Von Japan lernen Nebenjobs: Die Wunderwaffe für den Arbeitsmarkt

Zwei Jobs: Japan bekämpft den Fachkräftemangel mit Nebenjobs. Quelle: imago images

Japanische Unternehmen sollen ihren festangestellten Mitarbeitern Nebentätigkeiten erlauben. Das bringt für alle Seiten viele Vorteile mit sich.

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In unserer Reihe „Von Japan lernen“ stellt WirtschaftsWoche-Japan-Korrespondent Martin Fritz regelmäßig Gewohnheiten und Verhaltensweisen des asiatischen Landes vor, von denen deutsche Manager, Unternehmer und Bürger häufig noch etwas lernen können.

Wer bei der Websuche in Japan die Stichworte „lokal“ und „Nebenbeschäftigung“ eingibt, erhält Links zu einem halben Dutzend Vermittlungsportalen für Zweitjobs auf dem Land. „Helfen Sie uns, neue Produkte mit Thunfisch zu entwickeln“, schreibt ein Kleinbetrieb für Fischverarbeitung in seiner Anzeige auf dem Portal „Skill Shift“. Ein Hersteller von Werkzeugmaschinen sucht einen Ausbilder, der die Nutzer in der Bedienung unterrichten kann. Eine andere Firma braucht jemanden, der Nähmaschinen repariert, wieder eine andere wünscht sich Unterstützung beim Marketing von Tiefkühlpizza. Viele Tätigkeiten können online erledigt werden, die Entlohnung liegt im Schnitt bei mehreren hundert Euro monatlich.

Anders als etablierte Jobportale für Freiberufler etwa im Design- und IT-Bereich, die es natürlich auch in Japan gibt, richten sich Portale wie „Skill Shift“ an Erwerbstätige mit einer festen Vollzeitstelle, die eine Nebentätigkeit suchen. Der Name der Webseite ist Programm – die Fähigkeiten der Jobsucher werden „verschoben“. „Wir bringen Fachkräfte in Städten mit kleinen und mittleren Unternehmen auf dem Land zusammen, denen Arbeitskräfte und Knowhow fehlen“, erläutert der Portalbetreiber Mirai Works. „Auf diese Weise helfen wir diesen Firmen zum Beispiel neue Produkte zu entwickeln, Vertriebskanäle aufzubauen und ihre Werbestrategie zu verbessern.“

Ein modernes Zauberwort für Unternehmen in Japan lautet „gemeinsame Kreativität“. Durch Kooperationen auf Augenhöhe entwickeln sie neue Produkte und senken ihre Kosten.
von Martin Fritz

Über 10.000 Festangestellte mit einer Vielfalt an Qualifikationen haben sich auf Skill Shift als Zweitjobsucher registriert. Rund 70 Prozent davon sind zwischen 30 und 40 Jahre alt. Hirokazu Kodera zum Beispiel arbeitet Vollzeit im Marketing für einen Chemiekonzern. Nebenher entwickelt er Werbemittel für einen Taxibetrieb in einer Kleinstadt. „Ich möchte helfen, die Ressourcen außerhalb der Metropolen besser zu nutzen“, erläutert Kodera sein Motiv. Oder Ikuka Totsuka, die im Hauptjob andere Firmen bei der Expansion ins Ausland unterstützt. Nebenberuflich produziert sie für mehrere Verarbeitungsbetriebe von Nahrungsmitteln kurze Videos zum Posten auf Instagram, Twitter und Tiktok. „So kann ich ein Japan zeigen, das viele Touristen sonst nicht sehen würden“, erklärt Totsuka.

Den Erfolg dieses Vermittlungsportals darf sich die japanische Regierung auf die Fahnen schreiben. Seit fünf Jahren schmiedet das Arbeitsministerium die Nebenbeschäftigung zu einer Wunderwaffe für den Arbeitsmarkt. Gezielt setzt man die Unternehmen unter Druck, ihren Mitarbeitern Zusatzjobs zu erlauben. „Die Zeit für Japaner ist gekommen, einen zweiten Job anzunehmen“, meint Ökonom Hajime Yamazaki vom Forschungsinstitut Rakuten. Die Zusatzjobs für Festangestellte sollen den Mangel an Facharbeitern lindern, das Wachstum von neuen Branchen fördern und die Wirtschaft im ländlichen Raum beleben.

Gleichzeitig nähert sich die Regierung ihrer offiziellen Vision einer „Gesellschaft der 100-Jährigen“, wo die Senioren weiterarbeiten und dadurch länger geistig fit und körperlich gesund bleiben. Arbeitnehmer mittleren und höheren Alters können ihre berufliche Laufbahn mit Blick auf eine spätere Tätigkeit im Rentenalter überdenken. Die Erfahrungen und Kontakte aus Nebenbeschäftigungen erweitern das Spektrum ihrer beruflichen Möglichkeiten „Es ist möglich, sich auf ein zweites Arbeitsleben vorzubereiten, indem man seine Fähigkeiten und Kenntnisse durch einen zweiten Job verbessert, solange man es noch kann“, erklärt Yumiko Sasaki von der Personalberatung Grace Partners.

„Damit fällt die letzte dicke Mauer für die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt“

Über eine Leitlinie zur Beschäftigungsverordnung hatte das Arbeitsministerium im Januar 2018 die Unternehmen dazu aufgefordert, ihren Mitarbeitern Nebentätigkeiten grundsätzlich zu erlauben. Davon hätten sie viele Vorteile, erläutert der Beamte Yasuaki Furuta: Die Firmen könnten bisher nicht vorhandene Fähigkeiten dazugewinnen, wenn ihre Mitarbeiter in ihren Zweitjobs Neues lernen und mit Erfolg ausprobieren. Auch die neuen Kontakte aus den Nebentätigkeiten erweitern möglicherweise die Geschäftsmöglichkeiten für das Unternehmen, in dem Arbeitnehmer ihren eigentlichen Arbeitsplatz haben. Die Festangestellten lockt das Ministerium mit den eigenen Argumenten. Sie könnten mit Nebenbeschäftigungen ihr Einkommen erhöhen, ihre Karrierechancen verbessern, sich selbst verwirklichen und einen Jobwechsel oder eine Firmengründung vorbereiten, erklärt Furuta.

