Legal Tech Werden Anwälte obsolet?

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Nur wenige Kunden kennen ihre Rechte

Einer der europäischen Pioniere der Szene ist Philipp Kadelbach, der bereits vor sieben Jahren das Start-up Flightright gründete. Mehr als 35 000 Klagen hat der 43-Jährige seither von Potsdam aus gegen Fluglinien geführt. Denn Passagieren, deren Flüge verspätet waren oder die gar annulliert wurden, stehen laut Fluggastrechteverordnung der EU bis zu 600 Euro zu. Europaweit summieren sich die Ansprüche jährlich auf etwa fünf Milliarden Euro, von denen jedoch nur etwa 15 Prozent ausgezahlt werden. Der Grund: Viele Fluggäste kennen ihre Rechte nicht, oder sie wissen nicht, wie sie die Zahlung einfordern sollen. Und den Gang zum Anwalt scheuen sie aus Kostengründen.

Flighright treibt Ansprüche ein und behält dafür im Erfolgsfall ein Viertel der erstrittenen Summe. Im Januar öffnete Kadelbach für seine inzwischen 100 Mitarbeiter in Deutschland eine Zwölf-Liter-Flasche Moët & Chandon: Flightright hatte bei den erkämpften Entschädigungszahlungen die magische Grenze von 100 Millionen Euro geknackt. Das Start-up ist bereits profitabel.

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Das hat Konkurrenten wie Refund.me, EUClaim oder Flug-Erstattung.de mit ähnlichen Angeboten auf den Plan gerufen – und Wettbewerber mit neuen Geschäftsmodellen: Compensation2go oder Wirkaufendeinenflug.de locken mit einer sofortigen Entschädigung. Statt mehrere Wochen warten zu müssen, erhalten geschädigte Passagiere das Geld innerhalb von 48 Stunden. Dafür behalten die Onlineanbieter aber auch die Hälfte der Entschädigungssumme.

Kadelbach, der Antreiber, ist selbst zum Getriebenen geworden. Auch er bastelt deshalb bereits an neuen Angeboten. „Unsere Technologie bietet die perfekte Grundlage, um in andere Rechtsfelder zu gehen“, sagt er. In welchen Streitfällen die Potsdamer noch helfen wollen, verrät er noch nicht.

Anbieter wie Helpcheck aus Düsseldorf beweisen, dass sich die Grundidee auf viele Rechtsgebiete übertragen lässt. „Flightright war natürlich ein Vorbild für uns“, sagt Gründer Schulz. Auch die Truppe von MyRight baut auf den Erfahrungsschatz aus dem Kampf um Fluggastrechte auf, schließlich hat MyRight-Chef Sven Bode einst Flightright mit gegründet. Nun will er Entschädigungen für deutsche VW-Kunden erstreiten und nutzt dabei dieselbe technische Grundlage – und den gleichen psychologischen Trick: Mit einem kostenlosen Dienst und Erfolgsprovision nimmt er Menschen die Angst vor einem teuren Anwalt.

Algorithmus verdrängt Anwalt

„Die Technologie ermöglicht einen neuen Zugang zum Recht“, sagt Markus Hartung, der sich an der Bucerius Law School mit den Veränderungen der Juristerei beschäftigt. Überall dort, wo Ansprüche standardisierbar seien, werde die Technologie die Arbeit von Anwälten verändern. „Was früher ein Anwalt formuliert hätte, kann inzwischen ein Algorithmus aus Textbausteinen zusammenfügen“, sagt Hartung.

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Bei den Anbietern im Netz ist ein großer Teil der Abläufe bereits automatisiert: vom Erfassen der Mandantendaten bis zum Verfassen der Schriftstücke an die Verfahrensgegner. Das senkt die Kosten. „Ohne Technologie würde unser Geschäft nicht funktionieren“, sagt Flightright-Chef Kadelbach.

Dass Start-ups das Geschäft der Anwälte erst jetzt angreifen, liegt vor allem daran, dass die Juristerei, anders als die Welt der Unterhaltung oder der Handel, streng reguliert ist. Wie so oft, wenn neue Technologien die Welt durcheinanderbringen, sind die USA bereits weiter: Die US-Großkanzlei Dentons hat vor zwei Jahren im Silicon Valley den Inkubator Nextlaw Labs eröffnet, um in Jura-Start-ups zu investieren, Google hat sich bereits vor sechs Jahren an der Plattform Rocket Lawyer beteiligt.

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