürzlich ein Experiment der Psychologin Wendy Berry Mendes von der Universität von Kalifornien in San Francisco. Sie lud Studenten in ihr Labor ein, wo sie den Hochschulzulassungstest Graduate Record Examination (GRE) absolvieren mussten. Die Hälfte der Teilnehmer erhielt vorab die Information, dass die körperliche Stressreaktion die Leistung verbessert. Die andere Hälfte bekam keine Information dazu.

Wenig überraschend: Alle Freiwilligen standen während der Prüfung unter Stress. Doch sammelten diejenigen, die ihn als leistungsfördernd interpretierten, mehr Punkte. Noch Monate später erwies sich die Information als hilfreich: Wer in dieser Zeit den GRE außerhalb des Labors ablegte, erzielte ebenfalls bessere Ergebnisse.

Sieht man das Hindernis als Herausforderung und die körperliche Reaktion als leistungssteigernd, ist das Gelingen wahrscheinlicher, so das Fazit der Forscher. Diese Geisteshaltung, das Mindset, sieht auch Alia Crum als wichtigen Faktor, um mit Stress gut zurechtzukommen. Die Psychologin, die heute an der Universität Stanford in Kalifornien forscht, untersuchte diesen Zusammenhang vor einigen Jahren mit zwei Kollegen genauer.

Yes, we can

Dabei baute sie auf früheren Forschungsergebnissen auf. Wissenschaftler hatten bereits belegen können, dass die innere Einstellung einen großen Effekt auf viele Dinge hat: Wer körperlich anstrengende Arbeit zum Beispiel als gutes Training interpretiert, wird dadurch fitter. Wer Intelligenz als eine beeinflussbare Größe sieht und nicht als gottgegebenes, festgelegtes Talent, lernt mehr und erzielt bessere Noten. Übertragen auf Stress, unterschied Crum daher in ihrer Studie zwischen den Mindsets „Stress ist belastend“ und „Stress ist hilfreich“.

In einem Experiment versetzte sie mehr als 300 Angestellte eines Unternehmens aus der Finanzbranche zufällig in eine dieser Geisteshaltungen. Dazu mussten die Kandidaten im Verlauf einer Woche Lehrvideos über die Folgen von Stress anschauen, die entweder positive oder negative Konsequenzen betonten. Mit einem Fragebogen versuchte Crum danach die Einstellung der Teilnehmer zu Stress zu messen und ihre gefühlte Produktivität und ihre Stimmung zu erfragen. Die subtile Manipulation wirkte: Diejenigen, die Videos mit positiver Botschaft zu Stress geschaut hatten, hatten dadurch eine größere Nähe zur „Stress ist hilfreich“-Einstellung bekommen und fühlten sich besser und produktiver.

Diese Haltung kann – überspitzt formuliert – sogar Leben retten, wie eine Studie von Forschern der Universität von Wisconsin-Madison im Jahr 2012 nahelegt. Das Team wertete einen Datensatz der nationalen Gesundheitsstatistik der USA aus, in dem 29.000 Menschen unter anderem Angaben dazu machen sollten, wie viel Stress sie empfanden und welchen Einfluss er in den vergangenen zwölf Monaten auf ihre Gesundheit gehabt hatte.

Stress ist, was du draus machst

In den darauffolgenden acht Jahren analysierten die Forscher die Todesstatistik und suchten nach einem Zusammenhang zwischen dem gefühlten Stress und der Sterbewahrscheinlichkeit. Die Korrelation, die sie aufdeckten, war eindeutig: Wer viel Stress empfand und gleichzeitig dessen großen Einfluss auf die Gesundheit befürchtete, hatte ein um 43 Prozent erhöhtes Risiko, frühzeitig zu sterben. Wer seine Gesundheit dagegen nicht durch Stress beeinträchtigt sah, hatte kein höheres Sterberisiko.

Dieser positive Effekt der Geisteshaltung könnte eine biologische Ursache haben, wie Jeremy Jamieson von der Harvard Medical School herausfand. Bei der typischen Stressreaktion beschleunigt sich der Herzschlag und die Adern verengen sich. Auf Dauer kann das zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Jamieson beobachtete an seinen Probanden: Wer Stress als hilfreich einstufte, dessen Adern verengten sich nicht, negative gesundheitliche Folgen blieben aus.

