Neulich in einem Berliner Supermarkt. Der etwa 19-jährige Kassierer fragt seine gleichaltrige Kollegin von der Kasse nebenan beiläufig beim Scannen: „Du, Frau Stapper?“ (Der Name ist erfunden, ich habe ihn vergessen).
„Hä“?, antwortet sie.
Die Kasse piept.
„Wie lange müssen Sie heute?“
Piep.
„Bis acht. Und du?“
Ich frage den 19-Jährigen: „Warum siezt du deine Kollegin denn und sie duzt dich?“
„Ach, wir kommen immer durcheinander. Weil wir uns ja eigentlich duzen, aber vor Ihnen als Kunden dürfen wir das nicht.“
Was soll das? Diese Duz-Siez-Gepflogenheit ist mittlerweile so verworren - da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll.
Duze ich dich, mag ich dich
Gesiezt wird eigentlich aus Höflichkeit. Gleichzeitig duzen wir aber besonders jene Menschen, die uns sehr nahe stehen: Freunde, Familie, Kollegen. Heißt: Duze ich dich, mag ich dich. Und es heißt: „Man duzt keine Respektsperson.“ Spricht man einen Polizisten auf der Straße an, dann am besten nicht mit „Du, Herr Wachtmeister.“ Andererseits: Haben Sie vor einem wildfremden Beamten mehr Respekt als vor Ihrer eigenen Mutter?
Die zehn Knigge-Basics
Wer niesen muss, tut dies indem er den Handrücken der linken Hand benutzt und sich wegdreht. Hat sich durch die abrupte Bewegung jemand erschreckt, entschuldigt man sich. Daneben kann man in einer kleinen Runde "Gesundheit" wünschen, wenn aber beispielsweise bei großen Besprechungen jemand niest, wird das ohne Kommentar ignoriert.
Wenn man sich am Telefon meldet genügt kein: Guten Tag oder Hallo. Man sollte zumindest den Familiennamen nennen. Außerdem empfiehlt es sich bei mehreren Personen im gleichen Alter, die in einem Haus wohnen, auch noch den Vornamen dazu zu nennen. Ein Gruß wie „Hallo“ oder „Guten Tag“ kann gerne nachgestellt werden, ist jedoch kein Muss.
Nach 21.30 Uhr sollte man nur in äußersten Notfällen bei anderen Personen anrufen. Außerdem empfiehlt es sich, bei älteren Personen auf eine Mittagsruhe zwischen 13 und 15 Uhr zu achten, in denen ebenfalls das Telefon stumm bleiben sollte.
Auch wenn es manchen als spontan und nett erscheinen mag. Unangekündigte Besuche sollte man vermeiden um den Gastgeber nicht zu einer ungelegenen Zeit zu stören, empfiehlt Knigge-Expertin Tosca Freifrau von Korff. Ein Anruf, 30-45 Minuten vorher hilft um zu klären, ob ein kurzfristiger Besuch möglich ist.
Bei offiziellen Anlässen wie Taufen, Hochzeiten oder aber auch einem feinen Abendessen ist es sinnvoll, den Gastgeber vorher nach dem Kleidungswunsch zu fragen, wenn dies nicht auf der Einladung vermerkt ist. So vermeidet man unangenehme Ausrutscher in Sachen Kleidung.
Egal, wie die Frage lautet oder wer sie stellt: Richtig antwortet man nur in ganzen Sätzen. So lautet die Antwort auf die Frage nach dem gewünschten Getränk im Flugzeug nicht „Tomatensaft“, sondern „Ich hätte gerne einen Tomatensaft.“
Schlecht über andere Personen reden empfiehlt sich generell nicht. Wer es dennoch nicht lassen kann, sollte das nur in einem ungestörten Umfeld tun, in dem keine Dritte zuhören. Das Bahnabteil oder den Bus zum Lästern nutzen ist also ein No-Go.
