Videoplattform Welche Firmen auf Tiktok um Fachkräfte werben

Tiktok zählt zu den verbreitetsten sozialen Netzwerken der Welt. Quelle: imago images

Viele Unternehmen klagen über den Fachkräftemangel. Aber nur wenige suchen auf Tiktok nach Azubis und Studenten. Dabei warten Talente auf der beliebten wie umstrittenen Plattform durchaus auch auf Jobangebote.

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10.594 Kilometer trennen die Großstadt São Leopoldo im Süden Brasiliens vom badischen Walldorf, dem Sitz des Softwarekonzerns SAP. Mit dem Flugzeug und dem Auto schafft man die Strecke in rund 18 Stunden – wenn es gut läuft. In einem Video von SAP auf der Plattform Tiktok dauert die Reise nur Sekundenbruchteile: Eine junge Mitarbeiterin des Softwarekonzerns filmt sich gerade noch mit Sonnenbrille vor den SAP-Firmengebäuden in Brasilien. Schnitt. Schon ist sie in ähnlicher Pose im beschaulichen Baden-Württemberg angekommen, steht auf dem Firmengelände in Walldorf. Untermalt ist das sechs Sekunden kurze Video mit fröhlicher Musik. Es soll wohl verdeutlichen, wie vielfältig die Karriere beim Unternehmen sein kann.

Der Clip ist eines der ersten Videos von SAP auf Tiktok, nicht mal einen Monat ist das Unternehmen auf der Plattform unterwegs. Und doch ruft schon dieser kurze Clip eine Reaktionen hervor, die sich der Konzern erhofft: „Ich wünschte, da würde ich arbeiten“, schreibt ein Nutzer. Tatsächlich ist der wertvollste deutsche Konzern auf Tiktok gestartet, um neues Personal zu finden. Auf Anfrage der WirtschaftsWoche teilt SAP mit: „Der Kanal wird auch genutzt, um neue Talente anzuziehen, alle Seiten unserer Kultur zu zeigen und unsere Mitarbeiter vorzustellen.“ Dafür hat SAP seine Tiktok-erprobten Mitarbeiter, „die sich für die Plattform und das Medium begeistern“, gebeten, dabei zu helfen, Videos zu erstellen. „Jedes Team oder jede Geschäftseinheit, die zum Kanal beitragen möchte, ist dazu eingeladen“, heißt es vom Unternehmen.

SAP will so Potenziale nutzen, die viele andere deutsche Firmen bisweilen konsequent außer Acht lassen. Eine Studie des schwedischen Marktforschungsunternehmens Potentialpark, die der WirtschaftsWoche vorab vorlag, zeigt, dass nur sechs Prozent von 140 der größten deutschen Firmen auf der chinesischen Plattform aktiv sind. Allerdings gaben fast 73 Prozent von mehr als 3600 befragten Studenten und Hochschulabsolventen an, die App mindestens einmal am Tag zu nutzen. Fast die Hälfte von ihnen ist laut der Studie offen für Fragen rund um den Job, wünscht sich Einblicke in das soziale Leben im Unternehmen und Karrieretipps.

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In Deutschland waren im Januar mehr als 3,1 Millionen iOS-Nutzer auf Tiktok unterwegs, wie eine Auswertung des Londoner Unternehmens Airnow Data zeigt. Im Vergleich zum Vorjahr stieg die Anzahl der monatlichen Nutzer um 56 Prozent. In Zeiten, in denen Firmen und Verbände über den leergefegten Personalmarkt klagen, könnte Tiktok einen Ausweg bieten: Eine Auswertung des Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zeigte kürzlich, dass die Zahl der offenen Stellen, für die es rechnerisch bundesweit keine passend qualifizierten Arbeitslosen gibt, im vergangenen Jahr von rund 213.000 auf gut 465.000  gestiegen ist. Um dieser Lücke mit dem Recruiting auf Tiktok etwas entgegenzusetzen, müssten die Firmen allerdings einer Plattform beitreten, die für mangelnden Daten- und Jungendschutz, für Cybermobbing sowie wegen Zensur- und Spionagevorwürfen seit Jahren in der Kritik steht.

Die Telekom wirbt auf Tiktok bereits deutlich länger um Fachkräfte als SAP: Das erste Video stammt vom 13. Mai 2020. Neben Tanzvideos und Quizrunden geben Auszubildende Einblick in ihren Arbeitsalltag, beantworten Nutzerfragen rund um das duale Studium und die Ausbildung – und verkünden, dass es bei der Telekom noch massenhaft offene Stellen gibt. Dabei war die Plattform für den Konzern zuerst nur ein „Versuchsballon“ für sechs Monate, heißt es vom Unternehmen. „Der Kanal soll vor allem Aufmerksamkeit schaffen, dass die Telekom ein spannender Arbeitgeber mit vielfältigen Ausbildungsangeboten wie dualem Studium oder Ausbildung ist“, so die Telekom.



Zwar kann der Bonner Konzern die Auswirkungen auf die Personalgewinnung noch nicht „quantifizieren“. Aber: „Wir erkennen einen positiven Effekt in den Bewerbungsgesprächen: Kandidaten teilen uns mit, dass sie unsere Tiktok-Aktivitäten verfolgen“, heißt es vom Unternehmen. Einer der Moderatoren auf dem Kanal würde tatsächlich auch an Bewerbungsinterviews der jungen Fachkräfte teilnehmen und werde von vielen erkannt. „Bei der Ausbildung und dem dualen Studium versuchen wir echte Personen, die in der Ausbildung arbeiten beziehungsweise bei uns angestellt sind, auf unseren Kanal zu bringen, damit wir authentische Einblicke geben können“, so die Telekom.

Ziehl-Abegg aus dem baden-württembergischen Künzelsau ist ein anderes deutsches Vorreiterunternehmen, wenn's um die neue Art der Personalgewinnung geht. Die 1910 gegründete Firma fertigt Aufzugsmotoren, Ventilatoren und seit Juni 2020 auch Tiktok-Videos. 84.000 Nutzer folgen dem Unternehmen, das als produzierender Betrieb in besonderer Weise mit dem Fachkräftemangel kämpft. Manche Videos werden millionenfach geklickt, zeigen zwar lediglich Scherze oder Tänze, doch erhöhen so die Bekanntheit des Unternehmens in der jungen Zielgruppe. Auf dem Account finden sich jedoch auch Videos, die Vorteile der Ausbildung anpreisen: Auslandsreisen, Jobgarantie und mehr Geld bei guten Noten.

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So weit sind längst nicht alle Unternehmen. Denn neben der reinen Präsenz bedarf es auch der richtigen Inhalte, um die chinesische Plattform als Recruitingkanal zu etablieren: Die Deutsche Bahn ist seit Juni 2021 auf Tiktok vertreten, postet auch einzelne Videos zur Ausbildung, als Köchin oder Koch etwa. Doch auffällig viele Posts zeigen menschliche Augen und Münder auf den Triebwagen oder üben sich in Selbstironie, wenn sie sich über die eigene Verspätung oder Fahrgäste mit Eiersalat lustig machen.

Mehr zum Thema: Welche Berufe tatsächlich mit Fachkräftemangel kämpfen – und wo es in Wirklichkeit kaum Jobchancen gibt.

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