Als trotz der Änderung der Leitlinie vor allem die Großunternehmen an ihrem Verbot von Zweitjobs festhielten, verschärfte das Ministerium im Juli 2022 die Vorschrift. Die Firmen sollen die Bedingungen für die Bewilligung einer Zweitbeschäftigung veröffentlichen. Bisher durften sie einen Nebenjob mit Verweis auf Arbeitssicherheit, Geschäftsgeheimnisse und Wettbewerb untersagen. Nun müssen sie überzeugende Gründe für ein Verbot oder Einschränkungen vorlegen. „Damit fällt die letzte dicke Mauer für die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt“, kommentierte das Wirtschaftsmagazin Toyo Keizai die Vorschrift. Der Anteil der Zweitjobber unter den Festangestellten dürfte nun deutlich steigen. Bisher haben rund zehn Prozent aller Arbeitnehmer zwei oder mehr Jobs.



Premierminister Fumio Kishida integrierte die Vorgabe in seine Wirtschaftspolitik eines „neuen Kapitalismus“. Mit der Förderung von Nebenjobs sollen sich die Erwerbstätigen Zusatzqualifikationen verschaffen und dadurch den Arbeitsmarkt durchlässiger machen. Seine Experten verweisen in ihrem Grundsatzpapier „Grand Design für den neuen Kapitalismus“ auf Studien zu den Vorteilen von Nebentätigkeiten. Erfahrungen damit verringerten die Wahrscheinlichkeit einer Arbeitslosigkeit nach dem Verlust des Hauptjobs und erhöhten die Erfolgschancen bei der späteren Gründung eines Unternehmens. Die Unternehmen, die Zweitjobber beschäftigen, könnten ihren Personalmangel lindern. Rund 60 Prozent der Beschäftigten in Japan haben eine sichere Festanstellung und verbringen oft ihr ganzes Berufsleben in einem einzigen Unternehmen. Die Nebenjobs eröffnen beiden Seiten sichere Wege zu mehr Beweglichkeit. Zweitjobs ermöglichten eine „reibungslose Zuwanderung von Arbeitskräften in Wachstumsfelder und -industrien“, heißt es im „Grand Design“.

Die neue Leitlinie ist – wie häufig in Japan – nicht verbindlich, auf diese Weise erspart man sich gerichtliche Klagen. Trotzdem wirken sich solche Kurswechsel auf die Wirtschaft aus. Denn wenn der Zug sich einmal in Bewegung gesetzt hat, können viele Unternehmen sich dem Sog kaum entziehen. Laut einer vom PERSOL-Forschungsinstitut 2021 durchgeführten Umfrage unter Unternehmen erlauben immerhin schon 55 Prozent ihren Mitarbeitern einen Zweitjob, davon 24 Prozent in vollem Umfang und 31 Prozent mit Einschränkungen.

Manche Firmen ermutigen ihre Mitarbeiter sogar zum Zweitjob. Bei der Versicherung Mitsui Sumitomo kann nur noch Abteilungsleiter werden, wer Erfahrungen außerhalb des Unternehmens nachweisen kann. Dazu gehören ausdrücklich auch Nebenjobs. Der Reiseveranstalter JTB erlaubte während der Pandemie seinen Mitarbeitern, ihre Arbeitszeit flexibel zu verringern und in der gewonnenen Zeit für andere Firmen tätig zu werden.

Das Handelshaus Mitsui erlaubt seinen Mitarbeitern seit Februar, noch anderweitig Geld zu verdienen. „Wir wollen mehr zu tun, damit sie sich beruflich weiterentwickeln und neue Arbeitsformen ausprobieren können“, teilte Mitsui mit. Die Zweitjobs würden genehmigt, wenn sie die Fähigkeiten und Erfahrungen der Angestellten erweitern und nicht nur das Einkommen aufbessern. Als Beispiele nannte das Handelshaus Coaching, die Arbeit für ein Tech-Start-up und Tätigkeiten als YouTuber oder Künstler.

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Die Pandemie brachte viele Japaner dazu, ihren Arbeitsplatz neu zu bewerten. Bei einer Umfrage des größten Arbeitsvermittlers Recruit erklärten 41 Prozent der Befragten, sie würde gerne eine Nebentätigkeit aufnehmen. Wegen der neuen Akzeptanz von Telearbeit können Städter von ihrem Homeoffice aus nun problemlos Nebenjobs auf dem Land ausüben. Vermutlich deswegen verdoppelte sich der Anteil derjenigen, die ihre Nebentätigkeit im gleichen Berufsfeld wie ihre feste Arbeitsstelle ausübten, von 20 auf 45 Prozent.

Währenddessen schrumpfte der Anteil der Zweitjobber aus finanziellen Gründen von 43 auf 34 Prozent. Andere Motive erhielten mehr Gewicht – die Lust am Ausprobieren, die Freude über das Gefühl, gebraucht zu werden und der Wunsch, etwas Positives für die Gesellschaft zu leisten. Zweitjobs können sogar den Spaß an der bisherigen Arbeit vermehren: In der Recruit-Umfrage wuchs der Anteil der Befragten mit Zweitjobs, die angaben, dass sie „wieder die Attraktivität ihrer Haupttätigkeit spüren“, von 18 Prozent auf 25 Prozent.

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