Berlin Ladehemmung in Deutschlands Start-up-Hauptstadt?

Start-up-Hauptstadt Berlin Quelle: imago images

In Berlin sind in den vergangenen Jahren etliche erfolgreiche Start-ups herangewachsen. Doch vor allem technische Innovationen entstehen zurzeit anderswo. Wo bleibt das nächste Zalando, das nächste Delivery Hero?

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Wer auf Start-up-Konferenzen in Berlin unterwegs ist, der spürt ihn noch: den Gründergeist der Hauptstadt. Wenn erfolgreiche Gründer der Stadt auf der Bühne vom Weg zum erfolgreichen Unternehmer und von ihren Produkten berichten, dann hören Hunderte junge und noch deutlich weniger erfolgreiche Gründer gebannt zu. Sie machen sich Notizen, stellen im Anschluss Fragen und nehmen womöglich Tipps für ihr eigenes Dasein als Entrepreneur mit. Auf der diesjährigen NOAH-Konferenz in Berlin zum Beispiel war das bei Auftritten von Niklas Oestberg oder Maximilian Tayenthal so – den Gründern der Berliner Erfolgs-Start-ups Delivery Hero und N26.

In den bayerischen Gemeinden Wessling und Wildpoldsried oder dem baden-württembergischen Bruchsal finden keine vergleichbaren Konferenzen statt – sie würden zugegebenermaßen etwas deplatziert wirken. Dabei sitzen hier deutsche Start-ups, die mit ihren Erfindungen in den nächsten Jahrzehnten das Leben vieler Menschen verändern könnten oder das bereits tun: Hier, mitten auf dem Land, arbeiten Lilium und Volocopter an autonomen Flugtaxis und die Sonnen GmbH an intelligenten Stromspeichern. Erst kürzlich hat das Energie-Unternehmen, das 2018 vom Ölkonzern Shell gekauft wurde, Tesla einen riesigen Auftrag in den USA weggeschnappt.

Und dennoch: Berlin gilt als Vorzeige-Ökosystem für Gründer, das gar europaweit seinesgleichen sucht und mit Städten wie London und Paris konkurriert. Doch wie zeitgemäß ist das noch? Denn wer sich in der Start-up-Hauptstadt herumtreibt, trifft beinahe ausschließlich auf Start-ups mit einem digitalen Geschäftsmodell – führend sind Unternehmen aus der IT, Fintechs oder der E-Commerce. Die Start-up-Dichte ist bundesweit am höchsten, keine Frage. Doch umso schwieriger ist es, aus der Masse hervorzustechen. Echte Erfindungen oder Innovationen, aus denen im Nachhinein ein Geschäftsmodell hervorgeht, sucht man in Berlin mitunter recht lange. Und doch wird die Stadt innerhalb der Szene hochgelobt – nicht nur auf den Gründer-Konferenzen. Wie passt das zusammen?

In Berlin wird an virtuellen Schuhen gearbeitet

Zu den Vertretern der in Berlin besonders präsenten Start-ups aus dem E-Commerce zählt auch Matthew Klimpke mit seinem Unternehmen Vyking.io, das er mitgegründet hat und nun als CEO leitet. In der Factory Berlin, einem Start-up-Campus samt Büros im Berliner Osten, zeigt der 31-jährige Brite stolz sein Produkt: Er richtet die Linse seiner Smartphone-Kamera auf seine Füße und prompt erscheinen auf dem Bildschirm schwarz-weiß-rote Nike-Sneaker an Klimpkes Füßen, die er im „echten Leben“ überhaupt nicht trägt. Neigt er seine Füße, so neigen sich auch die virtuellen Schuhe in seiner App „SneakerKit“ – Augmented Reality nennt sich die Technologie.

Zugegeben: Die Schuhe wirken noch etwas pixelig und bewegen sich nicht ganz im Einklang mit den Füßen von Klimpke. Doch so sollen sich Kunden von Onlineshops ganz genau anschauen können, wie die Wunsch-Schuhe in etwa sitzen und wie sie zum Rest des Outfits passen könnten – eine sinnvolle Erweiterung für die Onlineshops von Nike, Adidas und Gucci oder Plattformen wie Zalando oder Asos ist das auf jeden Fall. Ob es eine revolutionäre Geschäftsidee ist, die Shopping grundlegend verändert, das vermag man nicht zu sagen. Die Software will Klimpke den Herstellern und Shops verkaufen. Vyking.io soll das echte Anprobieren der Schuhe nicht ersetzen, sondern vielmehr das Shoppingerlebnis erweitern, verspricht das Unternehmen.

