Spezial Karriere Skandal-Arbeitgeber von einst umwerben Akademiker

Obst- und Gemüseabteilung einer Billigkette Quelle: Bernhard Haselbeck für WirtschaftsWoche

Auch Discounter brauchen qualifizierte Akademiker, aber Absolventen träumen kaum von einer Karriere bei Kik oder Kodi – zu viele Skandale in der Vergangenheit schreckten sie ab. Eine neue Charmeoffensive soll das ändern.

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Als Manuel mit der Schule fertig war, hatte er einen Plan. Er bewarb sich bei Aldi Süd um einen Ausbildungsplatz: „Ich hatte das Ziel, Filialleiter zu werden.“ Elf Jahre später, mit Ende 20, hat er es geschafft. Und das hat Manuels Ego anscheinend beflügelt: „Aldi hat im Laufe der Zeit bemerkt, dass ich das Zeug zum Filialleiter habe“, sagt Manuel, „und mich entsprechend gefördert.“

Die selbstbewusste Aldi-Führungskraft präsentiert der Discounter in einem Imagevideo. Darin nimmt das Vorzeigetalent die Zuschauer mit an seinen Arbeitsplatz. Die Kamera filmt Manuel in Gesprächen mit Mitarbeitern oder am Schreibtisch, beim Einräumen des Brötchenregals in der Filiale oder beim Fußballspielen mit Freunden. „Als Filialleiter sollte man gut organisieren können“, sagt Manuel: „Das mache ich auch in der Freizeit sehr oft, indem ich Fußballturniere organisiere.“

Ehrgeizig, strukturiert und konzentriert: So stellt sich der Lebensmitteldiscounter also den idealen Mitarbeiter vor. In den Kurzfilmen der Arbeitgeberkampagne kommen ausschließlich die eigenen Leute zu Wort: 26 Kollegen aus dem Verkauf, den Logistikzentren und der Verwaltung liefern in zweiminütigen YouTube-Clips Antworten auf Fragen wie „Wofür stehst du jeden Morgen auf?“ oder „Wofür bist du Feuer und Flamme?“. Bei Aldi Süd, so die Botschaft der Eigenwerbung, kann jeder sein, wie er ist – und seine individuellen Berufsziele verwirklichen.

Discounter wie Aldi, Lidl oder Kik haben die Imagepolitur bitter nötig. Sie gehören, vorsichtig formuliert, nicht zu den beliebtesten Arbeitgebern des Landes. Das zeigen seit Jahren auch die Ranglisten der WirtschaftsWoche, für die die Beratung Universum Communications Akademiker zu ihren Wunsch-Arbeitgebern befragt. Bei angehenden Ingenieuren, Betriebswirtschaftlern und Wirtschaftswissenschaftlern stehen die Autobauer Porsche, Audi, Daimler und BMW an erster Stelle, bei den Informatikern sind es die Softwaregrößen Google, Microsoft und Apple. Discounter tauchen in den Rankings nicht auf. Nach dem Hochschulabschluss zu Netto, Tedi oder Kodi? Nein, danke.

Daran sind die Discounter zu einem guten Teil selbst schuld: Sie pflegen schließlich ihr Billigimage. Und das muss auch so sein, einerseits, um Kunden anzulocken. Andererseits scheint es, als habe sich diese Strategie in gewisser Weise gerächt. Das Ansehen der Discounter unter Akademikern ist ziemlich ruiniert.

Das Geschäftsmodell ist das eine. Rufschädigung in eigener Sache etwas ganz anderes. 2008 zum Beispiel kam heraus, dass der Lebensmitteldiscounter Lidl seine Mitarbeiter in vielen Filialen mit versteckten Kameras überwachte und seitenlange Protokolle über deren Privatgespräche, Lebenssituation und Arbeitsweise anfertigte. Aldi Süd ließ seine Mitarbeiter ebenfalls mit Minikameras bespitzeln.

Zwei Jahre später kritisierte der Norddeutsche Rundfunk in einer Dokumentation die miesen Arbeitsbedingungen bei Zulieferern des Textildiscounters Kik in Pakistan und Bangladesch. Und 2015 offenbarten investigative Recherchen, dass der irische Textildiscounter Primark seine Mitarbeiter feuchte und schimmlige Ware verkaufen ließ, die teilweise mit gesundheitsschädlichen Chemikalien belastet war.

Einzelfälle? Eher nicht. Tatsächlich stehen einige Unternehmen im Ruf, besonders schlechte Arbeitgeber zu sein. Bei einer Studie des Fachmagazins „Textilwirtschaft“ zum Beispiel schnitt Primark am schlechtesten ab – vor allem in den Kategorien Betriebsklima und soziale Verantwortung.

