Marley-Spoon-Gründer im Interview „Wenn Hellofresh den Aldi des Marktes baut, bauen wir eben den Lidl“

Jede Zutat genau portioniert: Anfangs- und Endstadium einer Marley-Spoon-Kochbox. Quelle: Presse

Der Kochbox-Versender Marley Spoon verdoppelte 2020 seinen Umsatz. Firmengründer Fabian Siegel über Corona-Effekte, Australiens Börse und was er besser macht als der große Wettbewerber und Börsenliebling Hellofresh.

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Marley Spoon wurde 2014 in Berlin von den gebürtigen Rheinländern Fabian Siegel und Till Neatby gegründet. Fabian Siegel war davor unter anderem Co-Chef von Delivery Hero (bis Januar 2013) und arbeitete beim Investor Global Founders Capital. Marley Spoon verschickt sogenannte Kochboxen mit Rezepten und abgepackten Zutaten an seine Abonnenten. Eine Marley-Spoon-Box für zwei Personen mit drei Gerichten kostet 42,90 Euro; eine Box der günstigeren Zweitmarke „Dinnerly“ kostet 31,33 Euro. Heute beschäftigt das Start-up rund 3.000 Mitarbeiter, davon rund 200 in der Zentrale in Berlin. Der Rest verteilt sich auf sieben Produktionsstandorte in den USA (3), Australien (3) und den Niederlanden.

Das Unternehmen agiert in den Märkten USA, Australien und Europa (Österreich, Belgien, Deutschland, Dänemark, Schweden und Niederlande.) Im Juli 2018 erfolgte der Börsengang in Australien. Heute hält Fabian Siegel rund neun Prozent der Anteile. Im Jahr 2020 erwirtschaftete Marley Spoon 254 Millionen Euro – eine Steigerung um 96 Prozent gegenüber 2019.

Herr Siegel, im Vergleich zu 2019 haben Sie Ihren Umsatz im vergangenen Jahr nahezu verdoppelt. Wie sehr ist dieses Wachstum ein einmaliger Corona-Effekt?
Unser Geschäftsmodell war schon vor Corona für viele sinnvoll: Wir machen es Menschen und Familien einfach, selbst zu kochen. Anders als im Supermarkt, wo man doch immer wieder dieselben zwei, drei Sachen kauft, Steak und grüne Bohnen oder Brokkoli, zumindest geht es mir so. Zudem werden im Supermarkt bis zu 30 Prozent der frischen Waren regelmäßig weggeschmissen, weil die Märkte ja nicht wissen, was die Kunden wollen; das ist totaler Wahnsinn. Wir kaufen nur das ein, was wirklich benötigt wird, und verschwenden weniger als 1 Prozent. Diese Vorteile haben also nichts mit Corona zu tun. Aber: Die Coronakrise hat dieses Umschalten von offline zu online beschleunigt. Viele Menschen, die noch nie Lebensmittel online gekauft haben, haben es im ersten Lockdown mal ausprobiert. Aber dieses Wachstum hört ja jetzt nicht einfach auf oder geht gar wieder zurück.

Fabian Siegel Quelle: Presse

In Ihrem Jahresbericht schreiben Sie, Ihr Geschäft stand zuletzt vor „operativen Herausforderungen in Zusammenhang mit Covid-19“ – aber ist nicht Ihr Geschäftsmodell gerade einer der Gewinner der Pandemie-Begleitumstände?
Wir hatten zwar durch Corona eine große Nachfrage – aber die muss man erst mal befriedigen. Durch Corona sind vielerorts die Restaurant-Lieferketten zusammengebrochen, manche Supermarktregale waren leer. Es gab Versorgungsengpässe bei bestimmten Produkten. So war etwa eine Zeitlang kein Knoblauch aus China zu haben, oder Hackfleisch in den USA. Das führte vor allem im ersten Halbjahr 2020 zu Preiserhöhungen sowie zu Verzögerungen und Überstunden in unseren Produktionsprozessen.