Klimpke hat seinen persönlichen Lebensmittelpunkt bereits nach Berlin verlagert. Vyking.io sitzt zurzeit in Berlin und London. Das Berliner Büro befindet sich in der Factory. Klimpke schätzt hier den Zugang zu Talenten in der Augmented Reality. Catherine Bischoff ist CRO der Factory Berlin, die sich klar von dem Prinzip des reinen Coworkings abgrenzt: „Co-Working-Spaces gibt es in Berlin mehr als genügend. Bei uns geht es allerdings viel mehr um das Netzwerk als um den Arbeitsplatz“, erklärt Bischoff. Das Angebot richte sich an Start-ups in einem sehr frühen Stadium. „Sie müssen Zugang zu Talenten, Investoren und Kunden haben, um überhaupt zu skalieren. All das fördern wir hier.“

Google, Audi und Deutsche Bank suchen nach Talenten

Sobald ein Start-up erfolgreich ist, verlässt es für gewöhnlich die Factory Berlin. „Dann brauchen sie mehr und mehr Platz“, sagt Bischoff, „um sich auf ihr Geschäft zu fokussieren“. Davor allerdings sollen sie in der Factory Berlin vor allem Kontakte zu großen Investoren knüpfen. Auf dem Campus haben sich namenhafte Unternehmen wie Audi, die Deutsche Bank, Schaeffler, Siemens oder Google eingenistet, um nach Talenten zu fischen oder Start-ups zu übernehmen. Genau wie die Gründer zahlen sie in einer Art Abo-Modell einen Beitrag dafür – so funktioniert das Geschäftsmodell der Factory Berlin. „Der Beitrag ist nach den finanziellen Möglichkeiten gestaffelt: Ein Student zahlt zum Beispiel 30 Euro im Monat, ein Gründer 119 Euro und Partner-Unternehmen zahlen mehr, da sie am meisten von dem riesigen Talent- und Ideen-Pool profitieren“, erklärt die Kanadierin Bischoff.

Auch wenn das ganz große Vorzeige-Start-up der Factory Berlin noch fehlt, ist zum Beispiel Google bereits seit 2012 Partner. „Google fühlt sich der Unterstützung des Unternehmertums weltweit verpflichtet und ist davon überzeugt, dass sich kleine Ideen mit der richtigen Unterstützung zu Unternehmen und Organisationen entwickeln können, die die Welt verändern“, sagt Mayra Frank, Leiterin des Google for Startups Teams in Deutschland, auf Anfrage. Das klingt, wie bei Google und anderen Internetkonzernen üblich, recht staatstragend.

Was Google an Berlin so reizt? „Berlin ist eine sehr kreative und zugleich global ausgerichtete Stadt. Seine Atmosphäre und Offenheit ziehen innovative Menschen aus der ganzen Welt an. Die gesamte Kultur der Stadt eignet sich hervorragend für Unternehmertum - Berlin lädt dazu ein, Neues auszuprobieren und zugleich global zu denken. Dies wird durch die relativ niedrigen Gründungskosten und andere günstige Rahmenbedingungen unterstützt“, erklärt Frank. Catherine Bischoff rechnet Berlin vor allem die Risikofreude und die Internationalität hoch an. „Hier kommt einfach viel zusammen“, sagt sie.

Aachen statt Berlin

Für die Start-up-Szene kann es nur hilfreich sein, wenn so ein gigantisches Unternehmen wie Google hier in Berlin mitwirkt. Doch mehr noch: „Dank renommierter Universitäten wie der RWTH Aachen, dem Karlsruhe Institute of Technology und der TU München wird Entrepreneurship immer bedeutsamer, auch außerhalb von Berlin“, sagt Catherine Bischoff von der Factory Berlin. „Übrigens trägt dazu auch ein populäres TV-Format wie die Höhle der Löwen bei.“

Eben diese drei Hochschulen in München, Karlsruhe und Aachen sind auch die Top 3 Gründerhochschulen im Deutschen Start-up Monitor. Aus der TU München ging zum Beispiel die Lilium GmbH hervor. Das Unternehmen arbeitet an Flugtaxis, die den Verkehr in der oft zitierten „Stadt der Zukunft“ revolutionieren sollen. Der chinesische Konzern Tencent und die Investment-Firma von Star-Investor Frank Thelen zählen zu den Investoren – bei Lilium kommen also Hochschule und „Höhle der Löwen“ zusammen. Außerdem hat das Team der TU München alle vier Rennen des Hyperloop-Wettbewerbs, den Tesla CEO Elon Musk veranstaltet, für sich entscheiden können.

