Den Mangel, den Sennet beklagt, nennt Grünewald "Werkstolz". In immer mehr modernen Arbeitsplätzen ist die Möglichkeit, in absehbaren Zeiträumen Werke zu schaffen, auf die man stolz blicken und verschnaufen kann, abhanden gekommen. Sowohl für Manager zum Beispiel als auch für weniger qualifizierte Mitarbeiter in der Dienstleistungsbranche, etwa in Call-Centern steht am Ende eines Arbeitsabschnittes kaum ein greifbares Ergebnis, kein Werk, das man stolz betrachten – und währenddessen verschnaufen kann. Die Arbeit bietet keine spürbaren Zäsuren.
Beschleunigung - nicht nur im Arbeits-, sondern auch im Privatleben - ist für den Soziologen Hartmut Rosa das zentrale Merkmal der Gegenwartsgesellschaft: Wir sparen immer mehr Zeit, sind aber nie schnell genug und können die Ersparnis daher nie genießen. Ein Acht-Stunden-Tag 2014 ist nicht derselbe wie ein Acht-Stunden-Tag 1980. Die Brutto-Arbeitszeitreduzierungen, die die Gewerkschaften erkämpft haben, holten sich die Arbeitgeber nämlich beim Netto klammheimlich zurück. "Die Fugen in der Arbeitszeit, die in den Betrieben früher stets vorhanden waren, das Schwätzchen auf dem Gang oder bei der Rauchpause, sind verschwunden", sagt der Zeitforscher Karl-Heinz Geißler. "Das ist die Ursache des Stresses, über den heute geklagt wird: die Fugenlosigkeit der Arbeit."
Psychische Erschöpfung entsteht, wenn sich Menschen als Getriebene widriger Umstände und vielfältiger Ansprüche empfinden, die unaufhörlich auf sie wirken: Hohe Arbeitsanforderungen bei niedrigem Tätigkeitsspielraum. Psychisch krank werden daher meist nicht die Chefs und nicht die Freiberufler, sondern Angestellte.
Abstellen kann der einzelne Arbeitende die Belastung durch das immerwährende Effizienzdiktat nicht. Aber er kann sich innerlich, emotional befreien. Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie an der Berliner Charité empfiehlt leidenden Arbeitnehmern genau das, was Arbeitgeber nicht hören wollen: die innere Emigration. Sich nicht aufreiben für die Firma, Nein sagen, Distanz zum Job, sein Selbstbewusstsein aus anderen Lebensbereichen ziehen.
Das heißt nichts anderes als das moderne – zugleich marxistische und kapitalistische – Heilsversprechen der Erwerbsarbeit vergessen. Heuser empfiehlt Menschen, die an ihrem Job leiden einen Einstellungswechsel: „Die Arbeit muss mich nicht glücklich machen, sie ist auch nicht dafür da, meinem Leben einen Sinn zu geben – sie muss mir nicht mal Spaß bringen. Sie ist einfach nur mein Broterwerb.“
Der alte Marx und die modernen McKinsey-Kapitalisten, die ihm näher stehen, als sie meinen, verdienen deutlichen Widerspruch: Die Gesellschaft ist eben gerade nicht im Gleichgewicht, wenn sie sich allein um das Zentralgestirn Arbeit dreht, sondern wenn keine gesellschaftliche Domäne überproportional betont wird. Auch die Wirtschaft nicht. Der Wert eines Menschen für sich selbst und die Gesellschaft sollte nicht allein nach seiner Arbeit bemessen werden. Das tut ihm unrecht, verletzt seine Würde – und seine seelische Gesundheit.