„The Upside of Stress“

Solche Studien haben mittlerweile einige Forscher dazu gebracht, ihre Einstellung zu überdenken. Eine prominente Vertreterin ist die Psychologin Kelly McGonigal, die an der Stanford-Universität lehrt. In einem viel beachteten Vortrag auf der Ideenkonferenz Ted rang sich McGonigal schon im Juni 2013 ein Geständnis ab: „Etwas, das ich in den vergangenen Jahren gelehrt habe, hat mehr Schlechtes bewirkt als Gutes. Ich hatte Stress zum Feind erklärt, jetzt habe ich meine Meinung geändert.“ Sie beichtete, dass sie Stress jahrelang verteufelt habe und vor allem darauf aus war, diesen Zustand zu vermeiden. Doch eben das würde die moderne Forschung widerlegen. „Es ist entscheidend, wie man über Stress denkt“, sagt McGonigal. Heute ist die Psychologin geläutert, ihre Erkenntnisse fasste sie im Buch „The Upside of Stress“ zusammen. Ihr Motto: „Stress ist, was du draus machst.“

Einer von McGonigals liebsten Belegen stammt von Michael Poulin von der Universität Buffalo. Er ließ 850 Menschen von stressreichen Ereignissen erzählen, die sie im vergangenen Jahr erlebt hatten, und auch davon, wie viel sie anderen Menschen in dieser Zeit bei deren Problemen geholfen hatten. In den darauffolgenden fünf Jahren untersuchte er die Sterblichkeitsraten seiner Versuchsgruppe.

Die erste Erkenntnis ist so naheliegend wie ernüchternd. Ein einschneidendes, stressreiches Erlebnis wie der Tod eines Angehörigen oder eine Scheidung erhöhten das individuelle Sterberisiko um 30 Prozent. Doch dieser Effekt verpuffte, wenn die Probanden gleichzeitig vielen ihrer Mitmenschen bei der Bewältigung ihrer Probleme halfen.

„Die schädlichen Effekte von Stress sind nicht unvermeidbar“, sagt McGonigal, „Helfen macht belastbarer.“ Außerdem kann Stress noch mit einem weiteren Phänomen in Verbindung gebracht werden: dem Flow. So taufte der Psychologe Mihalyi Csikszentmihalyi in den Siebzigerjahren ein ganz besonderes Gefühl: wenn man einer anspruchsvollen Aufgabe gewachsen ist, alles im Griff hat und sich derart im Arbeitsfluss befindet, dass man alle Ablenkungen ausblendet.

Wechsel zwischen An- und Entspannung ist entscheidend

Aktuelle Studien der Psychologin Corinna Peifer, Professorin an der Ruhr-Uni Bochum zeigen, dass Flow und Stress zusammenhängen. In einer Untersuchung setzte Peifer die Teilnehmer zunächst großem Stress aus. Danach mussten sie eine komplizierte Computersimulation spielen. Und siehe da: Nicht diejenigen, die eine geringe hormonelle Reaktion auf den Stresstest zeigten, kamen bei der Aufgabe am stärksten in den Flow – sondern jene mit einer mittleren Hormonausschüttung. „Physiologisch gesehen sind die Übergänge zwischen Flow und Stress fließend“, sagt Corinna Peifer, „moderater Stress scheint Flow sogar zu fördern.“

Ganz ohne Einschränkung sollte man sich trotzdem nicht in den Stress stürzen. Denn auf die Ausnahmezustände der körperlichen Höchstleistung müssen Ruhephasen folgen. „Der Wechsel zwischen An- und Entspannung ist entscheidend“, sagt Peifer, „deshalb ist es wichtig, nach der Arbeit abzuschalten.“

Außerdem ist das Stressempfinden ohnehin subjektiv. Was der eine noch akzeptabel findet, bringt den anderen schon um den Schlaf. Ob man ihn als positiv oder negativ wahrnimmt, hängt zudem davon ab, ob man sich in der Lage sieht, ein Problem zu lösen oder nicht. „Wie groß eine Bedrohung für einen Menschen ist, lässt sich von außen nur schwer beurteilen“, sagt Tim Hagemann von der Hochschule der Diakonie. Wer nicht genügend Ressourcen zur Bewältigung der Bedrohung zur Verfügung hat, empfindet ein Problem eher als unlösbar. Die Folge: ein Gefühl von Hilflosigkeit.

Das verfolgt einige auch am Feierabend. „Es ist eine Besonderheit des Menschen, dass er sich mit seiner großen Vorstellungsgabe in stressige Situationen hineindenken kann, obwohl keine akute Gefahr besteht“, sagt Hagemann. Wer nachts im Bett über die Probleme im Büro grübelt, tut sich keinen Gefallen. „Stress ist ein toller Mechanismus“, sagt Hagemann, „aber nur, solange er nicht über längere Zeit konstant auftritt.“

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