Das Unternehmen e.GO Mobile AG wurde 2015 aus der RWTH Aachen ausgegründet und ist bekannt für die Entwicklung und Herstellung eines kompakten E-Autos in Serie und einem elektrischen und eines bald womöglich autonom fahrenden Kleinbusses. Mittlerweile beschäftigt Geschäftsführer und Professor Günther Schuh 400 Mitarbeiter in Aachen. Am Karlsruhe Institute of Technology (KIT) gründete sich zum Beispiel das Industrie-Start-up Artiminds, das eine Software zur intuitiven und simplen Programmierung von Robotern entwickelt, die etwa an Fertigungslinien in Fabriken zum Einsatz kommen.

Die Technische und die Freie Universität Berlin folgen in der Liste der Top-Gründerhochschulen erst auf den Plätzen 4 und 5 mit einem knappen Vorsprung zur Universität Mannheim und zur Handelshochschule Leipzig. Auch die Berliner Universitäten unterhalten Gründungsinitiativen, doch die Listen an Start-ups wirken gerade im Vergleich mit München und Aachen deutlich weniger prominent.

Was schätzen erfolgreiche Berliner Start-ups?

Dennoch loben hier herangewachsene Unternehmen die Stadt in den höchsten Tönen. Mit Zalando hat sich das Berliner Erfolgs-Start-up schlechthin erst im Sommer noch längerfristig an die deutsche Hauptstadt gebunden: Der Onlinehändler eröffnete Ende Juni sein neues Hauptquartier im Stadtbezirk Friedrichshain-Kreuzberg. „Berlin hat als Stadt unser Wachstum ermöglicht – Zalando wäre in der jetzigen Form nicht in jeder Stadt möglich gewesen. Seit Gründung war Berlin unsere Heimat und so soll es auch langfristig bleiben“, teilte das Unternehmen auf Anfrage mit.

Auch das Dasein des Kochboxen-Lieferanten Hello Fresh begann in Berlin. Johannes Willberg, Vice President People bei HelloFresh, schätzt vor allem die Internationalität der Stadt: „Berlin ist eine internationale, sehr vielseitige Stadt. Bei uns arbeiten mittlerweile Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus über 70 verschiedenen Ländern der Welt. Als international agierendes Unternehmen sind wir darauf sehr stolz.“ Die Heimat von HelloFresh sei Berlin und werde das „vorerst auch bleiben“, sagt Willberg.

Nicht ganz so berlinverbunden gibt sich das Start-up Infarm, das digital vernetzte Kräuterfarmen herstellt, in denen Pflanzen unter optimalen Bedingungen wachsen sollen: CFO Martin Weber teilte auf Anfrage zwar mit, dass der „erschwingliche Zugang zu internationalen Talenten, der Zugang zum großen deutschen Retail-Markt und eine Ernährungsbewusste Kundschaft“ zu den Gründen gehören, warum es für Infarm in Berlin losging. Allerdings: Infarm würde eventuell den Standort „aus steuerlichen Gründen“ verlegen – zum Beispiel in die USA oder nach Großbritannien.  

Ein ähnliches Bild zeichnet auch der „Berlin Start-up Monitor“, den der Bundesverband Deutsche Start-ups, Google und Forscher der Universität Duisburg-Essen erstellt haben. „Die Berliner Startups erhoffen sich durch die Politik insbesondere den Abbau von regulatorischen und bürokratischen Hürden (21,1 Prozent), Steuerreduktionen / Steuervergünstigungen (16,4 Prozent) sowie die Aufnahme von Entrepreneurship ins Bildungswesen (11,7 Prozent)“, heißt es dort. Betrachte man die Werte anderer Gründungsregionen, so zeige sich, dass Berliner Start-ups auffallend oft Steuerreduktionen von der Politik erwarten würden.

Doch Infarm dürfte in der Stadt eine echte Ausnahme sein. Bei den meisten Jungunternehmern überwiegt die beinahe uneingeschränkte Begeisterung für den Standort Berlin. Das gesamte Ökosystem dürfte gespannt sein, welche Idee hier zum nächsten großen Ding heranwächst. Wer weiß, vielleicht ist es ja die App rund um virtuelle Schuhe von Matthew Klimpke. Irgendetwas Digitales wird es wohl werden, solche Unternehmen gibt es in Berlin ja reichlich.


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