Samstags und sonntags mal so richtig ausschlafen – bis sieben Uhr: Was wie ein Widerspruch klingt, war für Sybille Knauf* mehr als 15 Jahre lang tatsächlich Luxus. Denn auch am Wochenende klingelte früh morgens der Wecker, musste die alleinerziehende Mutter doch an diesen beiden Tagen nachholen, was sie unter der Woche nicht schaffte: Wäsche waschen, sauber machen, Rechnungen überweisen, den Großeinkauf erledigen. Außerdem die Tochter zum Reitturnier fahren – und wenn irgend möglich, den mehrfach aufgeschobenen Friseurtermin dazwischen quetschen.
Von Montag bis Freitag ist Knaufs Nachtruhe schon um fünf Uhr vorbei. Dann heißt es ab unter die Dusche, Frühstück machen, die Tochter wecken, ihr Pausenbrot schmieren. Um sieben Uhr setzt Knauf die 14-Jährige am Bahnhof ab. Fährt weiter zur Arbeit nach Frankfurt, immer die Angst vor einem Stau im Nacken auf der mehr als 50 Kilometer langen Strecke.
Acht Stunden Teilzeit
Die Betriebswirtin ist Assistentin der Geschäftsleitung bei einer IT-Beratung. Obwohl sie nur in Teilzeit arbeitet, ist sie meistens acht Stunden im Büro – betreut die Außendienstler, plant Werbeaktionen, schreibt E-Mails, erstellt Abrechnungen. Nur donnerstags beginnt schon gegen 16.30 Uhr das Schielen auf die Uhr – und die bange Frage: Kann ich rechtzeitig Schluss machen? Schließlich startet pünktlich mit dem Feierabend um 17 Uhr das nächste Rennen gegen die Zeit: Knauf muss ihre Tochter einsammeln, zum Musikunterricht bringen und eine Stunde später wieder abholen. Zeit, die sie minutiös verplant hat – zum Einkaufen. Zu Hause angekommen, heißt es Abendessen kochen, die Hausaufgaben der Tochter kontrollieren, nach dem Essen die Küche aufräumen. Gegen 22 Uhr geht Knaufs Tochter ins Bett – für ihre Mutter der erste Moment des Tages, an dem sie ein wenig abschalten kann. Meist setzt sie sich dann aufs Sofa, nimmt ein Buch zur Hand – und nickt nach drei Seiten Lektüre ein.
„Ich lebte jahrelang im Hamsterrad“, sagt die heute 56-Jährige. „Meine Tage waren durchgetaktet.“
Richtig anstrengend wird es für Knauf, wenn die monatliche Abrechnung ansteht – mit Auflistungen, welche Mitarbeiter wann und bei welchen Kunden im Einsatz waren. Für Knauf bedeutet das: Wochenendschichten, meist bis Mitternacht.
Überfordert
Der Grund für ihre Überstunden: Ihre Zielvereinbarungen sind identisch mit denen ihrer in Vollzeit tätigen Kollegen. Und sie braucht den Bonus, schickt sie ihre Tochter doch auf eine teure Privatschule – nicht nur, weil es an ihrem Wohnort keine Schule mit Ganztagsbetreuung gibt.
„Eine gute Ausbildung für meine Tochter war mir immer sehr wichtig“, sagt die Alleinerziehende, die in vielen Situationen den Druck verspürt, mithalten zu müssen mit den Möglichkeiten, die die Klassenkameraden ihrer Tochter haben: Deren Eltern finanzieren ihren Kindern selbstverständlich den Führerschein, das dazugehörige Auto und einen Auslandsaufenthalt. Auch Knaufs Tochter will mit 17 Jahren für zwölf Monate nach London. Ein Wunsch, den die Mutter ihr nicht abschlagen möchte. Der leibliche Vater ihrer Tochter zahlt zwar einen Teil der Aufenthaltskosten, dennoch muss Knauf an ihre Ersparnisse ran.
„Ich hatte nie genug Zeit, immer zu wenig Geld und deshalb ein schlechtes Gewissen“, sagt Knauf.
Ihr Fall ist typisch für die heutige Zeit: Ob alleinerziehende Mutter mit Teilzeitjob oder Familienvater mit 70-Stunden-Woche – die Zahl derer steigt, die sich überfordert fühlen von dem Versuch, ihr Leben mit all seinen Facetten im Griff zu behalten.
