WirtschaftsWoche: In heutigen Stellenanzeigen ist die Botschaft stets: Bei uns sollst du all Deine Talente ausleben, zeigen, was du kannst, und Dich selbst verwirklichen. Spielten solche Glücksversprechen für die Arbeitswelt vor 100 Jahren auch schon eine Rolle?
Donauer: Zu Anfang des 20. Jahrhunderts war Arbeit für die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung vor allem Plackerei. Ein notwendiges Übel, um sich und die Familie zu ernähren. Also eher Arbeitslast als Arbeitslust. Aber natürlich gab es auch damals schon Leute, die ihren täglichen Broterwerb mit großer Freude betrieben haben.
Wir reden jetzt nur vom Arbeiter im engeren Sinn?
Ja, in meiner Studie geht es um die Geschichte der Gefühle bei der industriellen Erwerbsarbeit, also von denen, die in der Werkshalle an der Maschine standen. Ich habe dafür das Personalmanagement von Unternehmen in den vergangenen 100 Jahren untersucht. Und dabei konnte ich feststellen, dass die Unternehmen schon zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts mit dem Versuch begannen, positive Gefühle für ihre Arbeiter zu erfinden.
Heute denkt man, dass nur moderne Unternehmen wie Google versuchen, eine Wohlfühl-Atmosphäre zu verbreiten. Aber es war auch den Industrieunternehmen vor 100 Jahren schon bewusst, dass die Stimmung der Arbeiter sehr produktionsrelevant ist. Solche Bemühungen zielen nach meiner Beobachtung immer auf den Teil der Arbeitsbevölkerung, der noch Alternativen auf dem Arbeitsmarkt hat. Oder auf solche, die einfach wegen ihrer großen Zahl von besonderer Bedeutung sind. Die normalen gewerblichen Angestellten waren vor 100 Jahren so wichtig für Unternehmen, dass man ihre Gefühle nicht unberücksichtigt lassen konnte. Heute sind es wahrscheinlich eher die jungen Hochqualifizierten im Dienstleistungsbereich, auf die das zutrifft.
Sind vom Anfang des 20. Jahrhunderts auch arbeitsbedingte psychische Leiden bekannt, wie wir sie heute als Burnout kennen?
Arbeiter berichteten auch damals von großer Erschöpfung, von Angst und Nervositätszuständen, weil die Arbeit sie komplett überforderte, weil es zu laut war und teilweise auch einfach körperlich sehr anstrengend.
Und die Arbeitgeber haben das als Problem erkannt?
Um 1900 in der Hochphase der Industrialisierung haben Unternehmer meist noch sehr patriarchal reagiert. Sie versuchten, Konflikte mit Polizeigewalt zu lösen. Wenn sich die Arbeiter beschwerten über die Arbeitsbedingungen oder gar streikten, kam es oft zu handgreiflichen Konfrontationen auf dem Werksgelände. Aber kurz nach dem Ersten Weltkrieg, als die Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik auch gesetzlich gestärkt worden war und sich das Kräfteverhältnis verschoben hatte, ließen sich viele Unternehmer von Arbeitswissenschaftlern beraten. Und die sagten ihnen, dass es deutlich weniger kostet, die Arbeitnehmer einzubinden. Und dann begannen die Bemühungen, eine Atmosphäre einer „Betriebsfamilie“ herzustellen. Die Unternehmer wandelten sich also und investierten in das Wohlbefinden auf dem Fabrikgelände.
Was bedeutet das konkret?
Zum Beispiel behagliche Kantinenräume, Parkanlagen, Sportplätze für die Belegschaft. Das ist ein wechselseitiger Prozess. Die Arbeiter beschwerten sich über dunkle Fabrikhallen und schlechte Behandlung durch herumbrüllende Vorarbeiter. Diese Beschwerden haben dazu beigetragen, dass sich die Arbeitgeber gegenüber Veränderungen geöffnet haben. Natürlich sank auch die Arbeitszeit langsam, die Werkshallen wurden besser beleuchtet und belüftet, der Lärm reduziert. Aber insgesamt haben die Arbeitgeber nur wenige Kompromisse bei der Arbeitslast gemacht. Die Geschwindigkeit der Fließbänder hat sich in den Zwanzigerjahren sogar verdoppelt. Aber die Gehälter nicht.
Statt handfester, finanzieller Verbesserungen boten die Arbeitgeber bessere Gefühle?
Ja. Die Arbeitgeber versuchten die Arbeitnehmer durch eine emotionale Politik an die Betriebe zu binden. Und mehr noch: Sie zu begeistern für das reibungslose Funktionieren der Fabrik. In einer Manager-Zeitschrift der Vorkriegszeit wird Chefs zum Beispiel ein „leutseliges Wesen“ empfohlen und die „achtungsvolle Behandlung“ des Personals, sowie „aufmunternde Worte und gelegentliche Anerkennung“. Nach dem ersten Weltkrieg fruchtet dieser Rat und aus „Arbeitern" werden in der Weimarer Republik „Mitarbeiter“.