Gesellschaft Strebt nach eurem Werk!

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Muße tut Not

Der Psychologe Stephan Grünewald sieht Deutschland als eine "erschöpfte Gesellschaft". Er empfiehlt die Besinnung auf die schöpferische Kraft des Traumes.
von Ferdinand Knauß

Das Leben kann ein bloßes Dasein sein, eine nie endende Anpassung an die Erfordernisse der Märkte. Im schlimmsten Fall lernt man dann langweilige Dinge, um einen Job zu bekommen, den man hasst, um dadurch Geld zu verdienen, um Dinge zu kaufen, die man nur braucht, um sich über die Ödnis der als sinnlos empfundenen Arbeit hinwegzutrösten. In solch einem Leben ist Erschöpfung eine der wenigen Quellen des Stolzes - bis sie womöglich zum totalen Ausbrennen und in die finale Sinnkrise führt. 

Das Leben kann aber auch ein Abenteuer sein, eine mythische Heldenreise zu sich selbst. In der geht es nicht darum, sich abzurackern, um total ausgepowert anzukommen, sondern Prüfungen zu bestehen, Schätze zu finden und Wissen zu gewinnen. Mit anderen Worten: Es geht darum, Werke zu schaffen, auf die man – heimgekehrt von der alltäglichen Arbeits-Odyssee – stolz sein kann. Im besten Fall erreicht man das, was der Philosoph Karl Jaspers „Selbstsein“ nennt. Die Werke müssen nicht unbedingt große Kunst oder nobelpreiswürdige Forschungsergebnisse sein. Aber Sinn müssen sie für ihren Schöpfer haben. Dann kann er vielleicht, wie Jaspers sagt, „obgleich ich Amboss bin, als Hammer … vollziehen, was ich erleiden muss“.

Zeit zum Träumen und Nachdenken

Was wir  - und damit ist nicht die abstrakte deutsche Volkswirtschaft gemeint, sondern die konkreten Menschen aus Fleisch und Blut – wirklich brauchen, ist nicht mehr Arbeit um jeden Preis, sondern Arbeit, die sinnvolle Werke hervorbringt. Sinnvoll für ihren Schöpfer und sinnvoll für die Mitmenschen. Und mehr Muße. Zeit für unsere Kinder und die anderen wirklich wichtigen Dinge. "Wer wird auf dem Sterbebett sagen: Wäre ich damals nur länger im Büro geblieben!", sagt Jeremy Rifkin im Film.

Muße tut not. Muße fürs Träumen und fürs Nachdenken. Wirklich schöpferische Menschen – hier ist nicht von der lächerlichen Pseudokreativität die Rede, die in Business Schools gepredigt wird – erscheinen oft als faul, weil sie produktiv träumen und nachdenken, während um sie herum alle besinnungslos betriebsam sind. Das, was nach außen sichtbar als Arbeit erscheint – zum Beispiel das physische Schreiben – ist eigentlich eher eine Formalität am Ende des schöpferischen Prozesses. Muße ist die wichtigste Bedingung dafür, dass Erschöpfte wieder zu Schöpfern werden können.

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