Weniger Mitarbeiter, höhere Zielvorgaben
Ob als Angestellter, der willens ist, regelmäßig einen Schritt auf der Karriereleiter nach oben zu machen, die sich aber zunehmend als Hamsterrad entpuppt, weil im Zuge von Rationalisierungsprogrammen immer mehr Aufgaben auf immer weniger Mitarbeiter mit immer höheren Zielvorgaben konzentriert werden. Wo erste E-Mails schon auf dem Weg zur Arbeit beantwortet, Anrufe vom Chef auch weit nach Feierabend entgegengenommen werden und Projekte nur mit Überstunden zu stemmen sind.
Oder als Unternehmer, mit der Verantwortung für Hunderte Mitarbeiter und das erfolgreiche Fortführen einer traditionsreichen Firmenhistorie – immer mit der Angst vor zunehmend globaler Konkurrenz und sinkenden Margen im Nacken.
Oder als Vater oder Mutter, die ihren Kindern optimale Bedingungen für ihre Entwicklung bieten wollen, ihnen bei den Hausaufgaben helfen und auch dann Elternsprechtage oder das Fußballturnier ihrer Kinder nicht verpassen wollen, wenn sich auf dem Schreibtisch die Arbeit türmt. 65 Prozent aller Eltern mit Kindern unter 16 Jahren haben das Gefühl, nicht allen Anforderungen gerecht zu werden. Das ergab die Vorwerk Familienstudie 2013, die das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD) für den Staubsaugerkonzern aus Wuppertal erhoben hat. Vor allem berufstätige Mütter hätten gerne mehr Zeit für die Familie. Und laut einer Untersuchung des Personaldienstleisters Hay Group fühlt sich jeder zweite Mitarbeiter von seinem Unternehmen im Stich gelassen.
"Kultur der Sorglosigkeit"
Bernhard Badura, Gesundheitsforscher und Emeritus an der Universität Bielefeld, macht bei vielen Unternehmen „eine Kultur der Sorglosigkeit“ aus, wenn es um die Arbeitsüberforderung ihrer Mitarbeiter geht. In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der psychischen Erkrankungen um 120 Prozent gestiegen und damit auch die durch sie verursachten Fehlzeiten bis 2011 – im Schnitt auf 22,5 Tage, heißt es im Fehlzeiten-Report 2012 der AOK. Und laut einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer sind psychische Erkrankungen bei fast jedem zweiten Frührentner der Grund für sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Beruf.
Gleichzeitig, so schätzt Arbeitspsychologe Stefan Poppelreuter, leben in Deutschland rund 400.000 Menschen mit einer krankhaften Arbeitssucht – diese Menschen gönnen sich jenseits der Arbeit nur minimale Pausen fürs Schlafen, Waschen, Essen.
Was bei Müttern und Vätern zu kurz kommt
Der Beruf ist das Schlusslicht unter den Dingen, die Eltern zu kurz kommen: Gerade mal 12 Prozent der befragten Mütter und 8 Prozent der befragten Väter fanden, sie würden zu wenig Zeit in ihre Arbeit investieren.
Befragt wurden liierte Eltern von Kindern unter 16 Jahren, die angaben, nicht allen Anforderungen gerecht zu werden.
Quelle: Inst. für Demoskopie Allensbach
Ob die eigenen Freunde zu kurz kommen oder nicht, wird geschlechtsspezifisch differenziert wahrgenommen: Zwar findet auch fast ein Drittel (32 Prozent) der befragten Frauen, dass sie ihren Freunden nicht genug Zeit widmen, bei den Männern sind es mit 56 Prozent jedoch erheblich mehr.
Hier ist die Diskrepanz zwischen Mann und Frau nicht ganz so groß wie bei der unterschiedlichen Wahrnehmung in Bezug auf die Vernachlässigung von Freundschaften. Ein klarer Trend ist aber auch hier erkennbar. Nur 21 Prozent der befragten Männer glaubten, sie müssten eigentlich mehr im Haushalt tun. Bei den Frauen waren es hingegen 35 Prozent.
Weit über zwei Drittel der befragten Männer gaben an, ihre Kinder kämen in ihrem Zeitmanagement zu kurz. Bei den Frauen waren es 41 Prozent.
Auch die Partnerschaft kommt mehr Vätern als Müttern zu kurz: Zwar sagen 47 Prozent der befragten Frauen, ihr Partner bekäme zu wenig Zeit gewidmet, bei den Männern allerdings sind es 73 Prozent.
