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Per App zum Nichtraucher Wo die Nikotinsucht endet, beginnt das Geschäft

Das ist jetzt aber wirklich die letzte: Fast jeder Raucher versucht sich regelmäßig daran, von der Sucht loszukommen. Doch das ist nicht einfach. Foto: dpa Quelle: dpa

Es ist der Neujahrsvorsatz schlechthin: Endlich mit dem Rauchen aufhören! Immer mehr Onlinedienste bieten Unterstützung bei der Rauchentwöhnung an. Digitale Suchthilfe wird zum Geschäftsmodell. Aber was taugen die Apps?

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Training ist alles. So liest sich sinngemäß die Kursbeschreibung auf der Internetseite von Nichtraucherhelden. Nur dass es bei diesem Wettkampf nicht um die beste Zeit, sondern um die längste Ausdauer geht. Denn das Start-up aus Stuttgart coacht Raucher, die für immer von Zigaretten loskommen wollen. Zentrales Tool: Ein Videokurs. Noch vor Therapiebeginn sollen die Raucher sich die ersten acht Folgen ansehen, in denen sie Wissen über Nikotin und Tabaksucht erwerben, aber auch Tipps für den Rauchstopp bekommen. „Mit unserem Coaching-Ansatz sind wir noch ziemlich einzigartig am Markt“, sagt Geschäftsführer und Softwareentwickler Andy Bosch, unter dessen 12 Mitarbeitern acht Mediziner, Sport- oder Ernährungswissenschaftler sind.

Das Team setzt auf ein Konzept, das nachhaltigen Erfolg versprechen soll. „Das Erfolgsgeheimnis liegt in der Vorbereitung“, sagt Bosch. „Wir leiten dabei an, das eigene Verhalten genau zu analysieren und schon vor dem eigentlichen Rauchstopp alternative Strategien zu üben.“ An der Seitenlinie steht Lungenfacharzt Alexander Rupp, der per Chat neue Impulse gibt – oder anfeuert, wenn die Energie nachlässt.

Denn Hürden auf dem Weg sind gewiss, wie die recht pessimistischen Prognosen zeigen: Weniger oder gar nicht mehr zu rauchen wünscht sich jeder zwölfte Befragte in einer repräsentativen Studie der Marktforscher Yougov in Deutschland. Gerade einmal drei bis fünf Prozent aller Raucher, die es spontan und auf eigene Faust versuchen, halten dem Start-up zufolge längerfristig ohne Zigaretten durch. Von 30 bis 40 Prozent Erfolgsquote sprechen Experten bei professionell begleiteten Kursen. Nichtraucherhelden gibt sich zuversichtlicher. Gut die Hälfte der bislang 3000 Kursteilnehmer habe den Absprung geschafft und sei auch nach einem Jahr noch rauchfrei, sagt der Gründer.

Viele Ansätze, große Unterschiede

Damit verbreitet Nichtraucherhelden große Hoffnungen. Genau wie andere junge Digitalangebote wie Quit Genius oder Quit Now, die an die guten Vorsätze für 2021 appellieren. Doch halten die digitalen Coaches, was sie versprechen? Zumindest könnten junge Digitalfirmen die Erfolgschancen deutlich erhöhen, sagt Suchtforscher Anil Batra: „Online-Programme und -Module sind wichtig, weil sie vielen Menschen einen niedrigschwelligen Start ermöglichen“, so der Leiter der Abteilung für Suchtmedizin an der Uniklinik Tübingen. Unternehmen entwickelten teils sehr gute eigene Ideen – wobei die Qualität der Angebote stark variiere.

Bewähren müssen sie sich zudem im Wettbewerb mit diversen Spezialanbietern aus der analogen Welt, etwa Herstellern von Nahrungsergänzungsmitteln oder Pharmafirmen mit Nikotin-Pflastern und -Kaugummis. Dazu kommen Verlage mit Ratgebern wie dem Klassiker „Endlich Nichtraucher!“ von Allen Carr sowie zahlreiche Coaches mit ihren Seminarformaten. Teils unseriöse Anbieter locken mit Hypnose.

App-Entwickler bieten in der Regel kostenlose Basisprogramme an und wollen an Premiumversionen verdienen. Quit Now, ein Angebot des spanischen App-Entwicklers Fewlaps, entfernt etwa gegen Aufpreis nicht nur Werbung, sondern schaltet auch einen Gesundheitscheck frei. Außerdem werden mehr Meilensteine angezeigt, wie „Nichtraucher seit 1000 Tagen“ oder „auf 10.000 Zigaretten verzichtet“, eine Methode auf die diverse Apps setzen: Sie visualisieren Erfolge, zählen das gesparte Geld oder die freigewordene Zeit. Quit Now leistet zusätzlich sozialen Beistand: In der Vollversion gibt es mehr Chat-Funktionen und damit einen engeren Austausch mit anderen Menschen in derselben Situation. Das alles soll motivieren. Bloß: Der Wille ist oft gar nicht das Problem.

Vielmehr fehlt eine konkrete Strategie, um durchzuhalten. Das bestätigt auch der Gründer von Nichtraucherhelden. „Uns geht es vor allem um die Stabilisierung“, sagt Bosch. Denn die meisten schaffen es ein paar Tage oder Wochen ohne Zigarette. Danach wird es schwer: „Teilnehmer haben uns oft zurückgemeldet, dass ihnen die Unterstützung fehlt, um länger durchzuhalten.“ Bei Nichtraucherhelden läuft deshalb der digitale Trainer die erste Strecke mit – liefert also mindestens die ersten zwei Tage noch Videos und Antworten per Chat. Im erweiterten und auch teureren Programm dauert das Coaching bis zu drei Monate.

