Bevor es vorbei war, musste sich Stefan Holwe stundenlang konzentrieren: Ein Notar trug ihm Gesellschafterverträge vor, Holwe las in seiner Kopie genau mit. Hier hatte sich noch ein Schreibfehler eingeschlichen, dort stimmte das Geburtsdatum eines Investors nicht. Die Lektüre lohnte: Danach hatte Holwes Unternehmen Horizn Studios, das Reisegepäck mit USB-Anschlüssen und GPS-Signal entwickelt, mehrere Millionen Euro sicher.
Auf dem Papier zumindest.
Die einen wollen neue Produkte entwickeln, die anderen international expandieren: Gründer sind jung und brauchen das Geld. 2,2 Milliarden Euro haben deutsche Start-ups im Jahr 2016 bei 486 Finanzierungsrunden eingenommen. Die Schlagzeilen lesen sich allerdings meist spektakulärer als die Realität. Denn wer bei Gründern und Investoren nachfragt, was eigentlich genau passiert, bevor und nachdem sich Geldgeber und -empfänger geeinigt haben, der hört nichts von ausgelassenen Feiern und knallenden Korken. Stattdessen fallen Wörter wie Gesellschafterurkunden, 100-Tage-Pläne oder Monthly Burn Rate, die den monatlichen Verlust eines Start-ups angibt.
Finanzierungen: Die größten Deals 2017
Das Berliner Musikportal lancierte erst 2016 einen Bezahldienst, verliert aber weiterhin Geld. Im März erhielt Soundcloud umgerechnet 65,7 Millionen Euro. Das Geld kommt unter anderem von Investoren aus den USA und Großbritannien.
Fast 50 Millionen Euro sammelte das Berliner Forschernetzwerk Researchgate ein, wurde in diesem Jahr bekannt. Die Stiftung von Bill Gates erhöhte ihre Anteile.
Anfang März erhielt Breath Therapeutics 43,5 Millionen Euro von Risikokapitalgebern aus Kalifornien, Belgien und den Niederlanden. Das Spin-off von Pari Pharma aus Starnberg arbeitet an einer Therapie gegen eine tödliche Lungenkrankheit.
Das Berliner Fintech sucht für private Sparer das beste Zinsangebot. Dabei profitiert es von den Zinsunterschieden in Europa. Bislang vermittelte Weltsparen mehr als drei Milliarden Euro an Spargeldern. Nun will es zur ersten Anlaufstelle für Sparer und Anleger in Europa werden. Die Investoren glauben daran: Sie verdoppelten im Januar das Eigenkapital und gaben dem Gründer und CEO Tamaz Georgadze weitere 30 Millionen Euro.
Ende 2015 ist die Solarisbank angetreten, um den App Store für die Finanzwelt zu bauen. Das Konzept kommt bei Investoren an: Im ersten Jahr nahm das Berliner Start-up zwölf Millionen Euro ein. Schon jetzt beschäftigt es 85 Mitarbeiter in sechs Ländern. Im März beteiligten sich Investoren mit 26,3 Millionen Euro, darunter die japanische SBI Group. Die Solarisbank will bald auch in Asien starten.
Die Gründerszene ist erwachsen geworden, wenn es um große Finanzierungsrunden geht. Auf der einen Seite stehen professionelle Investoren, die mit jedem neuen Geschäft an Erfahrung gewinnen. Auf der anderen Seite sind sich auch die Gründer zunehmend bewusst, dass die Finanzierung zum Unternehmeralltag gehört wie Besprechungen und Einstellungsgespräche.
Die eigentliche Arbeit beginnt für die Gründer weit vor dem Treffen beim Notar. Zunächst geht es darum, die notwendige Summe zu ermitteln. Leichter gesagt als getan. Zu viel Geld ist schlecht, weil damit gerade bei jungen Unternehmen viele Anteile den Besitzer wechseln, meist zu eher niedrigen Bewertungen. Zu wenig Geld ist allerdings auch schlecht, weil es nicht lange reicht. „Gründer müssen da einen Spagat schaffen“, sagt Holwe. Die meisten Start-ups versuchen, den Finanzierungsbedarf für die nächsten zwei Jahre zu decken. Ist diese Summe einmal ermittelt, können Jungunternehmen Investoren kontaktieren.
Hier können persönliche Empfehlungen die Chance erhöhen, dass ein Finanzier aufmerksam wird. Idealerweise können die Gründer bereits seriöse Zahlen vorlegen, die der Idee Potenzial bescheinigen. Faustregel: je jünger das Unternehmen, desto überflüssiger ein detaillierter Businessplan.
Viel Papierkram
Ins Detail geht es nach der grundsätzlichen Einigung. Der europäische Venture-Capital-Fonds Atomico etwa setzt erst mal ein zwei- bis dreiseitiges Papier auf, in dem die grundsätzlichen Eckpunkte verabredet sind. Dann prüfen Experten die Zahlen: Stimmen die Angaben, mit denen die Gründer geworben haben? Sind alle Patente und Markenrechte für das Produkt geklärt? Und gibt es noch irgendwo rechtlichen Ärger mit einem Mitarbeiter? „Wir gehen das nur an, wenn wir hohes Vertrauen haben“, sagt Atomico-Partner Yann de Vries.
Sind nach vier bis sechs Wochen Prüfung alle Fragen beantwortet, sind aus dem dreiseitigen Papier zwei jeweils etwa 40-seitige Dokumente geworden: Das eine regelt die zukünftigen Stimm- und Beteiligungsrechte des neuen Anteilseigners. In dem anderen steht, wie, wann und wohin das Geld tatsächlich fließt.