Dass sie selbst zu kurz kommen, finden 53 Prozent der befragten Männer und 56 Prozent der befragten Frauen.
„Die Unvereinbarkeit von Arbeit und Familie ist der größte Treiber für den Stress, den wir fast rund um die Uhr empfinden“, sagt Hartmut Rosa, Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Entweder fühlt man sich gegenüber seinen Kindern schuldig, weil man die Aufführung der Schultheatergruppe verpasst. Oder man geht früher von der Arbeit nach Hause und lässt die Kollegin mit dem Projekt hängen.“
Kassierersyndrom
Was früher schnellere Maschinen und Transportmittel eingespart hätten, müssten jetzt die Mitarbeiter rausholen, sagt Zeitforscher Karlheinz Geißler. „Die Technik ist am Limit.“ Die Zeitverdichtung damit allgegenwärtig, die Arbeit nie erledigt, weil die nächste Aufgabe immer schon wartet. „Viele Arbeitnehmer messen einen erfolgreichen Tag am Erschöpfungszustand, seitdem feste Arbeitszeiten der Vergangenheit angehören.“
Tim Hagemann, Professor für Arbeitspsychologie an der Fachhochschule der Diakonie in Bielefeld, spricht in diesem Zusammenhang vom Kassierersyndrom. „Je schneller der Kassierer ist, desto mehr Leute stellen sich in seine Schlange.“
Dies kann dank flexibler Arbeitszeiten zum Verhängnis werden. Denn diese Freiheit kommt nur demjenigen zugute, der auch damit umgehen kann. „Stechuhren können manche Menschen vor Selbstausbeutung schützen“, sagt Hagemann.
Erschöpft durch Konsum
Und doch sind Arbeit und Familie nur zwei Quellen für unsere Dauererschöpfung. Denn Tag für Tag schlüpfen wir in viele unterschiedliche Rollen, die wir, jede für sich, optimal ausfüllen wollen – zum Beispiel als Verbraucher und Konsument: Kam früher der Telefonanschluss alternativlos zum undiskutierbaren Festpreis von der Telekom und der Strom von den örtlichen Stadtwerken, befinden wir uns heute dauerhaft auf der Jagd nach dem optimalen Preis-Leistungs-Verhältnis – für die neue Waschmaschine, den Stromtarif, den optimalen Handyvertrag. Durchforsten vor Vertragsabschluss stundenlang für einen halbwegs gründlichen Überblick Vergleichsportale und Vertragsbedingungen – um Geld zu sparen und vor Freunden und Nachbarn nicht als altmodisch dazustehen. Dennoch rät Soziologe Rosa: „Lieber einen Vertrag wählen, der in Ordnung ist, aber nicht perfekt sein muss. Und sich dann den wirklich wichtigen Dingen widmen“ (siehe Bildergalerie).
Zum Beispiel den vielfältigen Beziehungen im Privatleben. Doch selbst die können angesichts hoher Erwartungshaltungen in Stress ausarten. Etwa, weil man im Zusammenleben mit dem Partner versucht, auch Jahre nach dem ersten Verliebtsein die Schmetterlinge im Bauch noch zu spüren. Oder gegenüber den Eltern, die mit zunehmendem Alter auf die Unterstützung ihrer Kinder setzen – auch wenn diese Hunderte Kilometer entfernt leben. Als Freund mit dem festen Vorsatz, alte Beziehungen auch über große Distanzen nicht langsam einschlafen zu lassen – und den seit Wochen fest vereinbarten Kinobesuch nicht auch noch zum dritten Mal abzusagen. Und, nicht zuletzt, als Optimierer des eigenen Körpers – mit strengem Ernährungs- und Laufplan, mit dem Ziel, endlich die überflüssigen Pfunde zu verlieren und beim Marathon mit einer vorzeigbaren Zeit ins Ziel zu kommen.
Burnout
Peter Michael Roth ist seit August 2012 Chefarzt der Oberbergklinik in Wendisch Rietz. Der Psychiater weiß, dass Burnout-Patienten wie Sättele häufig eine ähnliche Persönlichkeitsstruktur haben.
Betroffen sind selten die faulen oder untätigen Mitarbeiter, sondern meist die besonders Engagierten, Perfektionisten oder solche, die sich für unersetzbar halten. „Wenn hohe Leistung in der Kindheit eine große Rolle gespielt hat, trifft es solche Menschen im Berufsleben zuerst“, sagt Roth. Denn sie muten sich häufig zu viel zu.
