Die eine weiß schon in der Mittelstufe, dass sie einmal Menschen aufschneiden und damit Leben retten will. Der andere merkt im planlos begonnenen BWL-Studium, dass er auf Zahlen steht und Richtung Buchhaltung geht. Der nächsten dämmert mit 45: Das, was ich da 20 Jahre lang gemacht habe, entspricht mir überhaupt nicht. Schränkt mich ein. Langweilt mich.
Ob Menschen „die richtige Passung“ gefunden haben, ist für ihre Zufriedenheit entscheidend. So formuliert es der Personalchef eines großen deutschen Konzerns: „Jeder hat ein Talent, aber welches ist meines?“ Menschen, die diese Frage für sich beantworten können, seien geistig und physisch gesünder, sagt der Personaler.
Das Problem: Offenbar wissen viele Deutsche die Antwort darauf nicht. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sie häufig unmotiviert und antriebslos sind. Das hat auch viel mit Geld zu tun: Die Befragten machen sich aufgrund der multiplen Krisen des Jahres 2022 finanzielle Sorgen oder finden schlicht, sie seien zu schlecht bezahlt. Aber eben nicht nur: Wer einer Tätigkeit nachgeht, die ihn erfüllt, tut dies gerne. Wer nur um des Überlebens willen arbeitet, plagt sich.
Und hier kommt ein Hilfsmittel ins Spiel, das Raum für diese Erfüllung geben soll: das bedingungslose Grundeinkommen (BGE).
Jemand, der finanziell abgesichert ist, nimmt sich mutmaßlich mehr Zeit, die Beschäftigung zu finden, die ihn glücklich macht. So die Befürworter. Demnach würde die Arbeitsmotivation durch das BGE steigen, nicht sinken, wie es die Gegner befürchten. Ein BGE, das Menschen „von den Relikten einer autoritären Erwerbsarbeitsgesellschaft befreit“, führe „nicht in die völlige Sinnlosigkeit, sondern in eine selbstbestimmtere Welt“, schreibt der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch „Freiheit für alle“. Arbeit zu haben werde „nicht mehr automatisch als Glückszustand bewertet, denn es kommt immer stärker auf die Qualität und die genauen Umstände des Arbeitens an“.
Was passiert mit den Menschen, die ein Grundeinkommen empfangen? Werden alle faul und gehen nie wieder arbeiten? Oder ist es andersherum und sie werden produktiver, weil das Grundeinkommen erstmals ausreichend finanzielle Sicherheit verschafft, sodass sie endlich kreativ werden können und nur so viel arbeiten, wie es tatsächlich Spaß macht?
Das BGE, je nach Definition eine jahrzehnte- bis jahrhundertealte Idee, genießt in der Debatte um die sozialstaatliche Sicherung in Deutschland eine hohe Aufmerksamkeit. Zwar sind wir von einem grundlegenden Systemwechsel des Sozialstaates weit entfernt. Das viel realistischere von der Ampelkoalition erdachte Bürgergeld hat der Bundesrat am Montag vorerst gestoppt. Das Vorhaben muss nun in den Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat.
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Gleichwohl erhitzt die Dynamik um das Narrativ des Grundeinkommens die Gemüter. Leidenschaftlich streiten Ökonomen darüber, ob ein BGE finanzierbar wäre. Ein Gutachten des wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium (BMF) kam zu dem Schluss, dass es genau das nicht sei. Wirtschaftswissenschaftler wie Thomas Straubhaar, langjähriger VWL-Professor der Universität Hamburg, hielten dagegen. Straubhaar sagte, ein BGE sei über das Modell der negativen Einkommensteuer sehr wohl finanzierbar – „und zwar ohne steuerliche Mehrbelastung für die Bevölkerung“. Wo ein politischer Wille sei, sei auch ein ökonomischer Weg, schrieb er in einem Gastbeitrag für die WirtschaftsWoche.
Aufklärung über langfristigere Auswirkungen eines BGE auf die Empfänger könnte das im August 2020 gestartete „Pilotprojekt Grundeinkommen“ leisten. In dem Projekt des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Vereins Mein Grundeinkommen bekommen 122 Personen drei Jahre lang monatlich 1200 Euro. Alle sechs Monate befragen die Forscher die Teilnehmer. Einer von ihnen hat aufgrund des zusätzlichen, steuerfreien Einkommens seinen Zweitjob als Versicherungsmakler aufgegeben. Eine andere macht eineinhalb Jahre Elternzeit und hat keinen Stress bei der Kitasuche, wie die „taz“ berichtete. Im Frühjahr 2023 erscheint der Zwischenbericht des DIW.
Frühere Untersuchungen auch in anderen Ländern kamen zu dem Ergebnis, dass BGE-Bezieher besser schlafen und bessere Entscheidungen treffen. „Sobald man unter Druck steht – sei es durch fehlende finanzielle Mittel oder Zukunftssorgen –, gehen kognitive Kapazitäten verloren“, stellte etwa Susann Fiedler vom Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern fest, die an der Langzeitstudie beteiligt ist.
Der Soziologe Sascha Liebermann verwies im Interview mit der WirtschaftsWoche darauf, dass ein Grundeinkommen die Machtverschiebung am Arbeitsmarkt von den Arbeitgebern hin zu den Arbeitnehmern noch verstärke. Menschen seien freier in ihrer Jobwahl, weil sie weniger von finanziellen Zwängen getrieben seien.
Doch was die Freiheit des einzelnen, sich Zeit mit einer Vertragsunterschrift zu lassen, Ansprüche zu stellen oder zu kündigen, stärken würde, hätte für die Unternehmen wohl folgenreiche Konsequenzen. Schon jetzt setzt ihnen der Fachkräftemangel zu. Die Kostensteigerungen aufgrund der Energiekrise und der hohen Inflation zwingen sie zudem zu Einsparungen – auch bei den Mitarbeitern. Wie stark diese ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen werden, wird der Winter zeigen.
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