Start-ups im Ruhrgebiet Sicht im Schacht

Schöne Kulissen, zu wenige Hauptdarsteller: Für Städtereisende, wie hier in der Zeche Zollverein in Essen, ist das Ruhrgebiet längst eine etablierte Destination. Geldgeber für Start-ups aber machen sich noch rar. Foto: dpa Quelle: dpa

Viele Unis, viel Platz: Das Ruhrgebiet bietet gute Startbedingungen für junge Tech-Firmen. Noch aber fehlt es an den ganz großen Erfolgen, finanzstarken Investoren – und der Bereitschaft zur Selbstdarstellung.

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Ist da vielleicht jemand, der einen raschen Blick auf das Pitchdeck werfen könnte? Oder kennt zufällig jemand einen Steuerberater, der sich mit Kryptowährungen auskennt? Im Slack-Channel der „Ruhrgründer“ geht es um praktische Hilfe im Start-up-Alltag. Und in den meisten Fällen kann einer der etwa 650 Mitglieder auch helfen, berichtet Initiator Sebastian Deutsch: „Da passiert wirklich viel“.

Praktische Hilfe, die sich Deutsch vor 20 Jahren selbst gewünscht hätte. Gemeinsam mit Eray Basar gründete er in Bochum die Digitalagentur 9Elements. Die erstellt Webseiten und Apps für US-Museen, die OECD oder große Versicherungsunternehmen. Zudem beteiligten sich die Gründer an Start-ups wie dem Portal Ausbildung.de oder Internations, einem sozialen Netzwerk für ins Ausland entsandte Arbeitnehmer, sogenannte Expats. Die Ausbildungsplattform ging an Bertelsmann, der Expat-Vernetzer wurde an Xing verkauft. Und Deutsch machte es sich neben der Alltagsarbeit zur Aufgabe, ein Netzwerk unter jungen Gründern und Gründungsinteressierten aufzubauen. Dank des Slack-Kanals geben sich die Teilnehmer gegenseitig Tipps und finden schneller die wichtigen Ansprechpartner: „Ich bin froh, dass es mittlerweile diese Sprungbretter gibt.“

Die könnten dem Ruhrgebiet bei der nächsten Stufe des Strukturwandels helfen. Auf Bergbau folgte Industrie – nun soll der Sprung hin zu einem Start-up-Hotspot gelingen. Die grundsätzlichen Bedingungen sind gut: In der großzügigen Auslegung der „Metropole Ruhr“ sind es 53 Städte mit mehr als fünf Millionen Menschen, die einen Ballungsraum bilden. Die Verkehrsanbindungen sind günstig, die Mieten bezahlbar, 22 Hochschulen sorgen für gut ausgebildeten Nachwuchs.

Bescheidene Gründer, bescheidene Außendarstellung

Und doch hinkt das Ökosystem zwischen Duisburg und Dortmund noch ordentlich hinter dem von München, Hamburg oder gar Berlin hinterher. Eine Auswertung des Startup-Monitors im vergangenen Jahr ergab: Bei der nicht repräsentativen Umfrage kamen auf 100.000 Einwohner gerade einmal 1,8 Gründer aus dem Ruhrgebiet. In anderen Metropolregionen lag dieser Wert zwei bis drei Mal so hoch.

Ein wenig falsche Bescheidenheit mag die Wirklichkeit verzerren: „Wir haben hier viele Start-ups mit komplexen Modellen, aber die sind nicht so laut und sichtbar“, sagt Deutsch – und führt sich selbst als Beispiel an: „Auch wir haben das nicht so drauf“. Statt sich als Seriengründer, „Founder“ oder Investor zu präsentieren, zeichnet Deutsch seine Mails als „Head of Nerds“. Trotz 70 Mitarbeitern in der Agentur und in etwa derselben Anzahl in Beteiligungen fliegt 9Elements jenseits der Gründerszene eher unter dem Radar.

Hier und da entstehen durchaus digitale Mittelständler. Babymarkt.de macht mit Webshop und Filialen bereits mehrere hundert Millionen Euro Umsatz im Jahr, beschäftigt 450 Mitarbeiter und sitzt in Bochum. Urlaubsguru aus Holzwickede bei Dortmund wuchs kräftig dank digitaler Urlaubsvermittlung, erlitt allerdings in der Corona-Pandemie heftige Einbußen. Auf Wachstumskurs sind dagegen die B2B-Marktplätze der Maschinensucher-Gruppe, die in Essen rund 45 Mitarbeiter beschäftigen. „Die Qualität der Ideen hat sich in den vergangenen Jahren sehr gut entwickelt“, sagt Christian Winter. Er gehört zu den Initiatoren des frisch gegründeten Investors Cusp Capital mit Hauptsitz in Essen, hervorgegangen aus Tengelmann Ventures. „Doch es fehlt ein Leuchtturm, wie es etwa Rocket Internet oder Zalando in Berlin waren.“

Kirchturmdenken statt Start-up-Metropole

Ein Hauptproblem: Die „Stadt der Städte“, wie sich die Metropolregion zu vermarkten versucht, ist noch nicht wirklich eine gemeinsame Stadt der Start-ups geworden. Dabei gibt es lokal vielversprechende Nester: Rund um das Horst-Görtz-Institut in Bochum erwachsen renommierte IT-Security-Start-ups. Aus dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund sind einige Tech-Ideen ausgegründet worden. Der Duisburger Binnenhafen will sich mit dem „Startport“ ebenfalls als Innovationstreiber positionieren.