Inwiefern?
In unseren vier Testküchen in Berlin, Amsterdam, New York und Sidney kochen wir normalerweise jede Woche neue Menüs nach neuen Rezepten. Im Lockdown ging das zeitweise nicht. Im ersten halben Jahr haben wir deshalb verstärkt schon bestehende Rezepte wiederverwendet. Wir hatten gewisse Substitutionseffekte, wenn bestimmte Zutaten nicht lieferbar waren, mussten wir improvisieren. Eine weitere Schwierigkeit: Wir mussten schnell sehr viele neue Mitarbeiter einstellen und gleichzeitig an unseren Produktionsstandorten hohe Sicherheitsstandards einhalten. Zum Teil hatten wir 20 oder 30 Prozent einer gesamten Belegschaft in Quarantäne, weil es einen Verdachtsfall in einer Familie gegeben hatte. Hinzu kamen die Engpässe bei Auslieferung und Zustellung, weil ja auch alle anderen E-Commerce-Unternehmen erhöhte Nachfragen verzeichneten.

Die Zahl der aktiven Marley-Spoon-Abonnenten ist vor allem vom ersten aufs zweite Quartal 2020 enorm angestiegen, von 142.000 auf 206.000. Danach flachte das Wachstum stark ab. Wieso?
Das Wachstum im ersten Corona-Quartal ist sicherlich historisch. Die Bereitschaft, nicht nur Mode und Spielzeug online zu kaufen, sondern auch mal Kartoffeln und Lauchzwiebeln, ist deutlich angestiegen. Aber es wollten damals wohl mehr Kunden als sonst unser Angebot mal testen. Normalerweise kalkulieren wir so: Von 100 Kunden, die neu an Bord kommen, wollen es 50 nur einmal ausprobieren und bleiben dann wieder weg, weil sie feststellen, dass sie doch nicht regelmäßig kochen. Die anderen bauen vielleicht diese Koch-Routine auf, von denen behalten wir dann einen Teil längerfristig. Im ersten Lockdown registrierten wir einen Riesenansturm an Testkunden, das war wohl einmalig.

Welche Gerichte waren während des Lockdowns besonders gefragt?
In Europa war es das Hähnchenschnitzel mit Mandeln, Kartoffeln und Gurkensalat. In Australien: Teriyaki-Sesam-Schweinefleisch mit Gemüsegurken, Reis und Brokkoli. Und in den USA gebratenes Huhn mit Brokkoli und Cheddar-Reis-Auflauf. Das beliebteste Gericht unserer Zweitmarke Dinnerly war in Europa übrigens vegetarisch: Gnocchi mit Zucchini und Tomaten.

Das zweite Quartal 2020 war das mit dem höchsten Umsatz vergangenes Jahr, getrieben vor allem durch einen „Uplift durch verändertes Verhalten“, wie Sie schreiben. Was genau bedeutet das?
92 Prozent unseres Umsatzes machen wir mit Bestandskunden, unseren Abonnenten, von denen leben wir. Normalerweise ist deren Verhalten gleichförmig. Im Schnitt bestellt unser Abonnent drei Portionen pro Woche. Und im Schnitt setzt der Kunde auch eine Woche pro Monat aus, wegen einer Dienstreise oder Restaurantbesuch oder etwas Ähnlichem. Das hat sich im Lockdown verändert: Da haben unsere Kunden plötzlich vier Portionen pro Woche bestellt – und Dienstreisen gab es auch kaum. Also hatten wir viel mehr Neukunden – und die Bestandskunden wollten auf einmal auch mehr haben. Das hat sich im dritten und vierten Quartal normalisiert.

„Hellofresh hat uns das nachgemacht“

Trotz dieses enormen Wachstums: Ihr größerer und bekannterer Wettbewerber Hellofresh ist mit 1,8 Milliarden Euro Umsatz (2019) ungefähr siebenmal so groß. Dieser Vorsprung liegt doch nicht nur daran, dass Hellofresh drei Jahre vor Marley Spoon gegründet wurde, oder?
Hellofresh ist drei Jahre früher gestartet und hat wesentlich mehr Kapital aufgenommen als wir, dadurch konnten sie länger und schneller wachsen. Aktuell wachsen wir jedoch etwas schneller. Aber sie sind die einzige andere Firma, die dieses Geschäftsmodell global betreibt; in den USA gibt es noch zwei weitere, lokale Wettbewerber. Der Lebensmittelbereich ist ein Riesenmarkt, und in diesem Kontext sind wir beide noch klein. Unsere Ambition ist nicht, der Größte zu sein, sondern der Beste. Wir sehen uns im gesunden Wettbewerbsverhältnis, man hält sich gegenseitig auf Trab. Wenn Hellofresh den Aldi des Marktes baut, bauen wir eben den Lidl, das ist auch nicht schlecht.