Je individueller, desto besser

„Das wirksamste Element an mobilen, digitalen Angeboten ist die verhaltenstherapeutische Begleitung“, sagt Suchtexperte Batra. Raucher sollten sich intensiv damit auseinandersetzen, wann das Verlangen kommt. Und was sie ganz persönlich zur Zigarette greifen lässt.

Bei Nichtraucherhelden erarbeiten die Nutzer deshalb vor dem Rauchstopp persönliche Strategien für jede mögliche kritische Situation. Zum Beispiel: Statt morgens einen Kaffee zu trinken und dabei Lust auf eine Zigarette zu bekommen, gibt es Tee. Nach der Mittagspause, wenn die Kollegen draußen rauchen, geht man ans Fenster und kaut einen Kaugummi. „So wissen die Teilnehmer, was sie tun müssen, wenn das Rauchverlangen stark wird“, sagt Bosch. „Die Basis ist die Verhaltenstherapie – wir helfen dabei, unerwünschte Verhaltensweisen abzulegen, indem man sich neu konditioniert.“

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Für besonders schwierige Situationen lernen die Kursteilnehmer, sich an den sogenannten „vier A’s“ zu orientieren: abwarten, atmen, ablenken oder abhauen. Die App dient in den Momenten als Stütze – und zur Ablenkung. „Es geht vor allem darum, Zeit zu überbrücken“, sagt Bosch. „Denn der extreme Rauchimpuls ist meistens schon nach zwei bis fünf Minuten vorbei.“ Den meisten Menschen helfen bereits Atemübungen, den ersten Impuls zu überstehen, sagt der Nichtraucherhelden-Gründer. Andere lenken sich mit den Spielen in der App ab – oder räumen die Spülmaschine aus. Doch manchmal müsse man einfach die Situation verlassen, so Bosch. Manche suchten beispielsweise das nächste Treppenhaus, um ein paar Stockwerke auf und ab zu laufen.

Aufstieg der digitalen Therapeuten

Als persönlicher Coach positioniert sich auch das in Großbritannien und den USA ansässige Start-up Quit Genius. Die drei Gründer Yusuf Sherwani, Maroof Ahmed und Sarim Siddiqui haben sich im Medizinstudium kennengelernt und wollen mittels Datenanalysen die Verhaltenstherapie per App verbessern. So passt ein Algorithmus die Kurselemente auf die jeweiligen Nutzer an – basierend auf ihren Angaben etwa zur Stärke des Verlangens und den jeweiligen Auslösern: darunter „bin verärgert“, „sehe jemanden rauchen“ oder „fühle mich einsam“. Zielgruppe sind Unternehmen, die ihren Mitarbeitern einen digitalen Therapeuten an die Seite stellen wollen. Einzelne Nutzer können die Basisversion im App-Store laden, für die wesentlichen Inhalte fällt aber eine monatliche Gebühr von knapp 27 Euro an.

Investoren sehen Potenzial in dem Ansatz und investierten zuletzt im Oktober elf Millionen Dollar in das Start-up. Beteiligt war an der Runde auch der deutsche Medienkonzern Hubert Burda über seinen Investmentarm Burda Principal Investments (BPI). „Das Modell der digitalen Therapie hat das Potenzial, herkömmliche Verfahren im Gesundheitswesen zu ergänzen“, ließ sich BPI-Principal Amelia Townsend zitieren.

Niedrige Hürden

Um dem Geschäftsmodell zum Durchbruch zu verhelfen, setzt Nichtraucherhelden auf die sogenannte „App auf Rezept“. Den Antrag auf Einstufung als digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) hat das Stuttgarter Start-up bereits gestellt. Wenn der Prozess durchgeht, kann die App künftig von Ärzten verschrieben werden – was die Hemmschwelle für Nutzer weiter senken dürfte, hofft Geschäftsführer Bosch: „Die App auf Rezept ist eine große Chance, weil die Versicherten für die Kurse nicht mehr in Vorleistung gehen müssen.“ Denn bislang müssen Teilnehmer die Kosten von knapp 90 Euro für das Basis- oder 140 Euro für das Plus-Programm erstmal vorstrecken. Die ganze Summe oder zumindest einen Teil davon können sie sich im Nachhinein aber bereits zurückholen, wenn sie bei einer der Partner-Krankenkassen wie DAK, Techniker oder Barmer versichert sind.

Schon jetzt greift der Startup-Boom für Verhaltenstherapien auf andere Felder über. Das Berliner Start-up Mindamins beispielsweise bietet eine App an, mit der Nutzer ihre Handysucht in den Griff bekommen sollen. Quit Genius will mit dem frischen Kapital neben dem Rauchen ebenfalls weitere Abhängigkeiten angehen, wie etwa von Alkohol oder Opiaten.

Suchtforscher Batra lobt die digitalen Helfer. Dass sie menschliche Therapeuten irgendwann komplett ersetzen, hält er aber für ausgeschlossen. „Künstliche Intelligenz kann gar nicht so gut programmiert sein, dass sie ähnlich erfolgreich ist wie ein persönlicher Kontakt unter Menschen“, sagt Batra. Generell seien Gruppentherapien wirksamer als Apps. „Weil sich Ärzte und geschulte Therapeuten dabei viel stärker auf die individuelle Situation der Patienten einlassen.“ Gerade bei starker Abhängigkeit mit Entzugserscheinungen wie schlechtem Schlaf und Konzentrationsstörungen sollten sich Betroffene an einen Arzt wenden. Der könne auch Medikamente verschreiben, wenn nötig, so Batra.

Mehr zum Thema: Ärzte dürfen Patienten jetzt auch digitale Anwendungen verordnen. Medizin-Start-ups hoffen auf den Geldregen auf Rezept. Aber ganz so einfach ist es nicht.

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