So arbeiten Firmen im Remote-Modus Nie mehr ins Büro

Arbeiten am Strand? Ein Traum, der nicht so unmöglich ist, wie er scheint. Quelle: imago images

Den Job von jedem Ort der Welt erledigen? Der Traum vieler scheitert oft am Chef. Diese Firmen zeigen, worauf es ankommt, damit die Zusammenarbeit über Distanz wirklich gelingt.

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Florian Behn hat noch nie eine einzige E-Mail an seine Kollegen geschrieben. Und auch noch nie eine aus der Belegschaft erhalten. Behn ist Geschäftsführer von GoHiring, einem Anbieter von Software für die Mitarbeitersuche im Internet – und bei dem gilt seit der Gründung vor zehn Jahren: Alle Kollegen arbeiten dort, wo es für sie am praktischsten ist. Die Kommunikation läuft in erster Linie über Slack und Trello. „Wir kommunizieren immer so, dass alle unabhängig vom Ort mitten im Arbeitsgeschehen sind“, sagt Behn. „Auch Offline-Gespräche, Sitzungen et cetera werden dort digital dokumentiert, damit jeder immer von überall darauf zugreifen kann.“

Deutsche Unternehmen holen ihre Belegschaften nach und nach zurück ins Büro – und nicht wenige Führungskräfte stellen auf einmal fest, wie schwer sich der eine oder die andere damit tut. Schließlich haben sie viele Dinge an der mobilen Arbeitswelt in den vergangenen Jahren zu schätzen gelernt: keine nervige Pendelei, zwischendurch mal eine Yogasession einlegen oder sich nebenbei ums kranke Kind kümmern. Als Airbnb im vergangenen Jahr ankündigte, dass jeder Mitarbeiter von jedem Ort der Welt arbeiten dürfe, brachte das auch viele Deutsche ins Schwärmen. Und selbst der Autozulieferer Conti bietet nun immer mehr Mitarbeitern die Möglichkeit zur Workation.

Ein genauerer Blick auf Unternehmen, die es ähnlich handhaben, lohnt sich in diesen Tagen also. Zeigt er doch, wie die Zusammenarbeit gelingen kann, wenn eben keiner mehr ins Büro muss.

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Die digitale Dokumentation bei GoHiring ist ein kleiner, aber wichtiger Baustein dabei. Sie sorgt für Transparenz und macht manch ein zeitraubendes Meeting überflüssig. „Wir vermeiden um jeden Preis 'Update-Meetings', in denen Leute nur über den Fortschritt von Projekten berichten“, betont Behn. „Das ist meist total langweilig für alle.“ Er selbst schreibt an einem durchschnittlichen Tag rund 40 Nachrichten auf Slack, acht auf Trello und führt bis zu fünf Videoanrufe. Für ihn schafft diese digitale Vernetzung zwischen Kollegen sogar mehr Zusammenhalt als ein Großraumbüro. „In einer Umgebung wie Slack bist du viel enger zusammen, da gibt es Formate für spontanen Applaus und Wertschätzung“, meint Behn.

Klare Ziele für jeden formulieren

Noch immer aber gibt es nicht weniger Manager, die immer noch daran zweifeln, ob die Belegschaft im Homeoffice wirklich arbeitet. Aus der Sicht von Jördis Hille vom Routenplaner Komoot lässt sich dieses Misstrauen durch klare Ansagen ausräumen: Wie soll sich das Unternehmen entwickeln? Was soll jeder Mitarbeiter dazu beitragen? Solche messbaren Ziele ließen sich dann leicht abgleichen - „dazu muss man nicht gemeinsam im Büro sitzen“, findet die Kommunikationsmanagerin.

Allerdings wurde das Unternehmen 2010 in Potsdam noch ganz klassisch mit Büro gegründet. 2017 aber entschieden sich die Verantwortlichen für den Umstieg auf den Remote-Modus. Ein Grund damals: Ähnlich wie bei GoHiring passt diese Arbeitsweise gut zum Produkt des Unternehmens. Über Komoot, eine Plattform mit 25 Millionen Nutzern, lassen sich Wanderrouten und Radtouren planen und teilen. „Durch unser Modell ist es allen Teammitgliedern möglich, Outdooraktivitäten mit dem Alltag zu verbinden, sei es Wandern in den Bergen oder Rennradfahren auf den Kanaren“, sagt Hille. Ein anderer Faktor für den Umstieg sei die Suche nach neuen Mitarbeitern gewesen. „Die besten Talente sind erfahrungsgemäß über ganz Europa verstreut und leben nicht alle zufällig am selben Standort.“

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Sowohl bei Komoot als auch bei GoHiring wird nicht ausschließlich mobil gearbeitet. Schon gar nicht 40 Stunden pro Woche allein am heimischen Schreib- oder Küchentisch. „Wichtig ist für mich: Remote heißt nicht gleich Homeoffice“, sagt Behn. „Ich selbst habe zum Beispiel direkt neben meiner Wohnung ein kleines Zimmer gemietet, in dem ich arbeite.“ Mittlerweile unterhält seine Firma in Berlin ein Büro, manche Beschäftigte arbeiten dort auf Wunsch bis zu fünf Tage die Woche.

Post wird digitalisiert – und per Mail rumgeschickt

Sowohl bei GoHiring als auch bei Komoot können Mitarbeiter zudem auf Firmenkosten Coworking-Räume mieten. „Das hilft einigen Teammitgliedern, regelmäßig einen Büroalltag zu erleben und auch bezüglich der Work-Life-Balance“, erzählt Hille. Persönlich soll es hingegen bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter zugehen. Komoot hat die ursprüngliche Firmenzentrale in Potsdam behalten und arbeitet dort in der ersten Woche neue Kollegen ein. Das Büro dient auch als Postadresse. Briefe werden dort digitalisiert und dem jeweiligen Ansprechpartner per Mail weitergeleitet.