Doch so richtig zusammenwachsen will die Szene noch nicht. Christian Lüdtke sieht großes Potenzial in der Region – spürt aber auch Widerstände. Der Mitgründer der Digitalberatung Etventure und gebürtige Essener ist von einem Zusammenschluss von regionalen Firmen und der RAG-Stiftung zum „Gründungskoordinator“ ernannt werden. Die Heterogenität der Städte und Kommunen mache einerseits zwar die Attraktivität des Ruhrgebiets aus, so Lüdtke. „Wenn es aber um den Aufbau eines Start-up-Ökosystems geht, steht man im Wettbewerb mit anderen Regionen und Ökosystemen, dann konkurriert Bochum mit Berlin und Tel Aviv“, beobachtet der Berater. „Im nationalen und internationalen Wettbewerb muss das Ruhrgebiet daher als Region geschlossen auftreten.“

Das gelingt nicht immer. Lokale Wirtschaftsförderer sehen es vorwiegend als ihre Aufgabe an, den eigenen Standort zu stärken – was die eine Stadt an Mitteln und Ressourcen an Land zieht, fehlt der anderen. Mit dem Umbau des „Colosseums“ mitten in der Essener Innenstadt, zuerst Krupp-Industriehalle, dann Musical-Theater, will die RAG-Stiftung nun eine übergreifende Anlaufstelle für Start-ups schaffen, die nicht räumlich oder inhaltlich mit einer Hochschule oder einem Forschungszentrum verknüpft ist. „So kann ein neutraler Ort entstehen, der für das ganze Ruhrgebiet steht“, hofft Lüdtke.

Mehr Gründergeist an den Hochschulen

Zudem erhoffen sich viele Beobachter ein bisschen mehr Gründergeist an den Universitäten. „Viele Hochschulen in der Region vernachlässigen es, Gründer auszubilden – sie kümmern sich überwiegend um Nachwuchs für die Wissenschaft und die großen Konzerne“, kritisiert Lüdtke. Und auch Sebastian Deutsch, der selbst an der TU Dortmund studiert hat, blickt kritisch auf viele Lehrpläne: „Die Informatiker von dort haben einen sehr guten Ruf – aber sie werden nicht in den Programmiersprachen für das heutige Web ausgebildet.“

Ein bisschen mehr Schwung könnte dank staatlicher Hilfe bald entstehen. Sowohl die Ruhr-Universität Bochum als auch die Technische Universität Dortmund erhalten mehrere Millionen Euro an Landesmitteln, um „Exzellenz-Start-up-Center“ aufzubauen. In Bochum baut die RUB dank dieser Förderung einen neuen Technologiecampus. Der wird auch symbolisch für die nächste Stufe des Strukturwandels stehen: Die Gebäude werden auf dem Gelände des einstigen Opel-Werks gebaut. Dazu gibt es immer wieder einzelne kleinere Förderbescheide - wie etwa in diesem Februar für die Universität Duisburg-Essen: Neben dem Ausbau der Gründungsberatung gehören dazu auch neue Professuren, die sich explizit um digitale Geschäftsmodelle und etwas mehr Gründergeist kümmern sollen.

Läuft alles glatt, könnten sich die aktuelle Aufbauarbeit in einigen Jahren auszahlen. Ein weiterer Standortvorteil: Mit Konzernen wie Evonik, RWE, Eon oder Vonovia sind mögliche Großkunden nur ein paar Straßenbahnhaltestellen entfernt. Außerdem basteln die Firmen immer wieder an ihren Förder- oder Investitionsprogrammen für Start-ups herum, auch wenn dabei eher die Branche als der Standort den Ausschlag gibt. Über den „Datahub Ruhr“ suchen etwa gerade die RAG, Vonovia und Evonik nach Start-ups, die mehr aus ihren internen Daten machen könnten. In Essen werkelt zudem der Company-Builder Mantro Ruhr vor sich hin. Der hatte einst als Digitaleinheit des Mischkonzerns Haniel begonnen – und setzt nun auch Projekte für Schwergewichte wie Thyssenkrupp um.

Auch die Start-ups suchen nach Kohle

Die Suche nach Kohle wird jedoch die Start-ups im Ruhrgebiet auf Dauer fordern. Als einziger großer Investor ist Cusp mit einem Bein in Essen. Der 300-Millionen-Euro-Fonds, der Ende April angekündigt wurde, will europaweit aktiv sein. Man habe aber ein besonderes Auge auf die Start-ups an der Ruhr, versichert Christian Winter: „Wir sehen uns schon als diejenigen, die große Themen im Ruhrgebiet früh entdecken“. Andere Großinvestoren müssen aus London, Berlin oder zumindest Düsseldorf anreisen.

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Vor Ort finden sich vor allem finanzielle Starthelfer. Der Gründerfonds Ruhr schöpft aus einem Fonds, der 2017 mit gut 30 Millionen Euro angekündigt wurde. Daneben gibt es Geldgeber, die der Region eng verbunden sind –die große Öffentlichkeit aber eher meiden. Dazu gehört Crosslantic Capital mit Sascha van Holt, der lange Zeit den Investmentarm von ProSieben Sat1 leitete. Oder das Family Office Tripos aus Werne, das das Vermögen des Poco-Domäne-Gründers Peter Pohlmann auch in junge Tech-Firmen investiert. Und Seriengründer Jakob Fatih sucht besonders nach jungen Gründerinnen, um mit seinem Company-Builder Crealize zu helfen. „Wenn man eine gute Idee hat, ist Kapital kein Problem“, ist 9Elements-Gründer Sebastian Deutsch daher überzeugt. Zumindest für die frühe Phase sollten sich über den „Ruhrgründer“-Slack-Kanal die ersten Ideen für Geldgeber finden.

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