Sexismus-Debatte Der schmale Grat zwischen Flirt und Belästigung

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Die wichtigsten Sexismus-Urteile
Urteil wegen Brust-Belästigung IEin Chef eines städtischen Personalamtes wollte von Beamtenanwärterinnen die genaue BH-Größe wissen. Zudem erkundigte er sich, ob er sie "anmachen dürfe" und schlug Treffen zur "gemeinsamen Entspannung" vor. Das müssen sich die Frauen, die mit ihm arbeiten, nicht gefallen lassen. Der Beamte wurde seines Posten enthoben und um eine Position zurückgestuft, urteilte das Verwaltungsgericht Trier. Quelle: REUTERS
Urteil wegen Brust-Belästigung IIIm Einzelhandel fasste ein Verkäufer einer taubstummen Kollegin an den Busen. Er wurde gefeuert. Er wollte auf Wiedereinstellung klagen. Das Arbeitsgericht Frankfurt urteilte: Die fristlose Kündigung ist gerechtfertigt. Quelle: REUTERS
Machtausübung und BelästigungEin Firmenchef fasste den Körper seiner Mitarbeiterinnen wiederholt ohne erkennbaren Grund an und drängte sich nah an sie. Das Oberlandesgericht Frankfurt wies die Kündigungsschutzklage ab. Am Arbeitsplatz müsse man die allgemein übliche körperliche Distanz wahren. Wer dies nicht tut, der begeht eine sexuelle Belästigung, so die Urteilsbegründung. Quelle: dpa
SMS INoch so ein Beispiel, bei dem Machtausübung und sexuelle Belästigung einhergehen: Ein Vorgesetzter bedrängte eine Auszubildende per SMS und forderte sie zum Geschlechtsverkehr auf. Das Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz urteilte: Weil sich Azubis in einer besonderen Abhängigkeit befinden, ist die fristlose Entlassung des Vorgesetzten gerechtfertigt. Quelle: dpa
SMS IIDie Grenzen zur Belästigung per SMS sind nicht immer eindeutig. Ein Bankangestellter flirtete mit einer Kundin per SMS und sprach sie in der Schalterhalle an. Die Frau fühlte sich belästigt. Doch die Kündigung des Mitarbeiters war nicht gerechtfertigt, wie das Landesarbeitsgericht Rheinland Pfalz urteilte. Der Angestellte machte sich allerdings des Datenmissbrauchs schuldig - er hatte die Telefonnummer der Frau aus der Kundendatei entnommen. Quelle: REUTERS
Belästigung mit dem SmartphoneDas Zeigen von Bildern mit modernen Handys hat seine Grenzen: Ein Krankenpfleger schickte einer Kollegin auf dem Mobiltelefon Bilder mit nackten Frauen und belästigte sie obendrein mit anzüglichen Anrufen, während er im Alkohol-Rausch war. Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein urteilte: Die fristlose Kündigung ist rechtens. Quelle: dpa
Sex gegen GeldManche unmoralischen Angebote können mit Geldstrafen enden. Ein Mann bot einer Frau, die er gerade kennengelernt hatte, Geld gegen Sex an. Die Frau, die keine Prostituierte war, fühlte sich dadurch in ihrer Ehre verletzt. Wegen Beleidigung verurteilte das Oberlandesgericht Oldenburg den Mann zu einer Geldstrafe. Quelle: dpa

Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden in der Europäischen Union etwa 50 Prozent der Frauen schon einmal im Beruf sexuell belästigt. Bereits 2002 legte die EU-Kommission eine Richtlinie vor, die sicherstellen soll, dass Frauen und Männer denselben Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung haben und unter denselben Bedingungen arbeiten. Darin sind die Mitgliedstaaten ausdrücklich aufgefordert, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu bekämpfen.

Nun ist es unmöglich, alle behaupteten Fälle sexueller Belästigung verbaler oder physischer Natur zu beweisen. Doch ebenso unwahrscheinlich ist, dass die Betroffenen lediglich fantasierten. Klar ist in jedem Fall: Die Sexismus-Debatte ist längst vom Stammtisch an den Schreibtisch gewandert – und sorgt in Deutschlands Unternehmen für nachhaltige Verunsicherung.