Mehr tun für das Betriebsklima

Eine zentrale Rolle beim guten Betriebsklima spielen bei beiden Firmen zudem zwei bis drei Betriebsausflüge pro Jahr. Sie sollen den Teamgeist stärken. Bei Komoot verbringen sie gemeinsam Zeit beim Wandern, Biken oder einfach am Pool. „Zuletzt waren wir im September 2021 in der Toskana. Im Mai geht es für alle eine Woche lang nach Österreich“, erzählt Hille. Die Begegnungen gelten bei Komoot offiziell als Geschäftsreise. Beide Unternehmen tragen nach eigenen Angaben vollständig die Kosten für Anreise, Unterkunft, Verpflegung und Aktivitäten. „Wir verstehen dies als Investition in unsere Unternehmenskultur“, sagt Hille.

Während viele Firmen solche Teamevents gern aufs Wochenende legen und somit erwarten, dass Beschäftigte Freizeit für das Wir-Gefühl opfern, plant GoHiring die Reisen normalerweise von Montag bis Freitag. „Dafür mieten wir in der Regel ein riesiges Haus für das ganze Team an, das nächste findet beispielsweise in den Niederlanden statt“, berichtet Behn. Im Vordergrund stünden Teambuildingmaßnahmen und der Austausch über die Entwicklung des Unternehmens.

Die Belegschaft im Alltag entlasten

Auch im Alltag sollen sich Mitarbeiter spontan besser kennenlernen, ähnlich wie in der Kaffeeküche. „Im Moment sind wir sehr begeistert von Donut. Das ist eine App für Slack, bei der einmal in der Woche zwei Teams nach dem Zufallsprinzip zusammengebracht werden und sich austauschen“, berichtet Behn. Komoot setzt auf digitale Kaffeepausen, bei denen zwei bis drei Kollegen zufällig ausgewählt werden. „Das bietet wirklich einen tollen Raum zum interdisziplinären Dialog mit vielen Aha-Effekten“, erzählt Hille.

Für Behn ist „Remote first“ letztlich eine menschlichere Art des Arbeitens, „weil sich kleine Dinge in die Arbeitsabläufe integrieren lassen.“ Er selbst bringe seine Kinder in die Kita und hole sie nachmittags ab, erzählt der GoHiring-Chef. „Das ist oft nicht viel Zeitaufwand, erleichtert aber wahnsinnig den Alltag.“ Mitarbeiter seien somit entspannter und auch leistungsfähiger. „Für unsere Beschäftigten hat das Modell den Vorteil, dass es sich an den Lebensstil oder die Lebensphase des Einzelnen anpasst“, sagt Hille. „Ganz egal, ob ein Mitarbeiter als digitaler Nomade für ein paar Wochen von den kanarischen Inseln arbeitet oder junge Eltern die Großstadt verlassen und nicht jeden Tag zur Arbeit pendeln möchten.“

Komoot hat seine aktuell mehr als 90 festen sowie etwa 40 freien Mitarbeiter allerdings gezielt in Europa rekrutiert, „von Rumänien bis Irland, von Norwegen bis Portugal“, wie Hille erzählt. Das erleichtert es, zwischen 10 und 15 Uhr deutscher Zeit mit jedem nach Bedarf zusammenzukommen. „In diesem Zeitraum liegt auch eine Stunde Mittagspause, die flexibel geplant und im Kalender eingetragen werden kann und soll. Dem ein oder anderen kann sicher mal die Decke auf den Kopf fallen, wenn man es verpasst, regelmäßig Pausen einzulegen und das Haus zu verlassen“, sagt Hille.

Probelauf in einem kleinen Team

Das virtuelle Büro birgt nach Ansicht von Behn noch andere Gefahren. „Bei uns läuft ab 18 Uhr nichts mehr“, unterstreicht Behn. „Aber man muss trotzdem aufpassen, dass die Leute nicht ausbrennen. Der Anspruch an die eigene Produktivität kann zu groß werden.“ Hier sei bei Führungskräften Einfühlungsvermögen gefragt, um sich regelmäßig mit den Mitarbeitern über die gesunden Grenzen ihrer eigenen Produktivität auszutauschen. Es gebe zudem Menschen, die mit dem Modell trotz anfänglicher Begeisterung am Ende schlicht nicht zurechtkämen: „Da ist es wichtig, offen darüber zu reden und sich beizeiten wieder zu trennen.“

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Unternehmen, die nach der Hochphase der Pandemie über einen offiziellen Umstieg auf den Full-Remote-Modus nachdenken, rät der Firmenchef, die Aufgabe nicht zu unterschätzen. „Das ist ein dickes Brett, mit ein paar Laptops ist es nicht getan. Es braucht eine tiefgreifende Veränderung in der Arbeitsweise und -kultur.“ Er schlägt einen Probelauf mit einem kleinen Team vor. Entscheidend sei, dass die Mitarbeiter Lust auf digitales Arbeiten hätten. „Es darf keine zusätzliche Energie kosten und Stress bedeuten, im Alltag ständig Digitaltools zu nutzen“, warnt Behn, mit 45 Jahren der Älteste bei GoHiring. Und auch der Firmenchef müsse dem Wechsel gewachsen sein: „Für die traditionell denkenden grauen Eminenzen ist das nach meiner Einschätzung nichts“, meint Behn. „Die brauchen die Leute vor ihrer Nase, die müssen sehen, dass in ihrem Laden gearbeitet wird.“

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Hinweis: Dieser Text erschien erstmals im Mai 2022. Wir zeigen ihn auf Grund des großen Interesses erneut.

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