Überholte Vorurteile den Discountern gegenüber

All das sei Schnee von gestern, sagen die Verantwortlichen der deutschen Discounter: „Unser Image hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt, bei Bewerbungsgesprächen spielt das Thema nur selten eine Rolle“, heißt es aus der Zentrale des Textil-Billiganbieters Kik. Das Unternehmen sei inzwischen ein „Chancengeber“, stehe wirtschaftlich stabil da und biete Bewerbern ein gutes Betriebsklima, sagt Jörg Oudshoorn, Bereichsleiter Personalentwicklung und Vertriebsinnendienst.

Julia Spannagel, Gruppenleiterin Aus- und Weiterbildung bei Tedi, hält Vorbehalte gegen Discounter für „überholte Vorurteile“, die es abzubauen gelte: „Wir entwickeln zusammen mit den Mitarbeitern Maßnahmen, die die Kultur im Unternehmen positiv beeinflussen.“

Es ist verständlich, dass die Unternehmen die früheren Skandale vergessen möchten. Denn tatsächlich haben sie den Bewerbern was zu bieten. Nicht nur Ausbildungen vom Kaufmann im Einzelhandel bis zur Fachkraft für Lagerlogistik. Auch Hochschulabsolventen, Young Professionals und fachfremde Quereinsteiger haben gute Aufstiegschancen, treffen in der Regel auf flache Hierarchien, können überdurchschnittliche Gehälter und schicke Dienstwagen erwarten. Und damit das bei der Zielgruppe ankommt, haben Aldi, Lidl und Co. nun Charmeoffensiven gestartet. Analog wie digital.

Hauptzentrale von Kik im nordrheinwestfälischen Bönen Quelle: imago images

Den Billigketten ist ihr Imageproblem bewusst. Deshalb hübschen sie die Filialen auf und reißen hässliche Regale heraus. Deshalb nehmen sie Markenware ins Sortiment auf. Deshalb arbeiten sie auf Jobmessen daran, sich als attraktive Arbeitgeber zu positionieren – und produzieren schicke Videos.

Kürzlich drückte das Unternehmen seinen Auszubildenden Kameras in die Hand, damit sie ihren Arbeitstag filmten. Auf dem YouTube-Kanal des Unternehmens lobt nun der 23-jährige Nicolas, ein Teilnehmer des Abiturientenprogramms bei Lidl, das gute Arbeitsklima und interviewt seine Chefin. Carina, eine Auszubildende als Kauffrau im Einzelhandel, zeigt dem Zuschauer ihre „Arbeiterhände“ und einer Kundin das Weinregal. Und Josefina, die angehende Kauffrau für Büromanagement, filmt ihre Geschwister und ihr Büro. Schon kurios: Früher spähte Lidl seine Mitarbeiter heimlich mit Kameras aus, nun machen die freiwillig mit.

Die teilweise noch recht ungelenken Versuche, sich beim Nachwuchs beliebt zu machen, haben einen ernst zu nehmenden Hintergrund: „Wegen ihres Filialsystems sind die Discounter darauf angewiesen, immer neue Fachkräfte zu rekrutieren“, sagt Martin Fassnacht, Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftshochschule WHU in Düsseldorf. Die Billigunternehmen wachsen schnell, eröffnen ständig neue und immer größere Filialen, die sie mit genügend Mitarbeitern besetzen müssen. Zugleich sind die besten Angestellten nicht lange in kleineren Filialen zu halten, sondern wechseln oft schon nach wenigen Jahren die Niederlassung. Dadurch entstehen immer wieder Lücken, die die Personaler füllen müssen – was mit einem Imagewandel allein kaum gelingen dürfte.

Und deshalb sind ihre Personaler auch großzügiger als in anderen Branchen. Ein lückenloser Lebenslauf? Der ist ihnen weniger wichtig. Was vor allem zählt, ist Organisationstalent und die Bereitschaft, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen. Auch Textildiscounter Primark wirbt damit, Karrierechancen nicht von der Vita abhängig zu machen: „Wir schauen nicht so sehr auf den Abschluss“, sagt Petra Groth, Head of People & Culture Northern Europe bei Primark.

