Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wurden in der Europäischen Union etwa 50 Prozent der Frauen schon einmal im Beruf sexuell belästigt. Bereits 2002 legte die EU-Kommission eine Richtlinie vor, die sicherstellen soll, dass Frauen und Männer denselben Zugang zu Ausbildung und Beschäftigung haben und unter denselben Bedingungen arbeiten. Darin sind die Mitgliedstaaten ausdrücklich aufgefordert, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu bekämpfen.
Nun ist es unmöglich, alle behaupteten Fälle sexueller Belästigung verbaler oder physischer Natur zu beweisen. Doch ebenso unwahrscheinlich ist, dass die Betroffenen lediglich fantasierten. Klar ist in jedem Fall: Die Sexismus-Debatte ist längst vom Stammtisch an den Schreibtisch gewandert – und sorgt in Deutschlands Unternehmen für nachhaltige Verunsicherung.
Zweifelhafte Bemerkungen
In Diskussionsrunden werden zweifelhafte Bemerkungen inzwischen schon mal in „Brüderle“ gemessen. Und Fragen aufgeworfen, die seit Überwindung der Nachkriegsprüderie längst beantwortet schienen – und ab sofort die Grenzen zwischen Sensibilität und geistiger Burka neu definieren könnten.
Wo also ist künftig die Trennlinie zwischen Kompliment und verbaler Belästigung? Wann wird ein kerniger Witz zur inakzeptablen Zote, wann ein anerkennendes Schulterklopfen unter Kollegen zum Kündigungsgrund mit Ansage? Können Männer und Frauen noch unbefangen in gemischten Teams zusammenarbeiten, ohne dass ein Arbeitsrechtler bei jeder Besprechung zugegen ist?
Kleiderordnungen
Müssen Unternehmen, ähnlich wie es an manchen Schulen üblich ist, Kleiderordnungen erlassen, in denen sie zentimetergenau definieren, wie kurz Röcke oder wie tief Ausschnitte am Arbeitsplatz sein dürfen? Sollten Männer den Aufzug verlassen, wenn eine Frau zusteigt, um sich vor einer Klage wegen sexueller Belästigung zu schützen, deren Behauptung sie ohne Zeugen nur schwer widerlegen können?
„Unternehmen sind auf jeden Fall gezwungen, neu über diese Fragestellungen nachzudenken“, sagt Managementtrainerin Birgit Bergmann. „Die derzeitige Debatte wird die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit am Arbeitsplatz neu definieren.“
Sexismus: Regeln für Anstand im Büro
Chefs sind verantwortlich für das Büroklima. Umso wichtiger, dass sie alle fair behandeln, egal, ob Mann oder Frau.
Berührungen zwischen Chefs und Mitarbeitern sind unangebracht. Auf den Schulterklopfer verzichten Sie besser.
Bei Gesprächen besser einen neutralen Zeugen hinzuziehen.
Auch gut gemeintes, persönliches Lob kann leicht umgedeutet werden.
Schmeicheleien und Komplimente sind in Büro, Betrieb und Kantine tabu.
Unternehmen sollten in Führungskräfte-Coachings sexuelle Belästigung thematisieren.
Meidet jemand einen Kollegen bewusst? Das kann ein erstes Indiz sein – nicht jeder meldet Belästigung sofort.
Erfahren Vorgesetzte von einer sexuellen Belästigung in ihrer Abteilung, sollten sie es ernst nehmen – ohne voreilig zu urteilen.
Bestätigt sich ein Verdacht, müssen Sie ungebührliches Verhalten sanktionieren – bis hin zur Kündigung.
Nach einem Übergriff den Vorfall im Team besprechen, ohne die Privatsphäre des Betroffenen zu verletzen.
Sexismus senkt Produktivität
Nicht zuletzt, weil sexuelle Belästigung dem Arbeitgeber selbst schadet. Die Folge sind nicht selten niedrigere Produktivität, höhere Fehlzeiten, größere Wechselbereitschaft, sinkende Loyalität. Und ein Klima der Angst. Zu diesem Ergebnis kam die Psychologin Kathi Miner-Rubino von der Texas-A&M-Universität. Sie befragte 2007 knapp 2000 Angestellte einer Hochschule. Das Ergebnis: Wer Akte sexueller Belästigung auch nur beobachtet habe, fühlte sich an seinem Arbeitsplatz unwohler, war unproduktiver, neigte eher zum Burn-out und hatte den Job häufig schon innerlich gekündigt – egal, ob Männer oder Frauen. Und diese Gefühle waren umso stärker, wenn sie den Eindruck hatten, dass ihr Arbeitgeber nichts gegen diese Belästigung unternahm. Allein die Beobachtung einer Belästigung reichte schon aus, um die Angestellten ins geistige Exil zu schicken.
Darauf haben sich deutsche Unternehmen bereits eingestellt, wie eine Umfrage der WirtschaftsWoche unter den 30 größten börsennotierten Unternehmen ergab. Egal, ob „Verhaltenskodex“, „Corporate Rules“ oder „Business Conduct Guidelines“ – alle erwarten von ihren Mitarbeitern, dass sie respektvoll miteinander umgehen. Doch manche gehen noch weiter.
Lernprogramm zur Gleichbehandlung
Die Allianz lässt alle neuen Mitarbeiter in den ersten Arbeitstagen ein Lernprogramm zum Thema Gleichbehandlung absolvieren. Das Programm schließt mit einer Zertifizierung ab, die in der Personalakte abgelegt wird. Wer dieses Wissen auffrischen will, kann das jederzeit tun.
Der Telekommunikationskonzern Telefónica schickt seine 5000 Mitarbeiter in Deutschland alle drei Jahre in ein Training zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. In einem Online-Tool werden diverse Situationen geschildert, zu denen die Mitarbeiter die richtige Herangehensweise auswählen oder eine Einschätzung der Situation abgeben sollen.