Gastrosophie Wer gut isst, kann besser denken

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Genussvolle Verbindung von Essen und Denken

Im Mittelalter gerieten die gastrosophischen Klassiker in Vergessenheit – bis sie im 18. und 19. Jahrhundert von Jean-Jacques Rousseau, Friedrich Nietzsche und Ludwig Feuerbach wiederentdeckt wurden. Von Feuerbach sind eine ganze Reihe gastrosophischer Kalendersprüche überliefert: „Der Mensch ist, was er isst“ zum Beispiel oder auch: „Wer die Welt verändern will, muss bei der Speisekarte anfangen“.

Auf den Begriff gebracht aber hat die genussvolle Verbindung von Essen und Denken ein anderer kluger Feinschmecker: der deutsche Schriftsteller Eugen von Vaerst. Er setzte 1851 erstmals die altgriechischen Wörter sophos (Weisheit) und gaster (Magen) zusammen und definierte Gastrosophie als Lehre von den Freuden der Tafel und der Ästhetik der Esskunst, vom Benehmen bei Tisch, aber auch von der Gartenkultur. Heute wird der Begriff semantisch enger, moralischer gefasst.

Phänomene wie Massentierhaltung und Gengemüse bestimmen die gastrosophischen Debatten im Jahr 2016: Wie können wir acht, neun, zehn Milliarden Menschen ethisch zumutbar ernähren? Wie viel gentechnische Unterstützung benötigen wir dabei? Wie viel Bio ist möglich und nötig? Wie sieht die Ökobilanz einer Flugananas aus? Darf ein Schweineschnitzel weniger kosten als Hofgemüse?

Die Deutschen stehen auf Wurst und Fleisch

Die Deutschen sind im Hinblick auf ihre Lebensmittel besonders geizig; nirgends sonst in Europa gibt es mehr Discounter und mehr Billigangebote. Laut Statistischem Bundesamt verwenden die Deutschen gerade einmal zehn Prozent ihrer Konsumausgaben auf Lebensmittel. Spanier und Franzosen sind immerhin bereit, 14 Prozent in das leibliche Wohl zu investieren; in Italien liegt der Anteil sogar bei 15 Prozent. „In Bezug auf ethische Fragen sieht es in Frankreich oder Spanien nicht besser aus als in Deutschland“, sagt Gastrosoph Lemke.

„Aber die Menschen dort nehmen sich mehr Zeit für gemeinsame Mahlzeiten und haben ein größeres Bewusstsein dafür, dass Qualität eben auch kostet.“ Immerhin, der Gastrosoph erkennt auch hierzulande einen Sinneswandel. „Die Zeit des billigen Essens ist vorbei“, sagt er. Das zeigen die Renaissance des regionalen Wochenmarktes und die wachsende Anzahl von Biosupermärkten.

So teuer ist Bio-Ernährung
Wo Bio draufsteht, ist auch Bio drin Quelle: dpa
Bio-Produkte 42 Prozent teurer Quelle: dpa
Verbraucher können sparen Quelle: dpa
Größte Preisunterschiede bei tierischen Produkten Quelle: dpa
Bio-Supermärkte nur elf Prozent teurer Quelle: obs
Günstigste Variante: Supermärkte und Discounter Quelle: dpa
Wo ist Obst und Gemüse besonders preiswert?Besonders preiswert ist biologisch angebautes Obst und Gemüse im Discounter erhältlich. Discounter beziehen den Großteil ihres Produktsortiments nicht aus Deutschland und können so das niedrige Preisniveau halten. Für Verbraucher, bei denen der Verdienst nicht für einen Einkauf im Biomarkt reicht, sind Discounter eine Alternative - ökologisch sind die Produkte durch weite Transportwege aber häufig fragwürdig. Quelle: dpa

Doch wie ernährt sich eigentlich ein Gastrosoph? Wie lässt sich auch im Alltag, abseits eines einzelnen gastrosophischen Abends, nach der Philosophie des guten Essens leben? Lemke hat da ein paar Ideen. Ein Mensch, der Fast Food isst, is(s)t unmoralisch, sagt er. Stattdessen viel Bio und Regionales, weniger Fleisch. Lemke gärtnert, geht selten in Restaurants, kocht jeden Tag selbst, und mindestens eine Mahlzeit verbringt er dabei in Gesellschaft: Das stärkt die Konzentration auf das Essen und steigert seine Wertschätzung.

Aber auch der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle. Wie viele Stunden am Tag sind wir bereit für die Herstellung und Zubereitung unserer Nahrung zu opfern? Bei dieser Frage wird der Gastrosoph leidenschaftlich. „Den ganzen Wohlstand, den wir uns erarbeitet haben, sollten wir dafür nutzen: für gutes Essen, gutes Denken – für die Idee von einem guten Leben.“

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