Auf nach Ulm? Bürokratie in Deutschland lässt Gründer verzweifeln

Bürokratierepublik Deutschland: So schwer wird es Gründern gemacht Quelle: imago images

Viele Gründer resignieren angesichts deutscher Formalitäten. Armin Laschet zieht deshalb sogar mit einem „bürokratiefreien“ ersten Jahr für Start-ups in den Wahlkampf. Exklusive Zahlen zeigen massive regionale Unterschiede.

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Bürokratie nervt. Davon können wohl die meisten Menschen ein Lied singen. Niklas Panten aber hat die Bürokratie mehr als nur Nerven gekostet. Panten hatte für sein Start-up Etalytics bereits eine Finanzierung von vier Investoren in Aussicht. Nur die Ausgründung aus der TU Darmstadt und die Veröffentlichung im Handelsregister standen der Unterschrift noch im Weg. Panten und seine Mitgründer beeilten sich, Anfang Januar 2020 schufen sie beim Notar die GmbH und eigene Gesellschaften, über die sie ihre Anteile halten. Doch bis die im Handelsregister veröffentlicht wurden, vergingen mehr als drei Monate, derweil nahm eine Pandemie ihren Lauf. Die Investoren nahmen die zum Anlass, die vorher vereinbarten Konditionen nachzuverhandeln. Die Etalytics-Gründer beendeten die Gespräche, finanzierten die ersten Monate ihres Start-ups, mit dem sie eine Energiemanagement-Software entwickeln, selbst. 

Pantens Unternehmen ist Teil einer Statistik, die gerade bei vielen Wirtschaftsförderungen und Amtsgerichten für Aufregung sorgt. Der Branchendienst Startupdetector aus Berlin hat in Zusammenarbeit mit Statista ausgewertet, wie lange es 2020 nach einem Notartermin dauerte, bis Start-ups im Handelsregister eingetragen und veröffentlicht wurden. Die vollständigen Daten zu sämtlichen deutschen Amtsgerichten mit einer Registerabteilung liegen der WirtschaftsWoche exklusiv vor. Zentrales Ergebnis: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Standorten der Amtsgerichte sind gigantisch. Mancherorts müssen Gründer nach dem Termin beim Notar mehrere Monate warten, bis ihr Unternehmen im Handelsregister steht. Anderswo ist das in ein paar Tagen erledigt.

Diese Nachricht fällt hinein in einen aufziehenden Wahlkampf, in dem auch die ewig aktuelle Debatte um den Bürokratieabbau eine neue Dynamik bekommen dürfte. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet hat gerade ein „bürokratiefreies“ erstes Jahr für Start-ups in Aussicht gestellt. Ein Anliegen, das viele Gründer im Kern unterstützen. „Jede durch unnötige Bürokratie fehlende Arbeitsstunde könnte ich als Gründer viel besser in die Weiterentwicklung unserer Produkte und des Geschäfts investieren“, klagt etwa Gründer Panten. In der Anfangszeit könne das einen erheblichen Unterschied machen. „Besonders im internationalen Wettbewerb mit Start-ups aus Ländern, die durch effiziente, digitale Prozesse noch schneller agieren können.“

Wie viel Arbeit hier tatsächlich vor der nächsten Bundesregierung liegt, belegt die Studie von Startupdetector vor allem für die großen Gründerstandorte in Deutschland eindrücklich, wo die Datenbasis so groß ist, dass die Ergebnisse Rückschlüsse zulassen. Zwar liegt Montabaur an der Spitze des Rankings mit nur acht Tagen zwischen Gesellschaftervertrag und Veröffentlichung im Handelsregister. Doch der Wert beruht gerade mal auf fünf analysierten Start-ups im vergangenen Jahr. Startupdetector identifiziert nur solche Unternehmen als Start-up, die bei der Gründung ein innovatives Geschäftsmodell oder Produkt mit neuartigem Charakter und ein hohes Wachstumspotenzial bieten. Bundesweit die meisten davon sah das Unternehmen 2020 in Berlin. Hier übernimmt das Amtsgericht Charlottenburg die Eintragung ins Handelsregister. 37 Tage dauerte es laut der Statistik im Mittel, bis ein Start-up in Berlin im Handelsregister eingetragen und veröffentlich wurde. Damit hinkt Deutschlands Start-up-Hauptstadt anderen großen Standorten wie Hamburg, München, Stuttgart und Dresden hinterher. Frankfurt am Main bildet unter den ganz großen Standorten das Schlusslicht. Und ist damit nur die größte Stadt eines ganzen Bundeslandes, das in dieser Hinsicht offenbar noch einiges aufzuholen hat. (Siehe Tabelle)