Im vergangenen Jahr ließen sich in Deutschland so viele Arbeitnehmer aufgrund psychischer Leiden krankschreiben wie noch nie. Wie die Deutsche Angestellten-Krankenkasse bekannt gab, fehlte 2012 wegen psychischer Beschwerden jeder 22. Arbeitnehmer – mehr als doppelt so viele wie 1997.
43 Prozent der Erwerbstätigen glauben, dass der berufliche Stress in den vergangenen zwei Jahren gestiegen ist. Das heißt aber nicht, dass heute mehr Menschen psychische Störungen haben. Vielmehr sind Ärzte und Patienten mittlerweile sensibler. Das ist auch gut so, findet Psychiater Roth: „Lieber ein Patient mehr, der sich fälschlicherweise für depressiv hält, als ein Depressiver, der sich keine Hilfe holt.“
Ständige Erreichbarkeit und Informationsflut
„Die Summe unserer Aufgaben überfordert uns“, sagt Soziologe Rosa. Und dennoch falle den Menschen Verzicht schwer, denn sie seien ständig auf der Suche nach ihrem Platz in der Welt. „Gehen wir nicht zum Kegelabend, haben wir Angst, nächstes Mal nicht mehr eingeladen zu werden – allein der Gedanke daran löst Stress aus.“
Genau wie die ständige Erreichbarkeit und Informationsflut. Um auf neue Nachrichten bei WhatsApp, Facebook oder im E-Mail-Postfach möglichst unmittelbar reagieren zu können, wird auch jenseits des Schreibtischs ständig auf Smartphone oder Tablet gestarrt, gierig auf die nächste Nachricht gewartet – auf Kosten wertvoller Verschnaufpausen, sei es an der Bushaltestelle oder in der Kaffeeküche. Selbst das altbekannte stille Örtchen trägt da seinen Namen nicht mehr zu Recht.
„Wir freuen uns über ein Like, noch mehr über einen Kommentar“, sagt Soziologe Rosa. „Wir füttern alle digitalen Kanäle auf der Suche nach Anerkennung.“
Hohe Ansprüche an sich selbst
Und das hat nicht nur mit den neuen technischen Möglichkeiten zu tun: „In der Nachkriegszeit ging es in erster Linie darum, satt zu werden“, sagt Burn-out-Beraterin Jutta Betz aus Wiesbaden. In der heutigen Gesellschaft seien solche grundlegenden Bedürfnisse in der Regel längst erfüllt. „Es liegt in der Natur des Menschen, immer noch einen draufsetzen zu wollen“, sagt die 51-Jährige.
Sie wollen die perfekte Partnerschaft, eine erfolgreiche Karriere, einen gesunden, durchtrainierten Körper. Laut einer Forsa-Umfrage für die Techniker Krankenkasse vom vergangenen September fühlten sich 41 Prozent der Befragten von den hohen Ansprüchen an sich selbst gestresst. Bei den Frauen waren es gar 48 Prozent. Perfektionismus war damit beim weiblichen Geschlecht Stressfaktor Nummer eins. Dennoch: Der Druck kommt im Alltag von allen Seiten, die Überforderung ist programmiert, die Zahl der Menschen, denen ihre von außen oktroyierten, wie selbst auferlegten Pflichten über den Kopf wachsen, ist riesig. Knapp 23 Millionen Deutsche fühlten sich im Jahr 2013 zeitlich unter Druck gesetzt, belegt eine Studie des IfD.
Alle Hierarchieebenen
Und ob Top-Manager, Abteilungsleiter oder einfacher Angestellter: Die Hilferufe kommen aus allen Hierarchieebenen und verschiedensten Branchen. 80 Hamburger Staatsanwälte beschwerten sich im vergangenen Juni bei Justizsenatorin Jana Schiedek über regelmäßige 60-Stunden-Wochen, Verdi kämpft für überlastete Mainzer Briefträger, deren Zustellbezirke immer größer werden. Im Herbst warnten sechs Polizeipräsidenten aus Großstädten in Nordrhein-Westfalen im Namen ihrer Mitarbeiter vor dem Kollaps. Im Sommer 2012 verursachte eine Ärztin aus Krefeld einen Unfall, bei dem sie und eine andere Frau ums Leben kamen – sie war auf dem Nachhauseweg von einer 26-Stunden-Schicht. Und im vergangenen August starb ein deutscher BWL-Student, der sich im Internet selbst als „sehr wettbewerbsorientiert und ehrgeizig“ beschrieben hatte, während seines Praktikums bei der Investmentbank Bank of America Merrill Lynch an einem epileptischen Anfall, nachdem er drei Tage und Nächte durchgearbeitet hatte.