„Bei uns ist für jeden etwas dabei“

Tedi-Gruppenleiterin Julia Spannagel sieht das ganz ähnlich: „Ein perfekter Lebenslauf ist für uns kein Muss.“ Als Bewerber willkommen seien auch Quereinsteiger, die sich beruflich verändern möchten. Und Catherine Gouw, Projektmanagerin im Personalmarketing bei Aldi Nord, verspricht: „Bei uns ist für jeden etwas dabei, der Lust auf Teamwork, Verantwortung und Karriere hat.“

Klingt wie ein Allgemeinplatz. Aber tatsächlich kann, wer etwa bei Aldi Nord oder Aldi Süd anfängt, vor allem vieles werden. Die Unternehmen bieten Ausbildungsberufe und duale Bachelor- und Masterstudiengänge, Programme für Nachwuchsmanager oder für Hochschulabsolventen einen Direkteinstieg als Regionalverkaufsleiter. Außerdem wachsen viele Discounter stark, im Inland und im Ausland. Das macht die Arbeit vielfältiger und verhältnismäßig sicher. „Organisationstalent, Teamfähigkeit und vor allem Motivation sind aber in jedem Fall wichtig“, sagt Aldi-Nord-Personalerin Gouw.

Noch ein Argument für die Billiganbieter: Sie zahlen gut. So werben etwa beide Aldi-Niederlassungen mit übertariflichen Löhnen. Ein Auszubildender im ersten Lehrjahr beginnt mit einem Bruttogehalt von 850 Euro monatlich plus Urlaubs- und Weihnachtsgeld, ein Regionalverkaufsleiter verdient im ersten Berufsjahr 66.000 Euro brutto.

Die größten Lebensmittel-Discounter in Deutschland nach Umsatz

Zum Vergleich: Angehende Kaufleute im Einzelhandel starten in Nordrhein-Westfalen laut Tarifvertrag mit 805 Euro im ersten Lehrjahr, Angestellte in leitender Position bekommen je nach Gehaltsstaffel im ersten Berufsjahr um die 40 000 Euro Jahresbrutto.

Für das mitunter stattliche Gehalt verlangen die Unternehmen ihren Mitarbeitern allerdings einiges ab. Wer bei einem Discounter arbeitet, darf sich, wie gesagt, für Drecksarbeit nicht zu schade sein: Filialleiter müssen nicht nur kassieren und vom Schreibtisch aus Ware bestellen. Sie müssen mitunter auch mal den Boden wischen, wenn ein Kunde ein Glas Sauerkirschen fallen lässt.

Gleichzeitig folgen viele Abläufe im Handel starren Strukturen – auch damit müssen Fachkräfte sich arrangieren.

Und nicht zuletzt erfordert etwa die Stelle eines Regionalverkaufsleiters oder Filialleiters ein Gespür für den Umgang mit Mitarbeitern: Die Chefs im Laden müssen kommunizieren und kooperieren und dafür sorgen können, dass alle motiviert bleiben – selbst jene, die nur einen Bruchteil ihres eigenen Gehalts verdienen.

Die Tätigkeit in einem Discounter ist also anspruchsvoll, bietet motivierten Berufsanfängern aber auch viele Chancen. Zumal sich der Handel grundlegend verändert. Wie bei anderen Einzelhändlern auch, spielt die Digitalisierung bei Billiganbietern eine immer größere Rolle. Seit August dieses Jahres gibt es etwa den neuen Ausbildungsberuf Kaufmann für E-Commerce. Lidl hat sogar eigens eine Webseite eingerichtet, um die Karrieremöglichkeiten im virtuellen Geschäft vorzustellen. Interessenten können dort direkt offene Stellen einsehen und sich online bewerben. Auch hier sind einschlägige Referenzen kein Muss.

Die Offenheit für fachfremde Bewerber hat auch mit dem Expansionsdrang der Discounter zu tun, der die Nachwuchssorgen noch erhöht. Der Billigfilialist Tedi etwa, der in seinen Filialen Produkte vom Partyhut bis zur Papierschere anbietet, kündigte vor einem Jahr an, die Zahl der Läden von 1600 auf 5000 erhöhen zu wollen. Das Unternehmen treibt auch die Expansion im Ausland voran. Dafür braucht es im Hauptquartier in Dortmund-Brackel Experten im Einkauf, in der IT, im Controlling und im Personal. Die Zentralen sind oft nicht nur für Deutschland zuständig, sondern für mehrere Länder. Das wiederum befördert die Aufstiegschancen für Neueinsteiger. So könnten Vertriebsmitarbeiter schnell zu Bezirksleitern werden, verspricht Tedi-Personalerin Julia Spannagel. Und danach womöglich Verantwortung für einen der wachsenden Märkte in Polen, Portugal oder Italien übernehmen.

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