Zweifelhafte Bemerkungen

In Diskussionsrunden werden zweifelhafte Bemerkungen inzwischen schon mal in „Brüderle“ gemessen. Und Fragen aufgeworfen, die seit Überwindung der Nachkriegsprüderie längst beantwortet schienen – und ab sofort die Grenzen zwischen Sensibilität und geistiger Burka neu definieren könnten.

Wo also ist künftig die Trennlinie zwischen Kompliment und verbaler Belästigung? Wann wird ein kerniger Witz zur inakzeptablen Zote, wann ein anerkennendes Schulterklopfen unter Kollegen zum Kündigungsgrund mit Ansage? Können Männer und Frauen noch unbefangen in gemischten Teams zusammenarbeiten, ohne dass ein Arbeitsrechtler bei jeder Besprechung zugegen ist?

Kleiderordnungen

Müssen Unternehmen, ähnlich wie es an manchen Schulen üblich ist, Kleiderordnungen erlassen, in denen sie zentimetergenau definieren, wie kurz Röcke oder wie tief Ausschnitte am Arbeitsplatz sein dürfen? Sollten Männer den Aufzug verlassen, wenn eine Frau zusteigt, um sich vor einer Klage wegen sexueller Belästigung zu schützen, deren Behauptung sie ohne Zeugen nur schwer widerlegen können?

„Unternehmen sind auf jeden Fall gezwungen, neu über diese Fragestellungen nachzudenken“, sagt Managementtrainerin Birgit Bergmann. „Die derzeitige Debatte wird die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit am Arbeitsplatz neu definieren.“

Sexismus: Regeln für Anstand im Büro

Sexismus senkt Produktivität

Nicht zuletzt, weil sexuelle Belästigung dem Arbeitgeber selbst schadet. Die Folge sind nicht selten niedrigere Produktivität, höhere Fehlzeiten, größere Wechselbereitschaft, sinkende Loyalität. Und ein Klima der Angst. Zu diesem Ergebnis kam die Psychologin Kathi Miner-Rubino von der Texas-A&M-Universität. Sie befragte 2007 knapp 2000 Angestellte einer Hochschule. Das Ergebnis: Wer Akte sexueller Belästigung auch nur beobachtet habe, fühlte sich an seinem Arbeitsplatz unwohler, war unproduktiver, neigte eher zum Burn-out und hatte den Job häufig schon innerlich gekündigt – egal, ob Männer oder Frauen. Und diese Gefühle waren umso stärker, wenn sie den Eindruck hatten, dass ihr Arbeitgeber nichts gegen diese Belästigung unternahm. Allein die Beobachtung einer Belästigung reichte schon aus, um die Angestellten ins geistige Exil zu schicken.

Darauf haben sich deutsche Unternehmen bereits eingestellt, wie eine Umfrage der WirtschaftsWoche unter den 30 größten börsennotierten Unternehmen ergab. Egal, ob „Verhaltenskodex“, „Corporate Rules“ oder „Business Conduct Guidelines“ – alle erwarten von ihren Mitarbeitern, dass sie respektvoll miteinander umgehen. Doch manche gehen noch weiter.

Lernprogramm zur Gleichbehandlung

Die Allianz lässt alle neuen Mitarbeiter in den ersten Arbeitstagen ein Lernprogramm zum Thema Gleichbehandlung absolvieren. Das Programm schließt mit einer Zertifizierung ab, die in der Personalakte abgelegt wird. Wer dieses Wissen auffrischen will, kann das jederzeit tun.

Der Telekommunikationskonzern Telefónica schickt seine 5000 Mitarbeiter in Deutschland alle drei Jahre in ein Training zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In einem Online-Tool werden diverse Situationen geschildert, zu denen die Mitarbeiter die richtige Herangehensweise auswählen oder eine Einschätzung der Situation abgeben sollen.

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