Wie wollen Sie sich abheben von Hellofresh, wie dem Konkurrenten Marktanteile abnehmen?
Als wir 2014 gestartet sind, gab es nur Hellofresh, und damals haben die entschieden, was die Kunden kochen. Wir haben gesagt: Das ist der falsche Ansatz. Vielmehr sollte der Kunde das selbst entscheiden. Dann haben wir diesen Gedanken, ich kann mir aussuchen, was ich koche, in den Markt getragen. Hellofresh hat uns das nachgemacht. Dann haben wir im Herbst 2017 in den USA unsere günstigere Zweitmarke Dinnerly auf den Markt gebracht. Denn der Durchschnittsamerikaner kocht für fünf US-Dollar pro Portion, den erreichen wir mit Marley Spoon gar nicht. Wir haben festgestellt: Viele können sich unsere Boxen auch nicht leisten. Inzwischen gibt es Dinnerly auch in Australien, Deutschland und seit Februar in den Niederlanden. Hellofresh hat auch das nachgemacht mit ihrer günstigeren Marke „Every plate“.

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Sie sehen sich also schon vorne?
Der Platz ist für beide Firmen da. Hellofresh und Marley Spoon nehmen sich gegenseitig kaum Kunden weg. Wir sehen den Supermarkt als Hauptwettbewerber: Unser Wachstum kommt hauptsächlich von klassischen Supermarkt-Kunden, die zu uns wechseln. Es ist daher nicht unser Fokus, Hellofresh Marktanteile abzunehmen.

Wie viel steuert Ihre Günstig-Marke Dinnerly mittlerweile zum Gesamtumsatz bei?
Genaue Zahlen dazu veröffentlichen wir nicht. Aber Dinnerly und Marley Spoon sind beide signifikant. Langfristig ist der Dinnerly-Markt sogar der größere.

Was hat es mit Marley Spoons Geschmacksprofil-Algorithmus und Nachfrageprognose-Modellen auf sich?
Der Kunde hat jede Woche 30 Rezepte zur Auswahl. Wenn ein Kunde sechs unserer Boxen bestellt hat, können wir mit einer Wahrscheinlichkeit von 94 Prozent die Auswahl der siebten Box vorhersagen. Für jeden Kunden und jedes Rezept können wir einen Beliebtheits-Score berechnen, auf einer Skala von 0 – mag der Kunde überhaupt nicht – bis 100 – mag der Kunde sehr gerne. Je häufiger jemand Marley Spoon benutzt, desto besser schmeckt es ihm also, hoffentlich. Das ist ähnlich wie bei Spotify: Je länger ich bei denen Musik höre, umso besser wissen die, was ich mag. Also bleibe ich bei Spotify.

Wieso sind Sie eigentlich in Australien an der Börse – und nicht in Ihrem Heimatmarkt Deutschland?
Australien ist vor allem unter europäischen Gründern als attraktiver E-Commerce-Markt bekannt: Die Städte haben eine hohe Kaufkraft, sind innovationsfreudig, und von den USA wird Australien meist als zu weit weg abgeschrieben. Bei unserer Australien-Expansion hatten wir auch das Glück, dass Klaus Hommels von unserem Investor Lakestar einen guten Kontakt in Australien hatte. Dieser Kontakt ist nun seit bald sechs Jahren unser Australien-CEO. Und als wir 2018 an die Börse gehen wollten, hatte unsere Firma noch nicht die Größe für die Frankfurter Börse. Aber für die australische Börse war ein 46-Millionen-Euro-IPO groß genug.

Inzwischen machen Sie 254 Millionen Euro Umsatz…
Mittlerweile sind wir wohl groß genug für Börse Frankfurt. Ich will eine dortige Notierung auch nicht ausschließen, aber es pressiert nicht.

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Was bedeutet eigentlich der Name Marley Spoon?
Mein Mitgründer Till und ich waren in den 90er Jahren mal auf Rucksackreise, unter anderem in Indonesien. Als wir auf einer kleinen Insel namens Pulau Weh waren, nördlich von Sumatra, brach ein heftiger Sturm los. Wir retteten uns in eine kleine Hütte. Dort empfing uns ein sehr netter Indonesier und gab uns zu Essen und zu Trinken. Und diese Hütte hieß „Marleys“. An diese Behaglichkeit und Gastfreundschaft haben wir uns erinnert, als wir 2014 unser Unternehmen gegründet haben.

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