Und ob Top-Manager, Abteilungsleiter oder einfacher Angestellter: Die Hilferufe kommen aus allen Hierarchieebenen und verschiedensten Branchen. 80 Hamburger Staatsanwälte beschwerten sich im vergangenen Juni bei Justizsenatorin Jana Schiedek über regelmäßige 60-Stunden-Wochen, Verdi kämpft für überlastete Mainzer Briefträger, deren Zustellbezirke immer größer werden. Im Herbst warnten sechs Polizeipräsidenten aus Großstädten in Nordrhein-Westfalen im Namen ihrer Mitarbeiter vor dem Kollaps. Im Sommer 2012 verursachte eine Ärztin aus Krefeld einen Unfall, bei dem sie und eine andere Frau ums Leben kamen – sie war auf dem Nachhauseweg von einer 26-Stunden-Schicht. Und im vergangenen August starb ein deutscher BWL-Student, der sich im Internet selbst als „sehr wettbewerbsorientiert und ehrgeizig“ beschrieben hatte, während seines Praktikums bei der Investmentbank Bank of America Merrill Lynch an einem epileptischen Anfall, nachdem er drei Tage und Nächte durchgearbeitet hatte.
So weit wollte es Hector Sants offenbar nicht kommen lassen. Der Chef der Compliance-Abteilung der Londoner Großbank Barclays, der als harter Sanierer gilt und Skandale wie die Libor-Manipulation aufarbeiten sollte, ließ sich im vergangenen Oktober freistellen, um wegen Erschöpfung und Stress bis Januar eine Pause einzulegen. Doch dann überlegte er es sich anders – und kündigte Mitte November, weil er sich den Stressjob nicht mehr antun wollte. Und ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger verlässt trotz Konzernkrise meist zwischen 18 und 19 Uhr sein Büro, nimmt sich Zeit für Gartenarbeit sowie Spaziergänge mit Hund und Frau. Sein Smartphone hat er vom Esstisch verbannt, nachts schaltet er es immer aus.
Christian Fischeln* konnte von so einem Zeitplan viele Jahre nicht einmal träumen. Der Facharzt, angestellt in einer Klinik, „fuhr permanent am Limit“, wie er sagt. Der Grund: Das Krankenhaus hatte tägliche, unbezahlte Überstunden der Ärzte schon im Schichtplan einkalkuliert. 17 Tage in Folge Elf-Stunden-Dienste waren die Regel. Dass ausgerechnet Ärzte durch den immer stärkeren wirtschaftlichen Druck nicht nach der Qualität ihrer Arbeit gemessen wurden, sondern nur nach Fallzahlen, setzte Fischeln besonders zu: „Ich habe mich gefühlt wie in einer Schraubenfabrik.“
Keine Zeit für die Pflege von Freundschaften
Die Folgen: ein „Totalverzicht auf Privatleben“ – für die Pflege seiner Freundschaften fehlte ihm schlichtweg die Zeit. Immer seltener konnte sich Fischeln nach dem anstrengenden Klinikalltag noch dazu aufraffen, Freunde zu treffen, wollte nichts mehr unternehmen und keine Anreise antreten. Warum Konzerttickets kaufen, wenn man sowieso damit rechnet, dass man abends auf Schicht ist oder zu müde, das Haus zu verlassen. Statt sich im Urlaub in exotischen Ländern von den Strapazen des Klinikjobs zu erholen, verbrachte Fischeln die angeblich schönste Zeit des Jahres damit, liegen gebliebene Rechnungen zu überweisen oder Treffen mit Freunden nachzuholen.
Bis er nicht mehr konnte. Und, mit Unterstützung seines Chefs, die Klinikgeschäftsführung verklagte, weil er seine Überstunden ausbezahlt haben wollte. Der Vergleich bescherte Fischeln den Löwenanteil seiner Forderungen. Weil danach auch die übrigen Ärzte Druck machten, musste das Krankenhaus schließlich Betten sperren, weniger Patienten aufnehmen und ein System für Freizeitausgleich installieren.