Vom Frankfurter Amtsgericht heißt es auf Anfrage, dass eine Eintragung und Veröffentlichung im Handelsregister „erfahrungsgemäß zwischen drei und zehn Werktagen“ in Anspruch nimmt. Voraussetzungen: Die notwendigen Dokumente sind vollständig, das Gericht hat nichts zu beanstanden, der Umfang der zu prüfenden Dokumente ist nicht außergewöhnlich groß und der Notar übernimmt Kostenhaftung für die Gerichtskosten. Gerade bei Rückfragen oder Anmeldungen mit Auslandsbezug könnte im Einzelfall auch eine weitaus zeitintensivere Prüfung vonnöten sein, heißt es vom Amtsgericht.

Tatsächlich sind die Amtsgerichte nur das letzte Glied in der Bürokratie-Kette. Sie für die Dauer der Bearbeitung verantwortlich zu machen, mag naheliegen, kann aber allerhöchstens ein Indiz für einen Missstand sein, der deutlich tiefer geht. Das Aufsetzen der Verträge, die Übermittlung ans Gericht, die Eröffnung eines Geschäftskontos und die Einzahlung des Stammkapitals sind zeitintensiv. Und nicht Aufgaben der Amtsstuben. Das Gericht kann nur Prüfung und Eintragung beeinflussen. Und das auch erst, wenn die Anträge eingetroffen sind. Immerhin gehen die Dokumente seit Jahren ausschließlich digital über eine Software ein. Das Amtsgericht in Frankfurt gibt zu, dass gelegentlich zu wenig Personal für die Anträge im Dienst ist. „Erfahrungsgemäß entstehen die meisten Verzögerungen aber durch fehlende oder nicht vollständige Dokumente, also Umstände, welche der zuständige Notar oder dessen Mandantschaft zu verantworten und letztendlich zu beheben haben“, so eine Sprecherin des Amtsgerichts.

„Oh weia“

„Durch Urlaubs- und Krankheitsausfälle kann sich die Eintragungsdauer insbesondere bei angespannter Personalsituation natürlich verzögern“, heißt es auch vom Amtsgericht im hessischen Darmstadt, dem Standort von Etalytics. Hier sollen die meisten Unternehmen im Schnitt nach zwei Wochen im Handelsregister eingetragen sein. „Tatsächlich war eine langwierige Eintragung ins Handelsregister sehr selten Thema bei den Gründern, die wir hier an der Universität betreuen“, sagt Sabine Remmert, die an der TU Darmstadt das Start-up Management im Innovations- und Gründungszentrum „Highest“ leitet. Hier gründete sich auch Etalytics aus. Im Ranking belegt Darmstadt jedoch nur Platz 94. Remmert erklärt sich das so: „Womöglich sind die Gründer die Bürokratie schon aus dem Hochschulumfeld selbst gewöhnt.“ Viele der Start-ups würden im Rahmen des staatlich geförderten EXIST-Gründerstipendiums gründen. Und bis dieser Antrag bewilligt werde, vergehe auch „sehr viel Zeit“, so Remmert.

Am meisten Zeit, so will es die Statistik, müssen Gründer derweil in Kassel in Nordhessen aufwenden. Ganze 102 Tage und damit mehr als ein Vierteljahr dauerte es laut Statistik im vergangenen Jahr, bis ein neugegründetes Start-up nach dem Notartermin im Handelsregister veröffentlicht wurde. Allerdings: Bei insgesamt nur vier untersuchten Start-ups ist die Datenbasis verschwindend gering – und wenig aussagekräftig. 

