Work-Life-Balance „Viele Männer überlebten kaum ihre Pensionierung“

Der bürgerliche Mann im 19. Jahrhundert hatte wenig Muße. Quelle: Getty Images

Von wegen Zeitgeist: Schon im 19. Jahrhundert rangen Menschen darum, eine Balance zwischen Arbeit, Freizeit und Familie zu finden. Die Historikerin Eva Ochs hat erforscht, wie das den Männern des Bürgertums gelang.

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Eva Ochs ist Historikerin und lehrt an der Fernuniversität Hagen. Das Thema ihrer Doktorarbeit war „Beruf als Berufung? Die Work-Life-Balance bürgerlicher Männer im 19. Jahrhundert“. Im Juni 2020 sprach sie darüber mit der WirtschaftsWoche.

WirtschaftsWoche: Frau Ochs, Sie haben sich in Ihrer Habilitationsschrift am Institut für Geschichte und Biographie der Fernuniversität Hagen mit der Work-Life-Balance von Männern im 19. Jahrhundert beschäftigt. Gab es die denn jemals?
Eva Ochs: Diese Idee der Balance, die auch heute sehr stark ist, war wohl schon immer eine Fantasie. Auch die Menschen im 19. Jahrhundert rangen eher erfolglos damit, einen Zustand zu finden, in dem sie mit Arbeit und Freizeit, die ja in früheren Zeiten noch nicht so genannt wurde, im Einklang waren.

Wenn man den Anspruch formuliert, man wolle eine Work-Life-Balance, muss man ja erstmal die Unterscheidung haben zwischen Arbeit und Leben. Wann fing das an?
Es gab zum Beispiel schon seit dem ausgehenden Mittelalter den Blauen Montag für Handwerker, an dem sie nur mit halber Kraft arbeiteten. Arbeitsunterbrechungen waren auch für bestimmte Ereignisse wie Gauklerbesuch in der Stadt möglich. Aber dass im Alltag zwischen Arbeit und Freizeit unterschieden wird, kam erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mit Industrialisierung und Industriekapitalismus auf. Zunächst nur im Bürgertum, das sich Ende des 18. Jahrhunderts als Gegenentwurf zum Adel formierte. Ein verbreitetes Konzept wurde das aber erst  zur  Jahrhundertwende, als es sich in weiteren Teilen der Bevölkerung – etwa bei den Fabrikarbeitern – durchsetzte.

Was haben heutige Männer mit denen im 19. Jahrhundert gemeinsam?
Mit der Orientierung auf Arbeit und Leistung waren auch die Männer des 19. Jahrhunderts immer stärker konfrontiert. Für Männer, die also nicht adelig waren, sondern als Unternehmer, Bildungsbürger oder höhere Verwaltungsbeamte zu Vermögen gekommen waren, war die Norm, dass sie rastlos tätig zu sein hatten. Das  Bürgertum hatte eine Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau entwickelt. Der Mann sollte sich draußen im Leben und in seinem Beruf bewähren, während die Frau für die häusliche Gemütlichkeit sorgte. Dieses traditionelle Modell hat sich ja, wenn man ehrlich ist, bis heute gehalten. Heute sind allerdings auch Frauen mit der Problematik der Work-Life-Balance konfrontiert, weil sie ebenfalls berufstätig sind.

Gab es früher weniger Streit um Haushalt und Kinderbetreuung als heute?
Der Mann des 19. Jahrhunderts war auch schon damit konfrontiert, dass er zuhause zumindest eine Präsenz zeigen und Teil des emotionalen Familienlebens sein sollte. Die Schwierigkeit war, dass der Beruf ihm kaum Zeit dafür ließ. Wann konnte er schon zuhause sein, um den Kindern mal den Kopf zu tätscheln oder als strafender oder lobender Vater in Erscheinung zu treten?

Aus Ihrer Forschung geht hervor, dass die Männer das nicht nur sollten, sondern auch wollten. Schon deshalb, weil sie gewisse Bildungserwartungen an ihre Kinder hatten und deren Erfüllung überwachen und beeinflussen wollten. Ein Stressfaktor, der auch heutigen Eltern bisweilen zu schaffen macht.
In der Tat sahen es viele Männer als ihre Aufgabe an, den Nachwuchs in die rechte Bahn zu bringen. Beim Adel war das einfacher: Da erbte der Nachfolger den Titel. In den bürgerlichen Berufen wie Anwalt oder Bankier sollten die Kinder in die entsprechenden Bildungsabschlüsse gelenkt werden, um auch in diesem Feld tätig werden zu können.