Wer ernste oder problematische Dinge mit anderen zu besprechen hat, sollte den passenden Zeitpunkt abwarten, auch wenn manche Dinge dringend sind. So gehört das Besprechen von Konflikten nicht auf eine Hochzeit oder eine Geburtstagsfeier.
Wer irgendwo Gast ist muss abwarten, wo ihn der Gastgeber hinführt. Eine Besichtigungstour auf eigene Faust a la „Ich schaue mich mal ein wenig um“ ist nicht akzeptabel. Stattdessen lieber gleich den Gastgeber um eine Führung bitten.
Wer Gäste hat, muss ihnen gestatten ihre Schuhe anzulassen. Hausschuhe, die schon von anderen getragen wurden sind keine Alternative. Im Extremfall kann man seine Gäste drum bitten, des Bodens zur Liebe die Schuhe auszuziehen. Allerdings sollte ein aufmerksamer Gast bei schlechtem Wetter gleich ein zweites Paar Schuhe für den Innenraum mitbringen.
Siezen ist eben für viele heute kein Zeichen von freundlicher Höflichkeit, sondern von kalter Distanz. Im Geschäftsleben kann diese mittlerweile zweideutige Höflichkeitsform jedoch zu Kuddelmuddel führen.
Schönstes Beispiel: Ikea. Der Möbelladen duzt seine Kunden, dass es nur so menschelt. Im Katalog, auf Plakaten, in der Radio- und Fernsehwerbung und in Durchsagen direkt im Markt. Man will zeigen: Wir gehören zusammen. Wir mögen dich.
Aber wendet man sich zur Beratung an die Mitarbeiter, wird man kaltschnäuzig angesiezt. Aha! Immer schön Nähe heucheln - und wenn Ikea dann direkt auf den Kunden stößt, wenn sich Kunde und Mitarbeiter Auge in Auge gegenüber stehen, dann wird ein Rückzieher gemacht. Alles nur Show.
Meist entscheidet das Umfeld
Es gibt Firmen, da gehört es zum guten Ton, wenn sich die Mitarbeiter untereinander duzen. Ich finde das nett. Aber ich habe mal bei einem privaten Fernsehsender gearbeitet, da haben sich alle untereinander geduzt, nur der Geschäftsführer wollte gesiezt werden - aber nicht von allen.
Wie lässt sich das erklären? Hat der Geschäftsführer mehr Höflichkeit verdient? Aber nur von einigen? Und was, wenn nun in dieser Firma ein Mitarbeiter zu einem anderen sagen würde: „Du, ich möchte, dass wir beide uns ab sofort siezen. Danke für Ihr Verständnis.“
Oh, das wäre ein Affront! Beim einen ein Zeichen von Respekt, beim anderen ein Zeichen von Ablehnung. Kurios! Und wie schreiben Sie dann E-Mails an einen Geduzten und einen Gesiezten zusammen:
Lieber Herr Schneider,
liebe Michaela,
ich habe Ihnen/Dir das Konzept ausgearbeitet. Wenn Sie/Du noch Fragen haben/hast, dann erreichen Sie/erreichst Du mich am besten auf dem Mobiltelefon.
Eleganz auf Deutsch. Noch besser: Vorname statt Nachname, aber plus Sie. „Lutz, können Sie bitte mal kommen?“ Soll das nun höflich, verbunden, flapsig, formell, distanziert und vertraut gleichzeitig sein? Es ist zumindest eines: unentschlossen.
Oft zählt allein das Umfeld. Man käme kaum auf die Idee, die hübsche Flugbegleiterin in der Business-Class zu fragen: „Hast du noch ein Scheibchen Zitrone für meinen Gin Tonic?“ Das wäre ganz von oben herab. Schon fast sexistisch.
Jetzt dieselbe junge Frau in einer Cocktail-Bar hintern Tresen: Wer sie dort siezt, wirft sich selbst zum alten Eisen. Und wahrscheinlich würde auch die Bar-Frau ihre Gäste duzen.
