Lehren aus Dotcom- und Finanzkrise Europas Start-up-Szene wird diesmal keinen Meltdown erleben

Investitions-Stau im Startup- und Venture-Capital-Ökosystem. Quelle: Fotolia

Jahrelang haben sich Investoren um die vielversprechendsten Start-ups gerissen, nun investieren viele Risikokapitalgeber deutlich weniger und einige gar nicht mehr. Welche Auswirkungen hat das auf europäische Start-ups?

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Sie kennen das: Im stillstehenden Auto sitzend auf der Autobahn, nichts geht voran – es ist Stau. Eine ähnliche Situation erleben wir im Moment auch im Start-up- und VC-Ökosystem. Noch ist nicht alles zum Stillstand gekommen, es geht jedoch nur noch im Schritttempo vorwärts. Einschneidende wirtschaftliche Ereignisse wie Inflation, ungünstigere Zinspolitik oder geopolitische Herausforderungen haben einen Stimmungsumschwung bei Investoren verursacht. Zunächst an den öffentlichen Kapitalmärkten – und von diesen ausgehend dann auch auf den vorgelagerten privaten Venture Capital-Märkten.

Die Zurückhaltung der Investoren führt zu niedrigeren Bewertungen, die zwar bessere Investitionschancen zur Folge haben, jedoch erstmal auch eine schlechtere Performance der Venture Fonds. Das erschwert deren Fundraising und verknappt das Kapitalangebot weiter. In der Folge konzentrieren sich Risikokapitalgeber mit ihrem knappen Kapital zunehmend auf das eigene Portfolio. Es kommt zum Stau.

Stau auf der Investment-Autobahn: Von der Geldschwemme zur Finanzierungsdürre

Vor nicht allzu langer Zeit, im September 2021, hat Kağan Sümer mit Gorillas in einer Series C knapp eine Milliarde US-Dollar aufgenommen. Für viele Delivery-Unternehmen regnete es förmlich Investitionsgelder. Auch für SaaS- und Logistikunternehmen sowie Fintechs war die Zeit höchster Bewertungen gekommen. Häufig mussten Investoren um die vielversprechendsten Gründer-Teams kämpfen. So war es vor der Finanzierungsdürre.

Nun sieht die Lage anders aus: Investoren halten sich zurück; Start-ups müssen auf einmal mit weniger Kapital über einen längeren Zeitraum zurechtkommen. Plötzlich zählt nicht mehr allein das Mengenwachstum, sondern eine möglichst zeitnahe und glaubwürdige Profitabilitätsperspektive, solange die jungen Unternehmen noch keine Gewinne einfahren. Um das zu erreichen, müssen sie Kosten sparen sowie krisenfeste Strukturen und Geschäftsmodelle schaffen. Geld bekommen sie dafür zumeist nur noch von ihren bestehenden Geldgebern.

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Ohne einen neuen Geldgeber finden neue Finanzierungsrunden mit den Bestandsinvestoren meist zu den Bedingungen der Vorrunde statt (als sogenannte „Flat-Round“) oder gar darunter (als sogenannte „Down-Round“). Bei der Gelegenheit werden vorangegangene Runden in aller Regel gleich nachträglich mit abgewertet (sogenannte „Anti-Dilution Protection“), sodass bestehende Geschäftsanteile weiter an Wert einbüßen. Die Situation kann für die Unternehmen sogar noch herausfordernder werden, wenn einzelne Fonds das Investieren ganz einstellen. Auch Start-ups, die grundsätzlich auf einem sehr guten Weg waren, jedoch auf baldige Folgefinanzierungen angewiesen sind, können so ins Wanken geraten.

Geplatzte Finanzierungen, Entlassungen, Insolvenzen – nach Jahren des Überschwangs erlebt die deutsche Start-up- und Digitalszene einen ernsthaften Stresstest. Das muss keine schlechte Nachricht sein.
von Varinia Bernau, Stephan Knieps, Artur Lebedew, Theresa Rauffmann

Gleichzeitig sind diese Krisenzeiten für alle auch eine große Chance. Einerseits für Start-ups, da sie sich einem Stresstest unterziehen: Stellen sie sich rechtzeitig neu auf und optimieren ihre Kostenseite, gehen sie resilienter aus der Krise hervor, während sich das Wettbewerbsumfeld spürbar ausdünnt. Auf diese Weise reifen sie weiter heran und bauen kontinuierlich inneren Wert auf – selbst wenn ihre externe Bewertung zwischenzeitlich gesunken sein sollte. Andererseits ergeben sich in solchen Abschwungphasen neue Investitionsmöglichkeiten für Investoren, die zu günstigeren Bewertungen vielversprechende Beteiligungen eingehen können.

Ein Licht am Ende der Tunnels: Auch dieser Stau löst sich auf

Genau aus diesem Stoff sind die Heldengeschichten dieser Auf- und Abschwünge im Start-up-Ökosystem. Eben jene VC-Firmen, die den Mut aufbringen, auch in der Krise weiter zu investieren, sind es, die die Anspannung der Akteure am Ende wieder lösen. Sie feiern gerade mit den in der Krise günstig erworbenen Beteiligungen große Erfolge, wenn das Licht am Ende des Kapitalmarkt-Tunnels auftaucht. Klassischerweise verhält es sich dann so: Die ersten Venture-Wagen auf der Investitionsautobahn kommen erkennbar in Fahrt und lassen die Stimmung an den Kapitalmärkten schrittweise zurück ins Positive drehen. Langsam fassen auch die übrigen Investoren wieder Vertrauen und das Ökosystem kommt erneut in Schwung.

Aus der Erfahrung der letzten Jahre wissen wir, dass die zyklischen Abschwungphasen vom ersten Bremspunkt bis zum Wiederaufschwung zwei bis drei Jahre dauern. So war es bei der Dotcom-Krise 2000 und bei der Finanzkrise 2008 – und so wird es auch diesmal wieder sein. Aufschwungphasen haben hingegen eine eher variable Dauer. Sie hängt vom Zeitpunkt des Auftretens einschneidender Ereignisse ab, die zu dem eingangs beschriebenen Stimmungsumschwung an den Märkten führen.

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Europas Start-up-Szene wird diesmal keinen Meltdown erleben wie zur Jahrtausendwende. Unser System aus Startups und Risikokapitalgebern ist zwischenzeitlich insgesamt so groß und stabil, dass es zu keinem Zusammenbruch der Innovationslandschaft kommen wird. Spreu und Weizen werden sich aber auch diesmal trennen: Nicht alle werden den aktuellen Abschwung überstehen, doch am Ende des Staus wird ein gestärktes Ökosystem stehen – stabiler und resilienter als zuvor. Daher heißt es nun: nicht wegducken, sondern mutig den Blick nach vorne richten und sich auf zu neuen Ufern machen – mit den Lehren aus dem letzten Stau im Gepäck.

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