Rhetorik Die Kunst des Bluffs

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Sozialer Schmierstoff

Weiße Lügen gehen uns deshalb ganz leicht von den Lippen, manche Psychologen glauben sogar, bis zu 200 Mal am Tag. Handfeste Lügen erzählen wir dagegen nur etwa zweimal täglich. Diese „black lies“ können mitunter verheerend wirken: Fliegt der Schwindel auf, ist das Vertrauen des Gegenübers zerstört – und der eigene Ruf auf Dauer ruiniert. Schönfärberei hingegen wird häufig akzeptiert. Beim ersten Date etwa, aber auch beim Vorstellungsgespräch, erklärt Psychologin Suchotzki. „Alle Beteiligten wissen in dieser Situation, dass sowohl der Bewerber als auch das Unternehmen in besonders gutem Licht dastehen wollen.“

Wer eigene Erfolge aber immer noch übertrieben positiv darstellt, wenn er längst Teil eines Teams ist, macht sich bei Kollegen schnell unbeliebt – und kann Vorgesetzte enttäuschen, wenn die Luftnummer auffliegt. Auch Untersuchungen der finnischen Universität Aalto zeigen eindrücklich, wie soziale Netzwerke dann leiden: Im Jahr 2015 entwickelten die beiden Informatiker Kimmo Kaski und Robin Dunbar ein Rechenmodell, das die Kontakte zwischen 100 Teammitgliedern abbildet. Radikale Ehrlichkeit schmälerte den Zusammenhalt innerhalb dieser Gruppe. Wo dagegen wohlmeinend gelogen wurde, entwickelten sich durch die gegenseitigen Komplimente und Schmeicheleien enge Bindungen.

Bleibt eine dritte Testgruppe: die notorischen Lügner. Sie verbreiten Unwahrheiten in erster Linie aus rein egoistischen Motiven – und isolieren sich damit den Berechnungen zufolge extrem schnell vom Rest des Teams. Der Effekt steigert sich noch, wenn mehrere Teilnehmer bereit sind zum falschen Spiel. Dann bricht das Vertrauen ineinander so stark ein, dass die Gruppe sich zu einem Team von Einzelkämpfern entwickelt – für Unternehmen fatal.

Schlaue Chefs machen sich deshalb das ganz unterschiedliche Talent ihrer Mitarbeiter zur weißen Lüge zunutze – und strafen Hochstapler ab. Udo Witte etwa, Geschäftsführer des niederländischen Unternehmens Aalberts Industries Industrial Services, tritt selbst geradeaus und ehrlich auf. „Diese weichgespülte Sonnenschein-Attitüde, wie sie zum Beispiel in vielen amerikanischen Firmen üblich ist, liegt mir nicht. Ich bin gerne gut gelaunt, auch meinen Mitarbeitern gegenüber – sage aber auch offen, wenn mich etwas stört.“ Deshalb schätzt Witte Kollegen, die mit ihren freundlichen Flunkereien das Team stärken und bei Laune halten. Dreiste Trickser aber stellt der Manager zur Rede und isoliert sie, wenn nötig.

Unehrlicher Finanzsektor

In einigen Branchen scheint die Bereitschaft zur Lüge allerdings zu den erwarteten Soft Skills zu zählen – und der geschickte Umgang mit ihr ein Karrierevorteil. Das legt zumindest eine Untersuchung von Sarah Jenkins und Rick Delbridge nahe. Die Organisationsforscher der Universität von Cardiff beobachteten für ihre 2017 veröffentlichte Studie Mitarbeiter von Callcentern. Diese nahmen im Auftrag anderer Firmen Anrufe entgegen, sollten am Telefon aber den Eindruck erwecken, ein gewöhnliches Sekretariat zu sein. Mit anderen Worten: Sie sollten die Kunden anschwindeln.

Dementsprechend kreativ reagierten die Mitarbeiter auf Nachfragen der Anrufer. Sie antworteten zum Beispiel, der direkte Ansprechpartner sei „nur kurz aus der Tür“ oder telefoniere gerade. Ein moralisches Dilemma sah darin kaum ein Teilnehmer. Stattdessen gaben sie an, sich im Büro eher dem Unternehmen verpflichtet zu fühlen als ihrem eigenen Gewissen.

Der Effekt wurde auch für andere Branchen bestätigt: So fanden Alain Cohn, Ernst Fehr und Michel Maréchal von der Universität Zürich heraus, dass auch Banker überdurchschnittlich häufig betrügen. Für ihre 2014 im Wissenschaftsmagazin „Nature“ veröffentlichte Studie luden sie 330 Mitarbeiter verschiedener Branchen zu einem Gewinnspiel ein, das leicht auszutricksen war. Angestellte aus dem Finanzsektor waren dazu überdurchschnittlich häufig bereit, selbst wenn nur geringe Geldsummen zu gewinnen waren. Zum Betrug neigten sie aber nur dann stärker als andere Teilnehmer, wenn sie kurz zuvor an ihren Job erinnert wurden. Gaben die drei Wirtschaftswissenschaftler dagegen an, sie als Privatperson zu testen, blieben die Werte unauffällig. Offenbar streifen sich Bankangestellten den Pinocchio über wie einen Arbeitskittel.

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