Vertrauen zwischen Geldgeber und Unternehmer
Auch hier kommt es auf Vertrauen an: Kennen sich Geldgeber und Unternehmer, sind viele Fragen schnell und unkompliziert beantwortet. „Ein Problem gibt es allerdings bei unterschiedlichen Gesellschafterinteressen“, sagt Fabian Schmidt, Mitgründer von Fanmiles. Das Start-up arbeitet an einem digitalen Treuepunkte-Programm. Schmidt zufolge kommt es regelmäßig vor, dass Halbsätze im Vertragstext geändert werden. Diese aktualisierten Versionen müssen von allen Parteien abgesegnet werden. Davon profitieren allerdings vor allem die beteiligten Anwälte.
Irgendwann treffen sich die Partner beim Notar. Sind sich alle einig, werden die geänderten Gesellschafteranteile im Handelsregister eingetragen – Ordnung muss sein. Erst danach wandert das Geld aufs Firmenkonto. Der Gründeralltag läuft in der Zwischenzeit weiter. „Wenn sich ein Bäcker Geld von der Bank holt, dann feiert er ja auch nicht“, sagt Fanmiles-Gründer Schmidt, „sondern er überlegt, was er tun muss, um das Geld richtig einzusetzen und zurückzuzahlen.“
Bloß nicht prassen
Just an dieser Stelle müssen Gründer diszipliniert sein: Wenn das Firmenkonto innerhalb von wenigen Wochen um siebenstellige Beträge wächst, sollten die Ausgaben nicht sprungartig steigen. „Der Tag nach der Finanzierung hat für uns keinen Unterschied gemacht“, sagt Schmidt. 2,7 Millionen Euro hat sein Start-up im vergangenen Winter erhalten, unter den Investoren war auch der Fußballprofi Philipp Lahm. Sekt kalt gestellt hatten er und seine Mitgründer aber weder für den Notartermin noch für einen Umtrunk nach Erhalt der Summe. „Wir feiern mit dem Team erst Weihnachten“, sagt Schmidt, „dann wissen wir, ob das Jahr gut war.“
So sieht der deutsche Start-up-Markt aus
Startups sind per Definition des Deutschen Start-up-Monitors (DSM) jünger als zehn Jahre und zeichnen sich durch "ein signifikantes Mitarbeiter- und/oder Umsatzwachstum" aus. Wer einen Kiosk eröffnet, hat demnach kein Start-up gegründet, sondern eine sogenannte Existenzgründung. Und wer ein Schuhgeschäft mit drei Angestellten aufmacht, betreibt ein kleines, mittelständisches Unternehmen (KMU) und kein Start-up.
Quelle: Deutscher Start-up-Monitor vom Bundesverband Deutsche Startups e.V. (BVDS) und KPMG in Deutschland
Das dritte Kriterium, woran man ein Start-up erkennt: die Gründer sind mit ihrer Technologie und/oder ihrem Geschäftsmodell (hoch) innovativ. "Gründerinnen und Gründer sind voller Ideen und voller Begeisterung. Sie entwickeln aus Problemlösungen Geschäftsmodelle. Gründungen sind Lebenselixier für unsere Wirtschaft und Motor des strukturellen Wandels. Denn kreative Ideen und innovative Geschäftsmodelle modernisieren unsere Wirtschaftsstruktur, erhöhen die Wettbewerbsfähigkeit und schaffen neue Arbeitsplätze", sagte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) in seinem Grußwort zum aktuellen DSM.
Die meisten Start-ups finden sich in der Rhein-Ruhr-Region, in und um München, in der Region Karlsruhe/Stauttgart, im Raum Hamburg, in und um Frankfurt am Main - und natürlich in Berlin: Auf 1.000 erwerbsfähige Berliner kommen 26 Gründer - so viele wie nirgendwo sonst in Deutschland.
Laut dem European Startup Monitor arbeiten inklusive der Gründer 12,9 Menschen in einem durchschnittlichen europäischen Startup. In Deutschland ist die Zahl der Mitarbeiter überdurchschnittlich hoch: Hier sollen Startups im Schnitt über 15 Mitarbeiter verfügen – ohne die Gründer mitzurechnen.
Knapp zehn Prozent der Gründerinnen und Gründer von Startups und 22 Prozent der Beschäftigten in Startups kommen aus dem Ausland. Rund 13 Prozent der Gründer in Deutschland sind Frauen.
Soll niemand denken, Investoren achteten nicht penibel darauf, was aus ihrem Geld wird. Der eine will monatliche Reports, andere rufen nur sporadisch mal an. Bei größeren Geldgebern ist der Austausch in aller Regel enger. Die Mittelständische Beteiligungsgesellschaft Baden-Württemberg hat in etwa 20 Start-ups investiert. Damit dabei der Überblick erhalten bleibt, gibt es feste Strukturen: „Wir stellen in der Regel einen 100-Tage-Plan auf, um Ziele festzuhalten“, sagt Vorstand Dirk Buddensiek.
Auch Atomico-Partner de Vries führt bereits während der Finanzierungsverhandlungen ausführliche Gespräche und will wissen, wann und wofür die Gründer das Kapital ausgeben. „Wenn das Geld dann auf der Bank ist, wollen wir nicht, dass sie diese Pläne einfach ändern“, sagt de Vries.
Ende 2016 konnte Fanmiles die letzte Finanzierungsrunde abschließen, an die Öffentlichkeit ging das Start-up mit dem Investment Anfang März. Die guten Nachrichten sorgten nicht nur für eine Runde Aufmerksamkeit für Firma und Produkt, sondern auch für Interesse bei potenziellen neuen Mitarbeitern. „Wenn gute Leute sehen, dass Geld da ist“, sagt Schmidt, „dann häufen sich die Initiativbewerbungen.“