Viertagewoche „Der springende Punkt ist, dass alle gleichzeitig frei haben“

Quelle: Getty Images

Eine Wirtschaftskanzlei in Berlin wagt das Experiment: eine Viertagewoche auf Zeit. Eine erste Zwischenbilanz zeigt, auch in der sonst so arbeitsintensiven Branche kann es klappen – unter bestimmten Voraussetzungen.

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„Wir testen derzeit die 4-Tage-Woche und sind deshalb regulär montags bis donnerstags erreichbar. Freitags bleibt die Kanzlei geschlossen. In dringenden Fällen schreiben Sie uns gerne eine E-Mail“, teilt Marlene Schreiber Juristin ihren Mandanten in ihrer E-Mail-Signatur mit. Ein ungewöhnliches Experiment für eine Branche, die stets ihre permanente Erreichbarkeit für ihre Kunden hervorhebt und lange Arbeitszeiten für unabdingbar erklärt. Dennoch oder gerade deshalb hat Schreibers Sozietät, die Berliner Kanzlei Härting, den Versuch einer Viertagewoche gestartet. Bis September wollen sie das Arbeitszeitmodell testen.

88 Prozent der insgesamt 75 Angestellten hatten sich für die Viertagewoche ausgesprochen, die seither getestet wird. Das Ziel ist eine bessere Work-Life-Balance für alle, insbesondere diejenigen mit Familie. Zudem will die Sozietät mit diesem familienfreundlichen Angebot in Zeiten des Fachkräftemangels als Arbeitgeber attraktiv sein. Ein freier Tag sei wichtig, um auch mal Behördengänge, Arztbesuche, Sportaktivitäten oder ein verlängertes Wochenende planen zu können.

Schließlich zeigen auch Umfragen, wie die der arbeitnehmerfreundlichen Hans-Böckler-Stiftung, dass sich 80 Prozent der Vollzeitbeschäftigten eine Viertagewoche wünschen – zur Not mit weniger Gehalt. Die gewonnene Zeit wollen sie für Hobbys, Familie und Ehrenämter nutzen.

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Wie das Ganze laufen soll, damit die Viertagewoche funktionieren kann, haben sich Anwältin Schreiber und ihre Kollegen im Vorfeld genau überlegt. „Der springende Punkt ist, dass alle gleichzeitig freitags frei haben“, sagt Schreiber. Vermieden werden soll, dass der ein oder andere sich nicht traut, seinen fünften Tag frei zu machen. Und dass nicht jeder nach Gutdünken an einem anderen Tag wegbleibt. Solche Lösungen hätten bei Kollegen und Mandanten nur für Verwirrung gesorgt. Der einheitliche freie Tag war die wichtigste Einsicht bei der Planung.

Straffe Organisation muss sein

Die Viertagewoche für alle muss straff organisiert sein, jeder muss sich am Riemen reißen, erzählt die Anwältin. Denn die Wochenarbeitszeit wird insgesamt kürzer und dauert nur noch 36 Stunden statt 40 – also täglich neun Stunden. Komplizierter wird es deshalb nun mit der Organisation, hat Schreiber festgestellt. Gemeinsame Termine für Meetings zu vereinbaren, sei herausfordernd. Alle anderen Termine müssen zudem vorverlegt und der Freitag freigeschaufelt werden. Weder soll das Geschäft leiden, noch der Umsatz zurückgehen, denn die Löhne bleiben so hoch wie zuvor.

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Doch wie wollen ausgerechnet Wirtschaftsanwälte ihren Mandanten verkaufen, dass die Zeiten der Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit vorbei sind? Denn genau das würden die Industriekunden von ihnen erwarten, zu jeder Tages- und Nachtzeit auch in den Ferien und an Feiertagen erreichbar zu sein, so lautet zumindest seit über 20 Jahren die Erzählung der Juristen.

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Weil das in Stein gemeißelt sei, würden auch so wenig Frauen beispielsweise Fusionen und Übernahmen verhandeln, also im M&A-Recht arbeiten, hieß es stets. Wer eine Familie zu versorgen habe, könne nicht einfach abtauchen und Deals verhandeln, was dann auch mal nächtelang dauern könne. Die Frauen verlegten sich deshalb zum Beispiel eher aufs Verwaltungsrecht – weniger glamourös, niedrigere Stundenhonorare, aber dafür berechenbarere Arbeitszeiten.

Welche Anwälte abrufbar sein müssen

Und genau hierin liegt der Grund, warum das Modell bei Härting auch funktionieren könnte. Weder stehen die Anwälte Unternehmen und Managern bei, bei denen überraschend Kartelldurchsuchungen stattfinden. Noch müssen sie hinzueilen, wenn ein Top-Manager in Untersuchungshaft genommen wird. Als IT- und Datenschutzkanzlei kann allenfalls eine einsteilige Verfügung im Markenrecht so eilig sein, dass sie nicht von Donnerstagabend bis Montagfrüh warten darf. Und für den Fall hat Härting vorgesorgt. So ganz verwaist ist die Berliner Kanzlei dann freitags doch nicht. Im Sekretariat gibt es einen Notdienst, der auch dann erreichbar ist und die zuständigen Juristen informiert. Wer freitags dann doch mal arbeitet, bekommt einen Ausgleichstag – aber das ist in den ersten sieben Wochen des Experiments noch nicht einmal vorgekommen, versichert Schreiber.

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Was die Klienten dazu sagen? Dem anfänglichen Erstaunen sei Einsicht gewichen. Die Kommentare beim Berufsnetzwerk LinkedIn hätten gezeigt, dass die meiste Kritik von Kollegen aus anderen Kanzleien kam. Eine erste vorsichtige Zwischenbilanz zeigt vor allem ein Ergebnis, erzählt die IT-Expertin: Seit die Testphase begonnen hat, sammeln sich freitags jedenfalls immer mehr Kollegen in der WhatsApp-Laufgruppe, in der man auch sieht, wer wann wie lange joggt.

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