Gebührt einem Fluggast mehr Respekt als einem Gast einer Cocktail-Bar? Und andersrum: Ist es mal wieder die Uniform, die uns so ehrfürchtig macht?
Oft zählt das Alter. Junge Menschen duzen sich meist untereinander. Ältere untereinander nicht wegen alter Schule. Und bei größerem Altersunterschied wird auch gesiezt. Aber wer einem End-Dreißiger einen Tritt in die Seele verpassen will, der siezt.
Das "Sie" ist veraltet
Im Fitnessstudio wird geduzt. Im Sportgeschäft nicht. Beim Tauch-Urlaub ja, im Schwimmbad nein. In der Medienbranche in der Redaktion ja, in der Verwaltung nicht automatisch. In der SPD schon, in der CDU nicht. Der junge Assistent wird im Geschäft wieder gesiezt, seitdem sich die Chefin auch nach Feierabend mit ihm trifft. Erkennen Sie in diesen Arten von Mitmenschlichkeit irgendein logisches System?
Es wird ja auch schon von vorne herein falsch angelegt. In der Schule werden die Schüler von den Lehrern geduzt und die Schüler siezen den Lehrer. Diesmal nach der Regel: Kinder werden geduzt und Erwachsene nicht. Ab einer bestimmten Klassenstufe aber haben dann die Schüler mitunter einen Anspruch darauf, von den Lehrern gesiezt zu werden, obwohl sie bislang von ihnen geduzt wurden. Dabei haben wir ja gerade schon festgestellt, dass ein Wechsel von Du auf Sie nichts anderes ist als ein Schritt von einander weg.
Dennoch: Man wächst sozusagen mit der Pubertät in den angeordneten Respekt hinein. Nach den Sommerferien ist man plötzlich Sie-reif. Ein vergiftetes Sie.
Ich erinnere mich noch, wie wenig das mit Höflichkeit und Respekt zu tun hat. Einer meiner Lehrer sagte damals: „Wollt ihr gesiezt werden? Aber ich sag es gleich: Ich duze oder sieze nur klassenweise. Den Scheiß mit einzelnen Ausreißern, die sich für was Besonderes halten, könnt ihr vergessen.“
Wir boten damals jedem einzelnen Lehrer an: „Sie können uns gerne weiter duzen, wenn wir Sie auch duzen dürfen.“ Raten Sie mal, wie viele Lehrer sich darauf eingelassen haben.
Antwort: null. Begründung: „Sie Arschloch geht immer noch schwieriger über die Lippen als du Arschloch.“ Wie bei den Polizisten: Die Befürchtung, zu viel Nähe ruiniere den Respekt. Oje! Wo ist da das Selbstvertrauen geblieben? Und als wenn am Ende das Sie den letzten Funken Respekt noch am Glimmen halten könnte.
Wie machen wir weiter? Lasst uns uns duzen. Erster Schritt: Lasst uns nicht mehr beleidigt sein, wenn wir geduzt werden. Nicht, weil wir uns alle so doll lieb haben, sondern weil diese Zwei-Klassen-Ansprache einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Übrig geblieben aus dem alten Standesdenken, nachdem bei Hofe sogar die zweite Person Plural verwendet wurde („Habt Ihr noch Wünsche, gnädiger Herr?“), die sich auch längst erledigt hat.
Und weil das alberne Siezen-Duzen-Hickhack vor allem im Geschäftsverkehr in der aktuellen Übergangsphase nur zu Verunsicherung führt - und niemals zu mehr Souveränität zwischen Kollegen oder Kunden und Dienstleistern -, kann ein bisschen Tempo beim Abschaffen nichts schaden. Siezen nur noch als neue, dezente Art der Ablehnung - statt einer handfesten Beleidigung. Das hätte doch Stil.
Wie fühlen Sie sich, wenn ich Euch frage: Darf ich Euch Leser duzen? Komisch, ne? Schade eigentlich. War nämlich als Kompliment gemeint.