Wenn Gründer Investoren für sich gewinnen wollen, dann brauchen sie eine gute Geschichte. So wie einst Ebay-Gründer Pierre Omidyar. Der, so will es die Legende, baute den digitalen Flohmarkt für seine Freundin. Über Nacht wurde er damit zu einem der ersten Internet-Milliardäre. Es ist eine einprägsame Geschichte über etwas Außergewöhnliches, das nur Liebende leisten können. Der Haken daran: Sie stimmt nicht. Und: Die wahre Geschichte ist sogar noch besser.
Im Silicon Valley, dem Tal der Milliarden und der Märchenerzähler, gibt es viele solcher Storys. Sechs Beispiele, die Internet-Geschichte schrieben und schreiben:
Netscape
Die Story: Ein plattformübergreifender und leicht bedienbarer Browser, um das Internet für alle zu erschließen.
Was wirklich geschah: Ein gescheiterter Plan führt zu einer Idee, die das Internet im Sturm erobert.

Ein erfahrener US-Unternehmer namens Jim Clark trifft Anfang der Neunzigerjahre einen 27 Jahre jüngeren Informatiker namens Marc Andreessen. Dessen Talente als Programmierer imponieren ihm. Clark hatte mit SGI bereits einen der führenden Grafikcomputer-Hersteller aus der Taufe gehoben. Nun wollen beide ein Online-Spielnetzwerk für die Nintendo 64 schaffen. Die Präsentation für Investoren ist fertig.
Doch die ursprünglich für 1995 angekündigte Auslieferung der Konsole verzögert sich. Andreessen hat zuvor an der Uni an einem universellen Internet-Browser namens Mosaic gearbeitet. Das Duo macht daraus den Mosaic Netscape Browser, offeriert ihn gratis und erobert so im Herbst 1994 binnen weniger Monate das Internet. Die Nintendo-64-Konsole kommt erst im Sommer 1996 in den Markt, weltweit ist sie erst im Frühjahr 1997 verfügbar. Da ist Netscape bereits weltweit bekannt. Der Börsengang von Netscape läutet die Dot.com-Revolution ein. Doch der Pionier wird Opfer des Browser-Krieges mit Microsoft und 1999 in einem Zehn-Milliarden-Dollar-Deal von AOL übernommen.
Amazon
Die Story: Waren lassen sich besser über das Internet verkaufen, besonders Bücher.
Was wirklich geschah: Ein Finanzanalyst kündigt seinen Wall-Street-Job, geht in der Internet-Blase fast pleite, entdeckt eine Goldgrube und wird zum Internet-Titan.

Jeff Bezos analysiert im Auftrag seines Arbeitgebers Geschäftschancen im noch jungen Internet. Er kommt zum Schluss, dass das World Wide Web zum Massenmedium werden und den Handel umkrempeln wird. Er kündigt seinen gut bezahlten Job bei einem Hedgefonds, zieht mit seiner Frau von New York nach Seattle und zieht dort im Juli 1994 aus einer Garage heraus einen Online-Buchhandel hoch. Der Gründungsname „Cadabra“ soll Magie verströmen. Doch bei Telefonkonferenzen mit Investoren verstehen einige „Kadaver“. Bezos ändert ihn in Amazon, auch weil der Name vorn im Alphabet steht. Nach dem Platzen der Internet-Blase geht ihm fast das Geld aus. Er wird als Trickser von ehemaligen Kollegen verleumdet. Um seine Rechenzentren besser auszulasten, nutzt er sie nicht nur selbst, sondern bietet sie auch anderen an. Mit dem Vermieten von Speicherplatz und Rechenpower erschließt er eine Goldader. Die sprudelnden Gewinne subventionieren den Warenversand. Konkurrenten wie Walmart reagieren spät. Sie haben auch keine magische Geldquelle wie Amazon. Das macht das Unternehmen schließlich nicht nur zur Cloud-Computing-Größe, sondern auch zum Online-Handelsgiganten – und Bezos zum derzeit reichsten Mann der Welt.
Ebay
Die Story: Ein Silicon-Valley-Programmierer baut den größten Flohmarkt der Erde als Liebesbeweis.
Was wirklich geschah: Ein kaputter Laserpointer findet dank Internet einen dankbaren Käufer. Sein Vertrauensbeweis fördert den Aufbau einer Internet-Ikone.

Der Entwickler Pierre Omidyar startet am 4. September 1995 eine Webseite namens Auction Web, auf der jedermann Gegenstände via Internet versteigern und sich schließlich Käufer und Verkäufer gegenseitig bewerten können. Seine damalige Verlobte sammelt Pez-Süßigkeitenspender. Ihr Liebster will ihr so den größten Flohmarkt der Welt öffnen. Aus dem Liebesbeweis entsteht Ebay. So wird es zumindest der Öffentlichkeit verkauft. Doch die tolle Story hat ein findiger Marketingexperte ersonnen, wie das Unternehmen später eingesteht. Dabei ist die eigentliche Story, dass der erste verkaufte Gegenstand ausgerechnet Omidyars kaputter Laserpointer ist, der immerhin knapp 15 Dollar erzielt, viel besser. Der Verkauf überrascht den Gründer – und spornt ihn an.
Die Flunkerei hindert Ebay nicht daran, zur Weltmarke aufzusteigen. Später unterliegt das Unternehmen im Gerangel mit Amazon im Online-Handel aber, weil es sich weigert, gegen die eigenen Händler zu konkurrieren. An der Börse ist Ebay heute 29 Milliarden Dollar wert, ein Bruchteil von Amazon.