So weit wollte es Hector Sants offenbar nicht kommen lassen. Der Chef der Compliance-Abteilung der Londoner Großbank Barclays, der als harter Sanierer gilt und Skandale wie die Libor-Manipulation aufarbeiten sollte, ließ sich im vergangenen Oktober freistellen, um wegen Erschöpfung und Stress bis Januar eine Pause einzulegen. Doch dann überlegte er es sich anders – und kündigte Mitte November, weil er sich den Stressjob nicht mehr antun wollte. Und ThyssenKrupp-Chef Heinrich Hiesinger verlässt trotz Konzernkrise meist zwischen 18 und 19 Uhr sein Büro, nimmt sich Zeit für Gartenarbeit sowie Spaziergänge mit Hund und Frau. Sein Smartphone hat er vom Esstisch verbannt, nachts schaltet er es immer aus.
Christian Fischeln* konnte von so einem Zeitplan viele Jahre nicht einmal träumen. Der Facharzt, angestellt in einer Klinik, „fuhr permanent am Limit“, wie er sagt. Der Grund: Das Krankenhaus hatte tägliche, unbezahlte Überstunden der Ärzte schon im Schichtplan einkalkuliert. 17 Tage in Folge Elf-Stunden-Dienste waren die Regel. Dass ausgerechnet Ärzte durch den immer stärkeren wirtschaftlichen Druck nicht nach der Qualität ihrer Arbeit gemessen wurden, sondern nur nach Fallzahlen, setzte Fischeln besonders zu: „Ich habe mich gefühlt wie in einer Schraubenfabrik.“
Keine Zeit für die Pflege von Freundschaften
Die Folgen: ein „Totalverzicht auf Privatleben“ – für die Pflege seiner Freundschaften fehlte ihm schlichtweg die Zeit. Immer seltener konnte sich Fischeln nach dem anstrengenden Klinikalltag noch dazu aufraffen, Freunde zu treffen, wollte nichts mehr unternehmen und keine Anreise antreten. Warum Konzerttickets kaufen, wenn man sowieso damit rechnet, dass man abends auf Schicht ist oder zu müde, das Haus zu verlassen. Statt sich im Urlaub in exotischen Ländern von den Strapazen des Klinikjobs zu erholen, verbrachte Fischeln die angeblich schönste Zeit des Jahres damit, liegen gebliebene Rechnungen zu überweisen oder Treffen mit Freunden nachzuholen.
Bis er nicht mehr konnte. Und, mit Unterstützung seines Chefs, die Klinikgeschäftsführung verklagte, weil er seine Überstunden ausbezahlt haben wollte. Der Vergleich bescherte Fischeln den Löwenanteil seiner Forderungen. Weil danach auch die übrigen Ärzte Druck machten, musste das Krankenhaus schließlich Betten sperren, weniger Patienten aufnehmen und ein System für Freizeitausgleich installieren.
Immer früher überfordert
Auffällig ist, dass Überforderung immer früher im Leben Thema wird. Schon Schüler klagen über Migräneattacken, ausgelöst durch intensive Nutzung elektronischer Medien, aber auch den durch die Verkürzung der Gymnasialzeit gestiegenen schulischen Druck. Oft bleibt schon Zehnjährigen selbst am Wochenende kaum mehr Zeit für unbeschwertes Spielen, weil der Stoff unter der Woche kaum mehr zu bewältigen ist. Und auch Studenten fühlen sich vom engen Korsett ihrer Bachelor- und Master-Lehrpläne zusehends eingeschnürt. Eine Studie des Deutschen Studentenwerks vom vergangenen Frühjahr ergab, dass fast die Hälfte aller Bachelor-Studenten mit Erschöpfung und Überforderung zu kämpfen hat. 68 Prozent der Befragten gaben an, vom Studium gestresst zu sein.
„Ältere haben Strategien entwickelt, mit Stress umzugehen“, sagt Arbeitspsychologe Hagemann. „Die Jungen sind noch auf Identitätssuche und müssen die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft stellen.“
Selbsttest: Wie erschöpft sind Sie?
