Derzeit blickt die ganze Welt nach Mainz. Dort schrieb ein kleines Biotech-Start-up Geschichte: Biontech präsentierte den allerersten Covid-19-Impfstoff der Welt. Bei der Gründung 2008 hatte das Mediziner-Ehepaar Özlem Türeci und Ugur Sahin das Augenmerk zunächst auf individualisierte Therapien für Krebspatienten gelegt. Mittlerweile ist das Biotechunternehmen an der Börse mehr wert als das Traditionsunternehmen Fresenius.
Stammte die Startfinanzierung, ein zweistelliger Millionenbetrag, noch von zwei deutschen Investoren, kam das große Geld zuletzt aus Singapur und den USA. Zu den Partnern des Unternehmens gehören internationale Pharmariesen. Wenig überraschend also ist das Unternehmen nicht an der Deutschen Börse, sondern an der Nasdaq gelistet.
Was sagt uns das über die deutsche Start-up-Szene? Von hier hört man derzeit trotz Krise keine großen Klagen. Die gute Stimmung mag auch daran liegen, dass die Bundesregierung schnell reagiert hat: Zwei Milliarden Euro an Coronahilfen speziell für Start-ups waren schon ab April abrufbereit. Und jetzt soll zusätzlich ein zehn Milliarden Euro schwerer Beteiligungsfonds für Zukunftstechnologien bis 2030 für wirtschaftlichen Welpenschutz sorgen.
Zu Recht: Denn die Wirtschaftslage verunsichert manche Investoren, und so versiegen kurzfristig notwendige Geldflüsse. Dabei erleben Mobile Working, Homeschooling und Onlineshopping gerade wegen der Einschränkungen einen massiven Auftrieb. Die Nachfrage nach Remote-Lösungen wächst. Corona ist ein Dämpfer für die Wirtschaft, aber ein Turbo für die Digitalisierung.
Das Virus könnte sich als Entwicklungshelfer der deutschen Ingenieurzunft entpuppen. Als Forschungsstandort agiert Deutschland im Spitzensegment. Nirgendwo sonst gibt es vergleichbar hoch qualifizierte interdisziplinäre Teams. Das deutsche Hochschulbudget von mehr als 50 Milliarden Euro ermöglicht Hochleistungsforschung. Allerdings mangelt es in Deutschland an Wagniskapital, um das wissenschaftliche Potenzial in ökonomische Rendite zu überführen.
Vor allem Deep-Tech-Firmen, die im Verborgenen an sehr komplexer Soft- und Hardware arbeiten und mit neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz, Fotonik oder Quantencomputern experimentieren, akquirieren lieber fernab der Heimat die notwendigen Geldmittel. Investitionen bis eine Million Euro kommen für deutsche Start-ups noch zu 86 Prozent aus dem Inland. Bei den Investments ab zehn Millionen Euro dreht sich das Verhältnis um; dann kommen 88 Prozent der Investoren aus dem Ausland. Das wäre unerheblich, fände nicht deren Geldfluss jenseits der deutschen Grenzen ein gemütlicheres Bett, etwa bei Abschreibungsmöglichkeiten für etwaige Verluste. Folge: Junge Techfirmen wandern ins Ausland ab. Der Coronaimpfstoff-Entwickler Curevac hat seinen Hauptsitz zwar in Tübingen, seinen rechtlichen Sitz aber in den Niederlanden.
Auch im wachsenden Markt digitalisierter Gesundheitsversorgung hinkt Deutschland hinterher. Während andere Länder mit großen Schritten zukunftsweisende E-Health-Systeme aufbauen, sind hierzulande elektronische Patientenakten, elektronische Terminbuchung beim Arzt oder gar Telemedizin absolute Zukunftsmusik. In Estland, Kanada, Dänemark, Israel oder Spanien gehört derlei bereits zum Alltag. Die „SmartHealthSystems“-Studie der Bertelsmann-Stiftung stellt die bittere Diagnose: Bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen von 17 Ländern liegt Deutschland auf dem vorletzten Platz. Es fehlt nicht nur an Investitionen, es fehlt auch an einer effektiven Strategie.
Den Maßstab setzt Israel. Hightechfirmen in Tel Aviv und Jerusalem sammeln Rekordsummen ein und bereiten den Weg für eine blühende Digitalwirtschaft. 1,2 Milliarden Dollar flossen allein im vergangenen September in Start-ups – mehr als je zuvor in einem einzigen Monat. Das Kalkül: Digitale Technik kann die stark steigenden Kosten im Gesundheitswesen langfristig wieder senken. In Deutschland wird das Sparpotenzial durch Dezentralisierung, frühe Diagnosen und individuelle Behandlungsmethoden auf bis zu 34 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt. Solche Zahlen sollten Investoren hellhörig machen!
Auf dem Weg von der Gründung in der Garage bis zum Aufstieg in den Dax-Olymp könnten Venture-Capital-Firmen (VC) und Banken gemeinsam großen Wert schaffen, indem sie unterschiedliche Entwicklungsphasen unterstützen. Wenn „Friends, Fools & Family“ im Early Stage die Gründung ermöglicht haben, können VC-Firmen mit systematischem Risikomanagement die Start-ups durch die Middle-Stage-Phase begleiten, bis dann im Later-Stage-Segment die Banken als internationale Türöffner zu Fördermitteln, Fremdkapital oder zu großen Investoren übernehmen. Dass sich bei entsprechender Betreuung sogar in „Digital-Neuland“-Deutschland erfolgreiche Hightechunternehmen aufbauen lassen, zeigen Zalando, FlixBus und besonders deutlich Delivery Hero, dessen Börsengang 2017 der größte in Deutschland war.
Deswegen: Deutsche Start-ups haben großes Potenzial. Die Welt braucht innovative Lösungen. Und die deutsche Wirtschaft könnte davon profitieren – trotz oder wegen Corona.
Mehr zum Thema: Die neuen Gründer sind Deutschlands letzte Chance. Sie sichern mit avancierten Technologien die Industriejobs von morgen. Jetzt müssen nur noch Politik und Geldgeber mitspielen – sonst droht ihre Abwanderung.