Taten die damaligen Arbeitgeber etwas für die Work-Life-Balance ihrer Angestellten?
Das war damals keine Option. Viele Männer arbeiteten bis zur Erschöpfung, einige waren anschließend Fälle fürs Sanatorium. Die Vorstellung eines verantwortlichen Arbeitgebers existierte nicht.

Reif fürs Sanatorium heißt heute Burnout?
Teilweise, viele überlebten damals ja kaum ihre Pensionierung. Andere flüchteten sich auch geradezu in die Krankheit. Das war ein Weg, sich von den Ansprüchen zu lösen. Dann war klar: Er hat alles gegeben, aber die Krankheit setzt seinem Einsatzwillen Grenzen.

Wie haben Männer den Konflikt gelöst, im Beruf Leistung zu bringen und auch zuhause Präsenz zu zeigen?
Auch damals gab es viele Paare, die sich darum stritten, wieviel Zeit der Mann opfern könnte und wie viele Ansprüche die Ehefrau stellen durfte. Es gab oft keine Lösung, sondern es war eine permanente Konfliktlage. Die Männer konnten für sich ins Feld führen, dass die Zuständigkeitsbereiche getrennt waren und die berufliche Rolle eine ungeheure Wichtigkeit hatte. Das musste die Frau respektieren. Manche, wie der Unternehmer Werner von Siemens, gingen auf in ihrer Rolle als Pionier und Firmengründer, der von sich aus sagte, er könne als Ehemann und Vater keine Präsenz zeigen. Dafür ließ er sich von einem Hauslehrer vertreten.

Was war die Position der Frauen dabei?
Einige nahmen es klaglos hin, wie Mathilde von Siemens, die ihren Werner bewunderte und es selbstverständlich fand, zuhause alles zu managen. Andere, wie Emilie Fontane, standen in ständigem Streit mit ihrem Mann, dem Literaten Theodor Fontane. Wichtig wurden die Frauen, wenn es um Geselligkeit und Repräsentation ging. Dann musste die Ehefrau den Direktoren zeigen, dass ihr Mann in guten Händen war, sodass man ihn durchaus befördern könne. 

War es eine Option, dem Ganzen zu entgehen, indem man keine Familie hatte?
Natürlich, es gab auch Männer, die eine mönchische Vorstellung von ihrem Beruf hatten. Das betrifft vor allem höhere Beamte, die den Dienst am Staat als ihre Erfüllung sahen.

Wie war das Gefühlsleben der Männer? Was taten die, die einfach gerne bei ihrer Familie waren, aber nicht konnten?
Autobiografien, Briefe und Tagebücher dieser Männer zeigen, dass viele sich wenig kümmerten und ihre Kinder dennoch sehr liebten. Werner von Siemens etwa sah es nicht als mangelnde Liebe an, dass er nicht da war. Waren die Väter viel auf Reisen, hielten sie zum Beispiel auch Briefkontakt mit ihren Kindern.

Was haben Männer für sich getan, jenseits von Beruf und Familie?
Die Gründergeneration, die Industrieunternehmen aufgebaut oder Banken gegründet haben, haben fast nur für ihre Unternehmen gelebt. Wenn es nicht mehr ging, unternahmen sie Bäderreisen und Kuren, um ihre Gesundheit wiederherzustellen und für die Arbeit wieder zur Verfügung zu stehen. Das gehörte aber schon zum gehobenen Lebensstandard. Ansonsten haben gerade die Pioniere keine Hobbies gepflegt. Die nachfolgenden Generationen erweiterten ihr Interessenspektrum. Die Söhne der Unternehmensgründer Thyssen oder Krupp waren zwar in der Firma tätig, hatten aber auch kulturelle Interessen. Friedrich Krupp etwa interessierte sich für Meeresbiologie, die Thyssen-Söhne sammelten Kunst.

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Gab es bereits ein Gesundheitsbewusstsein, um eine Bäderreise gar nicht erst nötig zu haben?
Viel weniger als heute. Die Männer des 19. Jahrhunderts verwendeten aber gerne den Begriff Regeneration, wenn sie Wanderungen unternahmen. Das taten vor allem die jüngeren Männer, dann über mehrere Tage. Das Naturerlebnis galt bereits damals als Erholung. Bewusste körperliche Ertüchtigung wie heute im Fitnessstudio gab es dagegen nicht. Die älteren Herren gingen stramm spazieren. Fontane machte das jeden Morgen und jeden Abend.

Mehr zum Thema: Die Gesundheitstricks der Top-Manager.

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