Summieren Sie die Anzahl der zutreffenden Aussagen
Ich komme an Arbeitstagen schwer aus dem Bett.
Abends bin ich meistens völlig erledigt.
Trotzdem grübele ich im Bett noch über die Arbeit nach...
...und kann schlecht schlafen.
Ich trinke abends oft Alkohol, um zu entspannen.
Morgens wache ich kaputt auf.
Ich werde tagsüber häufiger und schneller müde.
Am Wochenende oder im Urlaub erhole ich mich kaum noch.
Mein Job laugt mich aus.
Ich bin sehr ehrgeizig.
Zu Aufgaben kann ich selten Nein sagen...
...selbst wenn ich weiß, dass ich eigentlich schon zu viel zu tun habe.
Ich habe Angst, dass mein Chef mir eine Absage übel nehmen würde.
Deswegen arbeite ich mehr als meine Kollegen.
Auch am Wochenende gehe ins Büro oder arbeite von zu Hause.
Trotzdem weiß das niemand zu schätzen.
Meine Arbeit macht mir immer weniger Spaß.
Es ist anstrengend, mit Kollegen zusammenzuarbeiten.
Ich fühle mich im Job isoliert.
Anderen gegenüber bin ich gleichgültiger geworden.
Meine engsten Freunde sehe ich inzwischen selten.
Meine Familie findet, dass ich mich verändert habe.
Hobbys pflege ich kaum noch.
Ich befürchte, dass ich durch meinen Job abstumpfe.
Meine Arbeit frustriert mich.
Ich habe in meiner derzeitigen Position kaum etwas erreicht.
Emotionale Probleme im Job bringen mich aus der Ruhe.
Ich werde neuerdings schnell aggressiv.
Wenn mir etwas gelingt, kann ich mich kaum darüber freuen...
...Misserfolge sind mir ebenfalls egal.
Jennifer Bentz beispielsweise hatte nach ihrem Examen an der Uni mit 29 Jahren ein Praktikum bei einem mittelständischen Medienunternehmen in Rheinhessen begonnen. In ihren Studienfächern Publizistik und Filmwissenschaften waren die Chancen auf eine feste Stelle gleich null. Alle ihre Bewerbungen verliefen erfolglos. Mit ihr zusammen starteten vier weitere Praktikanten. Ihr Ziel: ein Trainee-Platz. „Ein Rattenrennen“, sagt Bentz – nur zwei der fünf Kandidaten sollten in das Ausbildungsprogramm übernommen werden.
Auswertung
Glückwunsch! Sie können sehr zufrieden sein, offenbar ist Ihr Job genau der richtige. Sie sind fast rundum ausgeglichen und glücklich. Ihr einziges (Luxus-)Problem: Es ist immer leichter, an die Spitze zu kommen, als dort zu bleiben. Gehen Sie also auch weiterhin achtsam und vorsichtig mit sich um.
Noch ist bei Ihnen alles einigermaßen im grünen Bereich. Womöglich haben Sie nur kurzfristig Stress, und der geht hoffentlich auch wieder vorbei. Schaffen Sie trotzdem mehr Ausgleich, egal, ob im Beruf oder Privatleben. Soll heißen: Gönnen Sie sich regelmäßige Pausen, treffen Sie sich mit Freunden, und schlafen Sie ausreichend. Auch leichter Sport hilft dabei, Stress abzubauen.
Das sind definitiv zu viele Zustimmungen. So banal es klingen mag, aber der erste Schritt ist der wichtigste: Sie dürfen Ihren Zustand nicht länger ignorieren oder verneinen. Akzeptieren Sie stattdessen, dass Sie der Burn-out-Spirale vermutlich nicht ohne fremde Hilfe entkommen. Suchen Sie also einen Arzt oder Psychiater auf. Wichtig: Diesen Schritt dürfen Sie nicht als Zeichen von Schwäche verstehen – sondern von Stärke.
Diagnose: Burn-Out
„Es wurde viel verlangt und viel gearbeitet, auch an den Wochenenden und auch mal die ganze Nacht durch“, erinnert sich Bentz. Schon nach zwei Wochen litt sie unter Schlafproblemen und Herzstichen – was sie aber ignorierte. „Ich hatte große Angst, wieder umziehen und von Neuem beginnen zu müssen. Die unsichere Lebenssituation belastete mich, also wollte ich weitermachen, egal, wie.“
Bis sie dann, nach drei schlaflosen Nächten, zusammenklappte. Mitten im Meeting bekam sie keine Luft mehr, die Knie wurden weich, sie musste rauslaufen und sich übergeben. Selbst dann täuschte Bentz erst noch eine Lebensmittelvergiftung vor, um „weiter zu funktionieren“.