Der Imageschaden könnte dennoch groß sein, fürchtet etwa der Verband „Wirtschaftsjunioren Kassel“. In einem Facebook-Post äußerten die jungen Unternehmer unter 40 Jahren ihre Sorgen und erwähnten die örtliche Industrie- und Handelskammer (IHK) und den Kasseler Oberbürgermeister Christian Geselle im Posting: „Oh weia – wir haben in Kassel noch eine Menge zu tun…“ Schließlich wollen die Wirtschaftsjunioren Kassel und Umgebung mit ihrer Initiative Nordhessen 2025 zu „einer starken Gründerregion in der Mitte Deutschlands“ machen. „Dass Kassel in einer Studie, die sich dem Zustand der Bürokratie widmet, den letzten Platz belegt, ist unserem Ziel überhaupt nicht zuträglich“, erklärt Christoph Steinbach. Der 34-Jährige ist Mitglied der Wirtschaftsjunioren in Kassel und war bereits ihr Kreissprecher. Es sei auch völlig egal, aus welchen Gründen Kassel in der Studie so schlecht abschneidet. Sie werfe ein schlechtes Bild auf die Stadt.



Die IHK vor Ort, an die die Wirtschaftsjunioren angegliedert sind, war über das schlechte Abschneiden überrascht. Ebenso wie das Amtsgericht. „Durchschnittlich erfolgen Eintragungen innerhalb einer Woche ab Eintragungsreife. Weder allgemein noch bezogen auf Start-ups nehmen Neueintragungen am Amtsgericht Kassel bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen einen langen Zeitraum in Anspruch“, teilt der Sprecher Amtsgerichts, Philipp Kleinherne, auf Anfrage mit. Aus unterschiedlichen Gründen könnte es mitunter auch mal Wochen dauern, bis der Antrag nach einem Notartermin beim Gericht eingeht. Dann verlängert sich logischerweise der gesamte Prozess.

Auf nach Ulm?

Deutlich schneller läuft es laut Statistik in Ulm. Unter den zwanzig schnellsten Standorten wurden in der baden-württembergischen Stadt im vergangenen Jahr die meisten Start-ups eingetragen. Erklären kann sich das Amtsgericht den Erfolg auf Anfrage der WirtschaftsWoche zwar nicht. Doch er deckt sich zumindest mit den Erfahrungen von Michael Reichert von der IHK Ulm. Reichert und die IHK haben gemeinsam mit Start-ups die Initiative „Startup Region Ulm“ ins Leben gerufen. Eine Community, die Gründer mit etablierten Unternehmen, Hochschulen und Wirtschaftsförderungen vernetzt. Und ein in der Gründerszene so gerne zitiertes „Ökosystem“ schafft. Über die Szene in Ulm und Neu-Ulm berichtet sogar ein eigenes Start-up-Magazin: Rocket Ulm. Von der Vernetzung profitiert neben den Start-ups auch Reicherts Arbeitgeber: „Mit der IHK verbindet man sicherlich nicht sofort ein agiles, junges und innovatives Image. Wir haben es uns mittlerweile dank des Gründer-Engagements erarbeitet“, erzählt Initiator Reichert, der einst selbst ein Unternehmen gründete.

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Für Niklas Panten und seine Mitgründer von Etalytics hat sich die ärgerliche Verzögerung am Ende hingegen sogar noch gelohnt. Längst haben sie neue Investoren an Land gezogen, die ihr Unternehmen um ein Vielfaches höher bewerten als die ursprünglichen Interessenten. Frieden schließen sie mir der Bürokratie dennoch nicht. „Da wir es selbst erlebt haben, wünschen wir uns viel schlankere, digitale Prozesse – sowohl bei Notaren, Amtsgerichten als auch bei der Eröffnung von Geschäftskonten.“ Das Team fragt sich, „ob es noch zeitgemäß ist, dass diverse Angelegenheiten und Kleinigkeiten wie das Eintragen neuer Geschäftsführer über Notare mit Unterschrift vor Ort laufen müssen“. Viele Prozesse ließen sich standardisieren und selbst die Authentifizierung heute digital lösen. Und so könnte die Bürokratie selbst am Ende noch das Geschäftsfeld für ein verheißungsvolles Start-up werden. 

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