Psychische Belastungen Warum die Deutschen so ausgelaugt sind

Die Deutschen lassen sich immer länger krankschreiben: Vor allem wegen psychischer Beschwerden fehlten sie zuletzt am Arbeitsplatz. Und das hat nicht nur mit der Arbeit selbst zu tun.

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34,2 Stunden arbeitet der Durchschnitt der Beschäftigten in Deutschland derzeit pro Woche. Das ist weniger als die Beschäftigten in anderen Ländern der Europäischen Union. Und es ist auch weniger als im ersten Quartal dieses Jahres, als die Arbeitszeit hierzulande noch 0,6 Stunden höher lag. Doch Wochenstunden sind nicht unbedingt das richtige Maß für die Arbeitsbelastung. Viele Angestellte spüren in Büro und Werkshalle einen steigenden Druck. Und manchmal macht dieser Druck krank.

Das hat nicht immer etwas mit der Arbeit an sich zu tun. „Die Beschäftigten“, sagt etwa Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des wissenschaftlichen Instituts der AOK, „sind seit zweieinhalb Jahren im Krisenmodus unterwegs: Erst die Pandemie, jetzt der Krieg, die Sorgen um die Energieversorgung und die Umwelt. Das geht nicht spurlos an der Psyche vorbei.“

Ein Drittel der Befragten gab in einer Umfrage von Schröders Institut unter gut 2500 Erwerbstätigen zuletzt an, häufig oder gar ständig unter Lustlosigkeit zu leiden – sich also „wie ausgebrannt“ zu fühlen. Eine Steigerung von vier Prozentpunkten im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie. Mehr als 41 Prozent klagten über Erschöpfung, 35,8 über Wut und Verärgerung, jeder Fünfte über Konzentrationsprobleme – und mehr als jeder Vierte fühlte sich häufig oder ständig niedergeschlagen. All diese Empfindungen stiegen im Vergleich zu der Umfragewelle vor der Pandemie gleich um mehrere Prozentpunkte an. Mehr als zehn Prozent der Befragten gaben sogar an, bei oder vor der Arbeit ständig oder häufig unter Angstgefühlen zu leiden.

von Henrike Adamsen, Varinia Bernau, Jannik Deters, Karin Finkenzeller, Philipp Frohn, Dominik Reintjes, Dieter Schnaas

Vorläufige Daten des Bundesgesundheitsministeriums für 2022 zeigen, dass der Krankenstand der gesetzlich Versicherten im Durchschnitt in diesem Jahr bei 5,4 Prozent liegt. Im vergangenen Jahr lag der Wert bei 4,3 Prozent, vor zehn Jahren sogar nur bei 3,6 Prozent. Dass Versicherte sich in der Pandemie per Telefon krankschreiben lassen konnten, dürfte den Trend zusätzlich verschärft haben. Doch dass die Krankschreibungen jetzt über Jahre hinweg derart zunehmen, begründen Experten nicht etwa damit, dass deutsche Ärzte ihre Patienten schneller und länger krankschreiben. Sondern mit den Erkrankungen selbst.

Wesentlicher Treiber des Krankenstands waren in den vergangenen Jahren nämlich die psychischen Erkrankungen. In den Daten der erwerbstätigen AOK-Versicherten, mehr als 14 Millionen Menschen, zeigt sich, dass die Tage, die Versicherte aufgrund psychischer Beschwerden krankgeschrieben waren, seit 2011 um mehr als 53 Prozent gestiegen sind. Bei Verletzungen und Muskel- oder Skelettbeschwerden verzeichnet die AOK für das Jahr 2021 nur leichte Steigerungsraten, bei Versicherten mit Herz-Kreislauf-Beschwerden, Erkrankungen der Atemwege oder des Verdauungssystems zeigten sich 2021 sogar weniger Fehltage als noch vor zehn Jahren. „Unsere Daten zeigen, dass die psychischen Beschwerden in den vergangenen Jahren zwar insgesamt nur etwas häufiger auftreten als früher. Doch Beschäftigte fallen mit psychischen Beschwerden heute wesentlich länger aus als noch vor fünf oder zehn Jahren“, sagt Helmut Schröder.



Höchststände in Erziehung und Finanzwirtschaft

Die AOK wertete die Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen auch nach unterschiedlichen Branchen aus. Über alle Branchen hinweg entfielen zwölf Prozent aller Tage, an denen Beschäftigte arbeitsunfähig waren, auf psychische Beschwerden. Am höchsten war dieser Wert im vergangenen Jahr in der Erziehung und im Unterricht mit 16,8 Prozent. Auch die Beschäftigten in Banken und Versicherungen fehlten 2021 besonders häufig aufgrund von psychischen Beschwerden: an 16,7 Prozent der gesamten Krankheitstage. In der Finanzwirtschaft sind Vertriebler mit 21,3 Prozent am häufigsten betroffen. Das Gesundheits- und Sozialwesen folgt mit 16,2 Prozent und der öffentlichen Verwaltung mit 15,2 Prozent. Wer in der Personaldienstleistung der öffentlichen Verwaltung arbeitet, fehlte an 22,8 Prozent aller Krankheitstage aufgrund von psychischen Beschwerden.

Besser läuft es dagegen vor allem in der Bauwirtschaft. Nur 6,4 Prozent der Krankheitstage entfallen auf psychische Beschwerden. In der Land- und Forstwirtschaft sind es 7,3. Und im verarbeitenden Gewerbe und in der Metallindustrie knapp zehn Prozent. Für diese beiden Branchen lässt sich in den Daten der AOK beobachten, dass Büromitarbeiter am häufigsten unter psychischen Beschwerden wie etwa Belastungsstörungen leiden.

Hinweis: In einer früheren Version wurde in diesem Text auch auf ein Jobsharing bei Evonik verwiesen – als ein Modell, mit dem Unternehmen den Druck von ihren Angestellten nehmen. Die Mitarbeiterin, die in einem solchen Modell arbeitet, fühlte sich allerdings in einen falschen Kontext gerückt, weil sie keine psychischen Probleme oder längere Krankheitszeiten hat. Wir haben uns deshalb entschieden, diese Passagen aus dem Text zu entfernen.

Lesen Sie auch: Sind die Deutschen zu faul? Die Titelgeschichte der WirtschaftsWoche.

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