Nach einem Ärztemarathon stand die Diagnose fest: Burn-out. „Erst in der Klinik lernte ich, dass es an mir gelegen hatte“, sagte Bentz. „Und dass ich meine Einstellung ändern musste.“
Was ihr auch gelang: Als das Unternehmen ihr die begehrte Traineeausbildung anbot, nahm sie lieber eine Teilzeitstelle als Sekretariatsvertretung an und schrieb nebenher ein Buch über ihre Erfahrungen.
Ratlos angesichts der Auswahl an Fächern und Berufen
Annika Herrlich* wäre vermutlich froh um eine so klar definierte Aufgabe. Als sie kurz nach ihrem 18. Geburtstag ihr Abiturzeugnis in Händen hielt, war sie glücklich und gleichzeitig ratlos. Was nun? Die Entscheidung für ein freiwilliges kulturelles Jahr an einem Theater in Sachsen-Anhalt hielt ihr die Studienwahl weitere zwölf Monate vom Hals. Doch auch ein Jahr später war Herrlich noch immer auf der Suche nach dem perfekten Studienfach.
Ein Problem, vor dem viele junge Erwachsene stehen. Früher war der Lebensweg durch die räumliche Gebundenheit meist vorbestimmt. Die Abiturienten heuerten beim größten Unternehmen der Region an, absolvierten eine Lehre bei der örtlichen Bank oder studierten an der nächstgelegenen Universität. Heute steht vielen sprichwörtlich die ganze Welt offen. Alleine in Deutschland können angehende Studenten zwischen knapp 17.000 Studiengängen wählen. „Für diese Entscheidung sind die Abiturienten ganz allein verantwortlich“, sagt Hagemann. „Das verunsichert und überfordert viele.“
Herrlich entschied sich schließlich für das Fach Cultural Engineering an der Universität Magdeburg, eine Mischung aus Kulturwissenschaft, Wissensmanagement und Logistik. Doch die Zweifel kamen zurück, spätestens im dritten Semester. „Ich hatte keine Ahnung, was ich damit später anfangen soll“, sagt die heute 21-Jährige. Sie begann sich erneut nach Alternativen umzuschauen. Und verlor sich in endlosen Internet-Recherchen und Gesprächen mit Verwandten und Freunden, die alle unterschiedliche Ratschläge parat hatten.
„Das verwirrte mich“, sagt die Studentin. „Ich hatte Angst, das falsche Fach gewählt zu haben oder erneut zu wählen.“
Psychotherapeutische Studentenberatung
Über ein halbes Jahr schleppte sie diese Sorge mit sich herum, vernachlässigte ihr Studium, die Arbeit türmte sich. Schließlich besuchte sie die psychotherapeutische Studentenberatung der Universität. Für Herrlich eine Befreiung. „Ich konnte einfach mal losheulen und alles rauslassen.“
Endlich saß ihr jemand gegenüber, der keinerlei Erwartungen an sie hatte. „Vorher habe ich versucht, es allen meinen Gesprächspartnern recht zu machen und ihre gut gemeinten Ratschläge zu befolgen“, sagt die Studentin. „Mich selbst habe ich dabei zurückgenommen.“
Sauna und Feierabendbier
Ein Phänomen, das Burn-out-Beraterin Betz gut kennt. „Menschen, die so ticken, speisen ihr Selbstwertgefühl aus der Anerkennung durch andere“, erklärt die Expertin. „Sie müssen lernen, unabhängiger von den Erwartungen anderer zu handeln.“
Sybille Knauf hat das schon geschafft: Seit gut anderthalb Jahren hat sie wieder mehr Zeit für sich. Nicht nur, weil ihre Tochter nun auf eigenen Füßen steht. „Ein Coach hat mir geholfen, wieder mehr an mich selbst zu denken“, sagt die 56-jährige Mutter, die sich jetzt auch mal wieder Zeit nimmt für einen Besuch in der Sauna oder spontan mit den Kollegen auf ein Feierabendbier geht. Und abends inzwischen auch nach ein paar Seiten Lektüre nicht mehr über dem Buch einschläft. „Für mich hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen.“